Kurzzeitig hatte die Bundesregierung im August eine Meldung in die Welt lanciert, in Deutschland habe sich die Kinderarmut halbiert, nur noch 1,1 Millionen Kinder lebten in armutsgefährdeten Familien. Im September wurde die Zahl dann stillschweigend wieder korrigiert - auf 2,2 Millionen. Für Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) war es ein Anstoß, sich die Zahlen noch einmal genauer anzuschauen.

Dabei stellte er ganz beiläufig einen Effekt fest, der auf den ersten Blick überrascht: Die Armutsgefährdungsquote liegt in den meisten Bundesländern deutlich über dem Anteil jener Kinder, deren Familie Anspruch auf SGB-II-Leistungen hat.

2,5 Millionen (18,9 Prozent) der etwa 13,2 Millionen Kinder und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2012 waren arm, armutsgefährdet im Sinne der amtlichen Armutsberichterstattung, so Paul M. Schröder. In den Ländern reicht die Armutsgefährdungsquote (gemessen am Bundesmedian) von 33,7 Prozent in Bremen (Land) bis 11,7 Prozent in Bayern.

1,881 Millionen (14,2 Prozent) der Kinder und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren lebten 2012 in Familien, die auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II (Hartz IV) angewiesen waren und diese Leistungen geltend gemacht haben. Die SGB II-Quote in den Ländern reicht von 33,2 Prozent in Berlin bis 6,3 Prozent in Bayern.

Und noch etwas fällt auf: Während die SGB-II-Quote bundesweit sank (was entsprechenden Anlass zu diversen Lobhudeleien gab), ist die Armutsgefährdungsquote tatsächlich gestiegen.

Der Abstand zwischen der höheren, seit 2007 gestiegenen Armutsgefährdungsquote und der niedrigeren, seit 2007 gesunkenen SGB II-Quote ist im Verlauf der vergangenen fünf Jahre von 2,5 auf 4,7 Prozentpunkte gestiegen. Die Hauptstadt Berlin ist das einzige Bundesland, in dem 2012 die SGB II-Quote über der Armutsgefährdungsquote lag.Der Abstand zwischen der höheren Armutsgefährdungsquote und der niedrigeren SGB II-Quote der Kinder und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren hat sich im Verlauf des Beobachtungszeitraums 2007 bis 2012 deutlich vergrößert: von 2,5 Prozentpunkten (18,4 minus 15,9) auf 4,7 Prozentpunkte (18,9 minus 14,2). “Dies lässt vermuten”, so Paul. M. Schröder, dass “die Armut neben ‘Hartz IV’ … in den vergangenen Jahren erheblich gewachsen” ist.

Die Armutsgefährdungsschwelle, die der Ermittlung der Armutsgefährdungsquote im Jahr 2012 zugrunde lag, betrug zum Beispiel für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern im Alter von unter 14 Jahren insgesamt 1.826 Euro netto (einschließlich Kindergeld und ggf. weiterer Sozialleistungen), bzw. 1.391 Euro netto für einen Haushalt mit einer/einem Erwachsenen und zwei Kindern im Alter von unter 14 Jahren – jeweils einschließlich Kindergeld und anderer Sozialleistungen.

Für einzelne Bundesländer und Kommunen wird zwar immer wieder auch ein eigener Median der Haushaltseinkommen errechnet, was dann gerade im Osten Deutschlands die Armutsgefährdungsschwelle rein statistisch sinken lässt. Aber die Lebenserhaltungskosten sind gerade für Haushalte mit niedrigem Einkommen nicht so verschieden, dass man im Osten mit weniger Geld besser zurecht käme. Es schönt nur die regionalen Zahlen ein wenig auf.Ein wesentlicher Grund für die in den vergangenen Jahren gewachsene Differenz zwischen der SGB II- und der Armutsgefährdungsquote in der Altersgruppe unter 18 Jahre ist die zunehmende Bedeutung vorrangiger Sozialleistungen, stellt Schröder fest und benennt zum Beispiel Kinderzuschlag und Elterngeld. Immer mehr Kinder und Jugendliche leben in Haushalten, die auf diese vorrangigen Leistungen angewiesen sind und deren Haushaltsbudget trotz dieser ergänzenden Leistungen, die in der Regel zu einem niedrigen Erwerbseinkommen hinzukommen, trotzdem unter der Armutsgefährdungsschwelle (für den jeweiligen Haushaltstyp) liegt.

Dazu kommt, so Schröder: Der im SGB II (Hartz IV) geregelte laufende Netto-Bedarf einschließlich der regional stark differierenden anerkannten Mietkosten (Unterkunft und Heizung), kann sowohl unter als auch über der für den jeweiligen Haushaltstyp (Bedarfsgemeinschaftstyp) geltenden Armutsgefährdungsschwelle liegen. Immer gemessen am Bundesmedian. Etwas anderes macht vor dem Hintergrund das großen Versuchs, einigermaßen gleiche Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet zu schaffen, keinen Sinn.

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Und warum liegen dann insbesondere im Osten und in ärmeren Regionen des Westens die Armutsgefährdungsquoten über den SGB II-Quoten? – Paul M. Schröder: “Sofern dieser gesetzliche Netto-Bedarf eines Haushalts unter der Armutsgefährdungsschwelle für diesen Haushalt liegt, besteht für einen Teil der armutsgefährdeten Haushalte kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Dies gilt, wenn das teilweise oder ganz anzurechnende Nettoeinkommen (aus Erwerbstätigkeit, Kindergeld, Elterngeld, Unterhalt u.s.w.) größer ist als der Netto-Bedarf und wenn das Haushaltsbudget unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Dies dürfte insbesondere für größere SGB II-Bedarfsgemeinschaften in Regionen mit relativ niedrigen anerkannten Mietkosten gelten.”

Sachsen zum Beispiel. Wo die Armutsgefährdungsquote der Kinder und Jugendlichen mit 25 Prozent nur 2008 kurzzeitig fast deckungsgleich war mit der SGB II-Quote für die unter 18-Jährigen von 25,1 Prozent. Die Armutsgefährdungsquote ist dann in Folge der Finanzkrise kurzzeitig weiter angestiegen, lag 2012 dann wieder bei 25,1 Prozent. Die SGB II-Quote für die unter 18-Jährigen aber sank die ganze Zeit und lag 2012 bei 19,9 Prozent. Was eigentlich für Sachsen heißt: An der Armutsquote für Kinder und Jugendliche hat sich in den letzten Jahren nicht wirklich etwas geändert. Trotz sinkender Zahlen bei den Bedarfsgemeinschaften.

Die betroffenen Familien bekommen statt “Hartz IV”-Leistungen dann eben die oben genannten Zusatzleistungen. Oder sie sparen sich gleich den Gang zu den Ämtern und versuchen ohne den ganzen bürokratischen Ärger über die Runden zu kommen.

Zur Ausarbeitung des BIAJ: http://biaj.de/images/stories/2013-09-19_mehr-armut-neben-hartz-iv-laendervergleich-2007-2012.pdf

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