Mit jeder neuen Aktion der „Letzten Generation“ gehen seit Monaten die immergleichen Debatten einher. Sie würden vom Klimaschutz ablenken, die Menschen eher davon abbringen, sich in wenigstens einigen Bereichen weniger klimaschädlich zu verhalten, ja, sie gar gegen den Klimaschutz aufbringen. Die konkreten Appelle der Klimagruppe werden dabei konsequent verdrängt. Der generelle Unwille einer Autofahrernation, von einer tödlichen Gewohnheit zu lassen, ebenso.

Die Frau steht am Morgen des 6. Februar 2023 gegen 7:45 Uhr an der kleinen Blockade der „Letzten Generation“ auf der Leipziger Maximilianallee und schreit. Sie sei Ärztin, sie müsse zur Arbeit, ihre Patienten würden warten und verbluten. Das nehmen auch die zwei Männer wahr, welche bereits zuvor aus ihren Autos gestiegen sind, um einzelne Aktivistinnen körperlich zu attackieren und von der Straße zu zerren. Seltsamerweise glauben sie, dafür keine Strafanzeigen wegen Körperverletzung fürchten zu müssen, die Aktivist/-innen kehren nach ihren Übergriffen zurück auf die Straße.

Ob die Ärztin die Wahrheit sagt, lässt sich von außen nicht feststellen, die Polizei nimmt ihre Personalien auf, um zu prüfen, ob sie durch eine Rettungsgasse gelotst werden muss. Oder, um später eine weitere Nötigungsanzeige gegen die vier Aktivist/-innen zu fertigen, die sich vor ihr auf der Straße festgeklebt haben. Diese wiederum haben, wie stets bei diesen Aktionen, beim Festkleben eine Lücke gelassen, um die mögliche Durchfahrt für Rettungsfahrzeuge zu gewährleisten.

Die Prüfung der Polizei führt zu keiner Rettungsgasse, was zumindest einen gewissen Fingerzeig auf die angebliche Not der Ärztin gibt, mit einem Rettungswagen ist sie jedenfalls nicht unterwegs.

Wiederholte Muster

Bereits bei der letzten Leipziger Aktion der „Klimakleber“, „Klima-RAF“ oder „Klima-Terroristen“ – Worte, mit dem sie und ihre Forderungen seit langem abgewertet werden sollen – trat am 2. Dezember 2022 ein Mann an die Blockade auf dem Georgiring und rief, es sei ein Auto mit Kindern im wartenden Stau, die zu einer Augen-OP müssten.

Auch dieser Hinweis führte nicht dazu, dass die anderen Wartenden eine Gasse für diese Patient/-innen bildeten, die „Letzte Generation“ selbst hatte die übliche Lücke vorbereitet, indem sich die jeweils innen sitzenden Personen nicht anklebten. Ebenfalls unklar blieb auch hier, ob die Information überhaupt stimmte oder warum die Polizei den Verkehr daraufhin nicht anders dirigierte.

Auch an diesem Tag, wie bei allen bisherigen Aktionen der „Letzten Generation“, fand nicht zuletzt bedingt durch eine mindestens halbe Falschinformation über eine Berliner „Klebe-Aktion“, dort sei eine Radlerin allein wegen einer Blockadeaktion der „Letzten Generation“ gestorben und nicht durch den Unfall mit einem Betonmischfahrzeug und fehlender Rettungsgasse, so und mit anderen Worten eine Art moralische Diskussion statt, die die Aktionen delegitimieren sollten.

Delegitimierung und Forderungen

Auch nach Lützerath gab es eine Diskussion, welche beinahe überdeckt hätte, dass der Braunkohlekonzern RWE und sein größter Einzelaktionär Black Rock (7 %) auch nach dem Verzicht auf andere Abbauflächen im Feld Lützerath genau so viele Tonnen Braunkohle nun sogar bis 2030 statt 2038 abbauen darf, wie zuvor. Ein Deal von CDU und Grünen in NRW, der zwar Dörfer rettete, aber am ausgestoßenen CO2 und so an der Klimakrise erst einmal nichts ändert.

Ganz im Gegenteil, hier in Lützerath sah eine Gruppe Wissenschaftler und Bürgerrechtler sogar die rote Linie zur Überschreitung der 1,5-Grad-Begrenzungsziele der deutschen Regierung.

Ein Umstand, der beinahe unterging angesichts der sich überschlagenden Berichte über fliegende Schlammbrocken und Pyrotechnik, einem Mönch, der Polizeibeamte umstieß oder die Polizeivorwürfe, es seien Beamte massiv durch Aktivisten verletzt worden, ungeprüft weitermeldet.

Auch letzteres muss übrigens klar bezweifelt werden, angesichts der Bilder und Videos, die überall im Netz verfügbar sind.

Im Kern ging es bis hin zum Vorwurf der Gewalt gegen Polizeibeamte von NRWs Innenminister Herbert Reul (CDU) bei Anne Will nach Lützerath vor allem um eines: die Delegitimierung eines seh- und hörbaren Protestes gegen ein vor allem in Deutschland politisch noch immer nicht konsequent bekämpften Voranschreitens der Klimakrise.

Die „Letzte Generation“ auf dem Leipziger Ring (8 bis ca. 8:45 Uhr) im Dezember 2022. Foto: LZ
Die „Letzte Generation“ auf dem Leipziger Ring (8 bis ca. 8:45 Uhr) im Dezember 2022. Foto: LZ

Übertroffen wird dieser Delegitimierungsversuch vonseiten rechter bis konservativer Politik nur noch vom Vorwurf des „Terrorismus“ und der bis April 2023 laufenden Prüfung der (CDU)-Innenministerriege Deutschlands, ob bei der stets friedlich agierenden „Letzten Generation“ eine „kriminelle Vereinigung“ vorläge. Als Vehikel dient dabei die angebliche Unterwanderung der Klimaaktivist/-innen von Linksextremisten und die Absprachen zu ihren Aktionen.

Signale aus der Politik, von denen eine Wirkung ausgeht, welche bereits jetzt in Körperverletzungen auf der Straße gegen Menschen münden, die ein striktes Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen von 100 km/h, eine Fortsetzung des 9-Euro-Ticket fordern und auch die Menschen selbst auf ihren Wegen zur Arbeit im Pkw mit dem eigenen Verhalten konfrontieren.

Richtung „Ökodiktatur“?

Der moralische Druck dabei nervt. Den einzeln im Auto sitzenden Mann, der seinen Arbeitsweg auch mit dem öffentlichen Nahverkehr absolvieren könnte, die verhinderte S-Bahn-Nutzerin, die das zu bringende Schulkind als Ausrede für die eigene Kurzstrecke zur Arbeit nutzt und natürlich auch die Ärztin, die den ganzen Tag in ihrer Praxis arbeitet, aber nach Dienstschluss einfach den Komfort eines vorgeheizten Fahrersitzes ihres Privat-Pkw mag.

Und er nervt jene, die dann in den sozialen Netzwerken ihre eigene Privat-Pkw-Nutzung mit Vorwürfen gegen Journalisten und Medien garnieren, die die Friedlichkeit und die Ziele der Aktivist/-innen klar benennen und in der Analyse übereinstimmen, es geht zu langsam mit der Reduktion des CO2-Ausstoßes.

Sie alle eint ihre Gewohnheit, die angesichts festgeklebter Straßenblockierer auf einmal in der Kritik steht und die Überzeugung, dass das ganz individuelle Verhalten ja eh nichts ändert, man im Gegenteil nur Nachteile davon hätte.

Immer wieder lauten die Sätze protestierenden Pkw-Blockierter gegenüber der „Letzten Generation“ deshalb auch: „ich verstehe Eure Forderungen, aber …“. Das aber steht eigentlich immer für „warum gerade ich, warum jetzt und hier“.

Wen das an die Forderungen der Jahre 2018/19 erinnert, die „Fridays For Future“ sollten doch besser dann die Schule bestreiken, wenn keine Schule ist, der ahnt, was gemeint sein könnte. Hier, bei der „Letzten Generation“, ist die direkte Straßen-Konfrontation nur noch deutlicher, während der Grund für alle Klima-Aktivist/-innen seit nun vier Jahren stets der gleiche ist: Die Welt bewegt sich wissenschaftlich bestätigt auf einem Pfad, welcher eine Klimaerwärmung von über 3 Grad Celsius weltweit bis zur Jahrhundertwende ergibt.

Vorangetrieben neben den adipösen Ernährungsgewohnheiten samt Bewegungsmangel auf der Nordhalbkugel vor allem durch das Mobilitätsverhalten per Luft-Schifffahrt mit dem fossilen Urlaubsflieger, per Wasser-Transporte mit Dieseltankern für den Konsum über die Weltmeere und per Straßennutzung per Lkw und Privat-Fahrten zur und von der Arbeit mit dem Verbrenner.

Wie bei allen anderen Dingen im Leben, macht auch hier die Menge das Gift. Weshalb der 1:1-Umstieg aller mit den jetzigen Mobilitäts-Gewohnheiten auf private E-Autos ebenso misslingen muss.

Wen das alles nicht schreckt, dem ist auch egal, dass die Zahl der weltweit Fliehenden seit 2015 (45 Millionen) auf mittlerweile knapp 90 Millionen Menschen gestiegen ist und der Grund „klimatische Veränderung“ neben Kriegen rasant an Bedeutung gewinnt.

Allerdings bleibt bei anhaltender Ignoranz für solche Menschen die Welt eine unzusammenhängende Erzählung von neuen Rekord-Flüchtlingszahlen nach Europa und Deutschland, wild gewordenen Klimaschützern und gar einer drohenden, gewollten „Ökodiktatur“ ohne Bezug zu seinem eigenen Verhalten oder politischen Entscheidungen pro fossilen Techniken wie Auto und Massenmobilität damit in den vergangenen Jahrzehnten.

Bleibt also die Frage, wie lange man die Zeit zur Veränderung in den kommenden, wenigen Jahren noch mit Debatten über die „Letzte Generation“ vergeuden möchte, also die rechtskonservative Ablenkung von den Zusammenhängen unter anderem bei AfD bis CDU und Springers Medienwelt noch mitmacht.

Oder sich den Problemen zuwendet und sie löst. Politisch und privat, bei Wahlen und im Alltag.

Richtung Ökodiktatur

Geschieht das nicht, kommt die „Ökodiktatur“ von ganz allein. Denn dann wird es schon in näherer Zukunft egal sein, wer beim Überschreiten der 1,5 oder gar 2 Grad die politische Verantwortung im Land trägt.

Dann werden politische Entscheidungen nur noch puren Notwendigkeiten folgen, Resilienzmaßnahmen als Konsequenzen nahezu alternativlos und die Einschränkungen Stück um Stück dramatischer werden.

Kurz gesagt: Wenn nichts mehr hilft, wenn die Zeit für ein freundliches Umlenken auf den öffentlichen Nahverkehr und die Bahn (samt massivem Ausbau) nicht mehr reicht, werden Verbrennermotoren, vor allem und zuerst im privat genutzten Bereich, eben verboten.

Ach, ist schon in Vorbereitung – na da schau an.

Denn ab dem Eintreten eines jeden der einzelnen Kipppunkte (siehe hier aufgelistet und erklärt bei Wiki), welche mit dem Temperaturanstieg einhergehen, übernimmt also ab jetzt so oder so die Natur mehr und mehr das Heft des Handelns. Mit allen Folgen, die dann zuerst die finanziell Schwächeren bis hinauf zum Mittelstand treffen werden, auch in Deutschland.

Dass wirklich reiche Menschen das längst verstanden haben und zudem glauben, es gäbe keinen anderen Weg mehr, hat der zunehmend journalistisch arbeitende Nachttalker Jan Böhmermann erst am 3. Februar 2023 treffend mit „Rette sich wer kann“ und den bereits weltweit entstehenden Klimaschutz-Bunkeranlagen für Superreiche dargestellt.

Dass auch diese egoistische Reaktion letztlich zu kurz springt, gleich mehr.

Das passiert doch alles später …

Gehen wir also auf über 1,5 Grad Erderwärmung zu – und derzeit sieht alles so aus – werden sich auch die Ärztin auf der privaten Fahrt zur Arbeit, der Mann, welcher am 6. Februar 2023 die Straßenaktivist/-innen auf der Maximilienallee herumschubste und auch nicht der Autor dieser Zeilen den durchgehend gesundheitsfeindlichen 40 Grad im Leipziger Sommer, Starkwetterereignissen und auch nicht dem wachsenden Migrationsdruck auf eine eher integrationsunfähige Gesellschaft entziehen können.

Verschärft vor allem vom Tempo der Entwicklungen, die sich dann eher in Jahres- und nicht mehr in Jahrzehntschritten abspielen werden.

Schon auf dem Weg zu diesen Zuständen werden sich die Debatten und Maßnahmen weiter verschärfen.

Spätestens wenn die Entscheidung ansteht, am Mittelmeer noch weiter militärisch zur „Fluchtabwehr“ aufzurüsten, also mit Armeen und Schießbefehlen zu reagieren, wird es offensichtlich werden.

Oder wenn es beginnt, dass erste europäische Küstenregionen aufgrund Trinkwassermangels und verbrannter Natur aufgegeben werden und auch im Inland immer mehr Geld in die Hitze- und Hochwasserabwehr wie die Sicherung von Trinkwasser gleichzeitig investiert werden müssen, könnten politische Entscheidungen für das Gemeinwohl zu schwach und damit zu wirkungslos für alle ausfallen.

Und das nur auf den ersten Blick nicht für jene, die sich schon heute mit sehr viel privatem Kapital selbst helfen und abschotten können.

Enteignungen von Bunkern und die Entwaffnung von Privatarmeen dürften dann zu jenen zwangsläufigen Maßnahmen zählen, die auch die oberen 1 bis 10 Prozent treffen werden. Es sei denn, die Lage entgleitet wirklich vollständig.

Für alle anderen, die dazu im Vergleich finanziell weniger zu verlieren haben und zumindest die steigende Zahl der Fluchtbewegungen weltweit realisieren, gilt: Wem die historischen Auswirkungen von dazu vergleichsweise kleinen und langfristig verlaufenen Völkerwanderungen in der Menschheitsgeschichte samt ihrer militärischen und gesellschaftlichen Veränderungskraft präsent sind, kann sich vielleicht vorstellen, was es bedeutet, wenn sich stattdessen mehrere Millionen Klimaflüchtlinge in wenigen Jahren in Bewegung setzen – erst in die Nachbarregionen ihrer Länder, dann Richtung klimatisch wahrscheinlich noch immer milderes Europa.

Wie dumm also, so betrachtet, sind jene Rechtswähler, wie die rund 30 Prozent AfD-Wähler in Sachsen, wenn sie diesen zwingenden Widerspruch zwischen klimaschutzfeindlicher Politik bei gleichzeitiger Panikmache vor der spätestens seit 2015 ansteigenden Zuwanderung ihrer Lieblingspartei nicht begreifen.

Umstieg statt Prügel

Ein von Ausländerfurcht getriebener Mensch ist so gesehen wohl besser für, statt gegen rasanten Klimaschutz und unterstützt alles, was in dieser Richtung bereits geschieht.

Das Gegenteil ist natürlich der Fall, denn beides hat eine unheilvolle, gleiche Ursache: das Beharren auf Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die uns hierher, an diesen Punkt der Industrie- und Wachstumsgeschichte mit den USA, Europa und Deutschland an der Spitze geführt haben.

Für manche am 6. Februar 2023 an die Maximilian-Allee in Leipzig direkt in eine kleine Blockade der „Letzten Generation“ hinein. Und hin zur aggressiven Reaktion mancher: Aussteigen aus dem Privat-Pkw und andere Menschen von der Straße prügeln, zerren und schubsen.

Auch so kann man sich natürlich von den Ursachen und dem eigenen Verschulden ablenken, die als nur eine weitere Konsequenz zu den alle paar Wochen einstündigen „Letzte Generation“-Staus geführt haben. Die es so gar nicht gäbe, würden alle, die es durchaus können, auf die öffentlichen Verkehrsmittel, das Rad oder den Fußweg umsteigen.

Es winken eine Menge Kollateralnutzen: man könnte sich neben der Geldersparnis, der höheren Fitness und dem Gefühl, etwas zum Überleben größerer Teile der Menschheit bis hin zu den eigenen Kindern beizutragen, auch eine Menge sinnlos verbrachte Zeit sparen. Die, welche man dann nicht mehr mit den Schulddebatten rings um die „Letzte Generation“ verbringt.

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Es gibt 4 Kommentare

Hallo Urs,
mir fällt da kein Beispiel ein. Ihre in anderen Kommentaren angeführten Ängste teile ich.

Der Zustand der Welt ist auf jeden Fall beschissen.

Der Autor arbeitet in dem Artikel meiner Meinung nach einige Punkte gut heraus.

„ Geschieht das nicht, kommt die „Ökodiktatur“ von ganz allein. Denn dann wird es schon in näherer Zukunft egal sein, wer beim Überschreiten der 1,5 oder gar 2 Grad die politische Verantwortung im Land trägt.

Dann werden politische Entscheidungen nur noch puren Notwendigkeiten folgen, Resilienzmaßnahmen als Konsequenzen nahezu alternativlos und die Einschränkungen Stück um Stück dramatischer werden.

Kurz gesagt: Wenn nichts mehr hilft, wenn die Zeit für ein freundliches Umlenken auf den öffentlichen Nahverkehr und die Bahn (samt massivem Ausbau) nicht mehr reicht, werden Verbrennermotoren, vor allem und zuerst im privat genutzten Bereich, eben verboten.“

Ich würde diese Zeilen gerne als ferne Dystopie betrachten, allein mir fehlt der Glaube…

Kennen wir eigentlich historische Beispiele, wo durch vorbeugende Repression eine womöglich drohende umfassendere Repression abgewendet werden konnte?

Es sehr gelungener Kommentar, auch wenn ich es inhaltlich nicht teile: ich war auch willens die 10€ via Paypal (ausschließlich dieser Kommentar) in den Redaktions-Topf zu werfen, aber wenn ich dazu komplett das Rechnungsformular ausfüllen muss gibt es den 10er bar im Briefkasten der Redaktion dauert aber noch ca. 5 Wochen, kauft davon was essbares!

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