Dieser Text entstand aus einem Interview mit Chris Grape, dessen Namen wir geändert haben. Anhand der Aufzeichnungen, Erinnerungen und Gesprächsprotokolle erzählt die Autorin die Erlebnisse des Protagonisten in der Ich-Perspektive.

Ich bin wütend. Ich bin traurig. Ich bin durcheinander. Ich bin ausgelaugt, ich weiß nicht, was ich denken soll. Vor zwei Wochen war ich an einem Ort, den es jetzt nicht mehr gibt. Ich wollte beobachten und habe viele meiner Eindrücke mit nach Hause genommen. Sie begleiten mich noch jetzt, ich versuche zu ordnen, was ich gesehen, gehört und fotografiert habe.

Das Symbol Lützerath

Ich war in Lützerath am 14. Januar, genau wie Tausende andere Menschen, die aus ganz Deutschland angereist waren, um für dieses kleine Dorf am Rande einer riesigen Grube zu kämpfen. Wir waren am Abend vor der geplanten Großdemonstration angereist. Es war nicht das erste Mal, dass ich den Ort besuchte.

Schon vor etwa eineinhalb Jahren war ich dort, kam mit den Menschen, die sich in Lützerath ein Zuhause aufgebaut hatten, um vor Ort den Erhalt des Dorfes zu sichern, ins Gespräch. Vieles war hier geschaffen worden, soziokulturelle Strukturen, ich fühlte mich willkommen. Es wurde geteilt, zusammen geplant, man unterstützte einander.

Dass das alles innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht werden sollte, belastete mich. Schon Tage vor der Großaktion campierte ich für mehrere Tage in Keyenberg, dem Nebenort von Lützerath. Ich sprach mit Aktivist/-innen, begleitete und fotografierte Protestaktionen. Nach ein paar Tagen musste ich zurückfahren nach Leipzig.

Die Räumung des Ortes schließlich erlebte ich nur vor dem Bildschirm. Mich schockierte, wie schnell die Einsatzkräfte im Ort waren. Tagelang beschäftigten mich die Bilder und Videosequenzen von Polizist/-innen, die in einer Seelenruhe und mit Selbstverständlichkeit Seile durchtrennten, an denen Aktivist/-innen hinaufgeklettert waren – die Menschen wegtrugen und ihnen vor dem Zaun des Protestcamps Tschüss sagten.

Personen, die Bäume fällten. Eine Aktion, die für einen Zeitraum von vier Wochen angesetzt – und am Ende innerhalb von vier Tagen vorüber war. Ich hatte das Gefühl, dass RWE recht leichtfertig mit der Gesundheit und der Unversehrtheit der Aktivist/-innen spielte.

Dass ich wieder nach Lützerath fahren würde, war klar. Ich wollte vor Ort sein, wenn sich Tausende mit einem gemeinsamen Ziel zusammenfanden, ich wollte dieses Stück Geschichte dokumentieren.

In der Nacht vom 13. auf den 14. Januar, ich war noch einmal aus dem Ort herausgefahren, hielten Polizisten unser Auto an. Nach der Kontrolle von Führerschein und Fahrzeugpapieren sollte ich Warndreieck, Sani-Kasten und Warnweste vorzeigen. Ich wurde gefragt, ob ich Kaffee oder Bier getrunken hätte. Ob ich Zigaretten geraucht hätte. Ich fühlte mich willkürlich kriminalisiert. Wobei so eine Kontrolle natürlich noch das Geringste an Repression ist. Was ich am nächsten Tag vonseiten der Polizei beobachtete, sollte ein anderes Kaliber sein.

Der Tag X

Schon am Freitag, dem 13. Januar, waren Tausende Menschen im Camp, die Stimmung war gelöst, freundlich, erwartungsvoll. Wir alle blieben lange wach. Es war kalt, es nieselte, doch wir waren aus demselben Zweck hier und das ließ so manche Ungemütlichkeit in den Hintergrund treten.

Am nächsten Morgen wachten wir spät auf, halb zehn. Bis wir fertig gefrühstückt hatten, verging eine weitere Stunde. Danach machten wir uns auf den Weg von Keyenberg nach Lützerath. Inzwischen kamen immer mehr Menschen. Waren es 15.000? Waren es 30.000? Noch immer ist man sich darüber unsicher. Aber es waren viele.

Schon am Eingang des Camps wurden wir hineingezogen in den Strom. Einige zog es vor Beginn der Demonstration zum Tagebauloch, eine riesige Grube mit einer Fläche von fast 31 Quadratkilometern und an manchen Stellen bis zu 250 Meter tief. Das Dorf Lützerath war im Gegensatz dazu ein Pünktchen in der Landschaft. Die schiere Weite der Grube ist kaum zu begreifen – ebenso wenig wie, dass das, was zuvor in der Erde war, nun in der Atmosphäre schwebt und weiter schweben und uns in wenigen Jahrzehnten die Lebensgrundlage nehmen wird.

Um 12 Uhr schließlich startete die Kundgebung. Die Menschen standen auf den benachbarten Feldern im Schlamm, der Wind wehte, feiner Sprühregen, der uns stundenlang die Gesichter benetzte. Zu der Zeit stand ich mit anderen am Rande des Tagebaus. Eine Person fand den Weg hinunter in die Grube, sie wurde bejubelt. Beim Aufstieg streckten sich helfende Hände ihr entgegen.

Als die Abschlusskundgebung lief, es könnte gegen 14 Uhr gewesen sein, befand ich mich etwa in der Mitte der Demonstration. Auf allen Wegen zog es uns nun in Richtung des Dorfes, das inzwischen verlassen war und in wenigen Tagen nicht mehr sein würde. Am Zaun vor Lützerath hatte sich eine mehrere hundert Meter lange doppelte Polizeikette formiert. Dahinter, als dritte Reihe, Einsatzfahrzeuge. Eine Strategie im Vorgehen der Beamten konnte ich schwer erkennen. Immer wieder rannten Gruppen vonseiten der Polizei auf die Demonstrant/-innen zu.

Ich stand daneben, als eine lose Polizeikette versucht hat, den Aufzug mit Schlagstöcken und Pfefferspray zurückzudrängen. Natürlich konnte ich meine Augen nicht überall haben. Später wurde in den Medien berichtet, dass aus der Demonstration heraus auch Steine und Feuerwerkskörper geworfen wurden. Doch das waren nicht die Personen, mit denen ich unterwegs war. Warum hat sich die Polizei nicht auf ihre mehrere hundert Meter lange Doppelreihe, einen massiven, ebenfalls zweireihigen Zaun sowie die Kette aus Wasserwerfern und Fahrzeugen verlassen?

Ich habe gesehen, wie Einsatzkräfte immer wieder in die Demonstrierenden hineinliefen, wahllos prügelten – ins Gesicht, auf den Kopf, mit Schlagstöcken oder der blanken Faust. Ich habe eine meiner Bekannten bewusstlos auf dem Boden liegen sehen, nachdem sie in Kontakt mit der Polizei gekommen war. Als ein Kollege und ich uns am Rand um die wieder zu Bewusstsein gekommene Person kümmern wollten, erklärte mir ein Polizist, mir meinen Presseausweis abnehmen zu wollen, würde ich Stress provozieren.

„Das wird heute wehtun“, raunzte er mir entgegen und betonte, dass es sich dabei nicht um eine Drohung handelte. Um was dann? Wer in dem Moment die Spielregeln bestimmte, war klar. Ich hatte das Gefühl, es herrschten an diesem Tag andere Gesetze. Mir klingen noch die Worte des Aachener Polizeipräsidenten im Ohr, der im Vorfeld verkündet hatte: „Wir werden mit allen Mitteln verhindern, dass Menschen diesen Ort erreichen.“

Erst später erfasste mich das ganze Entsetzen und die Wut über das Erlebte. Ich sehe es als meine Pflicht, meine persönlichen Gefühle bei solchen Einsätzen außen vor zu lassen und mich auf das Fotografieren zu konzentrieren. Doch es war schwer. Mir hat es geholfen, mir die augenscheinliche Planlosigkeit des Vorgehens der Polizei zu verdeutlichen.

Auch untereinander schienen die Beamten keine Rücksicht zu nehmen. Es gibt Videos, die zeigen, wie Wasserwerfer gegen den Wind eingesetzt wurden und die Beamten selbst erreichten. Auch, wie Pfefferspray gegen den Wind gesprüht wurde und damit im Gesicht der eigenen Leute landete, habe ich gesehen.

Immer wieder wurde versucht, die Gruppe durch gezielte Schläge in Bewegung zu halten. Immer wieder wurde „Gelände hergegeben“. Immer wieder wurde sich neu positioniert, immer wieder wurde versucht, eine „Beule“ in die Menschenmenge zu schlagen. Immer wieder standen die „feindlichen Linien“ einander gegenüber. Im Nachhinein betrachtet hat es den Anklang von Kriegsstrategie. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, mit welcher Gewalt immer wieder versucht werden würde, den Protest zurückzudrängen.

Gegen 17:30 Uhr, inzwischen war es dunkel geworden, beendete die Polizei das „Vor-Zurück-Spiel“. Verstärkung war gekommen, mit ihnen auch Teleskopschlagstöcke. Ab diesem Zeitpunkt dauerte es etwa eine Dreiviertelstunde, bis die Demonstrierenden zur Landstraße zurückgedrängt worden waren. Wer nicht mit aller Macht weiter „kämpfte“, ging nach und nach zurück ins Camp nach Keyenberg. In meiner Nähe wurden zwei Personen in eine Maßnahme genommen, was noch kurz für Aufruhr in der Gruppe sorgte.

Die Strecke zurück lief ich mit zwei Kolleg/-innen, alles bei Windstärke sechs bis sieben. Wo sonst fast alle Häuser inzwischen verlassen sind, saßen Menschen auf der Straße, in den Vorgärten. Gegen 19:30 Uhr waren wir wieder im Camp. Dort gab es noch Abendbrot. Mit meinem Teller saß ich schließlich etwas abseits allein auf einer Bank. Im Regen. Nach diesem Tag empfand ich es fast als ein Symbol.

Was bleibt?

Erlebnisse wie in Lützerath konnte ich bisher gut von mir abkoppeln, ich habe eine pragmatische Seite an mir, die mir in solchen Situationen hilft. Doch dieses Mal ist es anders. Dass mich Ereignisse, die ich durch meine Kameralinse beobachtete und festhielt, auch im Nachgang derart mitnehmen und durcheinanderbringen, ist mir vorher nicht passiert. Bekannte Personen zu sehen, die Verletzungen erlitten, hat mich mitgenommen.

Manchmal überkommen mich Zweifel und Ungläubigkeit über die Widersprüche unserer Zeit. Es ist doch richtig, gegen den Klimawandel zu kämpfen!? Wie kann es sein, dass ein Konzern Kohle abbaggern darf und dafür die Zerstörung von Lebensräumen in Kauf nimmt, wenn die Kohle gar nicht mehr gebraucht wird? Warum müssen Menschen ihr Zuhause verlassen, damit andere ihre Profite steigern können?

Wie kann es sein, dass hunderte Beamte der Polizei nahezu willkürlich auf größtenteils friedliche Aktivist/-innen losgehen und das auch noch gerechtfertigt und von Verantwortlichen als verhältnismäßig eingestuft wird? Wie kann es sein, dass Menschen, die sich stark machen dafür, unseren Lebensraum Erde zu erhalten, abgeurteilt werden als „Klimaterroristen“?

Lützerath hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sich beide Seiten weiter radikalisieren. Die Debatte nach der Form des Protests ist eine interessante, über die ich oft nachdenke. Der Klimaprotest muss anschlussfähig bleiben. Und das war meiner Meinung nach auch die Demonstration in Lützerath. Der Tag hat die Klimabewegungen zusammengebracht. Alle waren vertreten und standen auf derselben Seite. Das übergeordnete Ziel wurde von allen anerkannt und dafür wurde gekämpft.

Was nach außen drang, auf den sozialen Plattformen, auch schon während der Räumung in den Tagen zuvor, war zum größten Teil optimistisch. Woher die Menschen vor Ort die Kraft dafür genommen haben, weiß ich nicht, doch es hat Zuversicht verbreitet. An allen Ecken und Enden wurde am selben Strang gezogen. Umso schwerer fällt es mir, das in Einklang zu bringen mit der erlebten Gewalt.

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