Auch im globalisierungskritischen Netzwerk Attac sitzen Optimisten. Am Donnerstag, 9. Oktober, sah es sich doch tatsächlich durch das vorgestellte Herbstgutachten der großen deutschen Wirtschaftsinstitute in seiner Einschätzung bestätigt, dass die aktuelle Politik die Finanz- und Wirtschaftskrise verschärft, statt sie zu lösen. So direkt wird es im Gutachten leider nicht gesagt. So viel Mut ist den deutschen Wirtschaftsinstituten auch nicht zuzutrauen.

Einmal ganz davon zu schweigen, dass sie allesamt im alten Wachstumsglauben verhaftet sind und politische Eingriffe nur aus der Perspektive Marktstimulanz betrachten. Und wenn es gar Eingriffe wie der Mindestlohn sind, dann zählt man in diesen Instituten auch nicht 1 plus 1 zusammen, sondern separiert die Sache einfach, indem man den Mindestlohn vor allem als Minderer von Unternehmensgewinnen betrachtet, aber vergessen hat, dass man Absätze zuvor von einer Konsumflaute in Deutschland lamentiert hatte: “Aber auch die deutsche Binnennachfrage zeigt deutliche Zeichen von Schwäche. Die privaten Konsumausgaben stiegen im zweiten Quartal nur wenig, und das Konsumklima verschlechterte sich zuletzt.”

Man jongliert zwar auch mit lauter Zahlen zum Arbeitsmarkt. Doch die Qualität der Arbeitsplätze, die da in den letzten Jahren entstanden sind in der Bundesrepublik, wird mit keinem Wort erwähnt. Wie aber soll ein Arbeitnehmer, der gerade so über der Grenze zum Steuerfreibetrag verdient, in irgendeiner Weise zum Konsumanstieg beitragen?

Noch spanischer dürfte dem Normalsterblichen die Aussage im Gutachten vorkommen: “Auch bemühen sich die Unternehmen weiter um höhere Eigenkapitalquoten und die privaten Haushalte um eine Verbesserung ihrer Vermögenspositionen.” Von welchen Vermögen sprechen die Leute da aus den involvierten Instituten?

Im Grunde machen sie mit ihrem Gutachten – das dann in der Regel auch der Einschätzung der Bundesregierung zugrunde liegt – immer wieder deutlich, dass sie sich mit der Welt der Normalverdiener überhaupt nicht mehr beschäftigen. Sie schildern eine Welt, in der nur noch Vermögende und Gutverdiener zu Hause sind. Aus deren Sicht sind natürlich sanierte Haushalte, Abbau von Schuldenquoten oder gar eine gerechte Besteuerung, die dabei hilft, übel.

Im Gegenteil: Sie sind die ersten, die nach Steuersenkungen rufen, wenn das Haushaltsdefizit des Bundesfinanzministers mal kein Minus vorm Ergebnis hat. Und so steht es auch im Gutachten: “Angesichts erwarteter öffentlicher Finanzierungsüberschüsse in Höhe von 0,3 Prozent und 0,1 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt für die Jahre 2014 und 2015 wäre eine Minderung der Abgabenbelastung allerdings durchaus möglich”, steht da. Das ist – angesichts der milliardenschweren Investitionsdefizite auch in der Bundesrepublik Deutschland – eine Anmaßung.

Es sind nicht nur die Sparpakete, die den Krisenländern im europäischen Süden auferlegt wurden, die die Gesamtwirtschaft Europas aus dem Takt gebracht haben. Es sind auch die immer neuen Steuerminderungen, die gerade den Reichen und Vermögenden zugute kamen, die schon längst nicht mehr wissen, was sie mit dem Geld anfangen sollen. Als Investitionen in die Wirtschaft jedenfalls tauchen die Gelder immer seltener auf.

Aber irgendwie liest Attac eine Bestätigung seiner Kritik aus diesem windelweichen Gutachten.

“Seit Jahren warnt Attac Deutschland, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise keineswegs vorbei ist, sondern durch die Politik der führenden Industriestaaten geradezu weiter angefacht wird. Nun bestätigen das auch führende deutsche Wirtschaftsinstitute”, sagte Werner Rätz, Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac Deutschland, am Donnerstag.

Zumindest die pessimistische Prognose ist zu finden. Unter anderem mit solchen Aussagen: “Die Geldpolitik ist zwar nach wie vor bemüht, stimulierend auf die Konjunktur im Euroraum zu wirken. In Deutschland sind dadurch die Zinsen sehr niedrig. Allerdings dürften die jüngst beschlossenen Maßnahmen kaum zusätzliche Impulse für die Realwirtschaft entfalten.”

Feuerwehr und Rettungsfonds und ähnliche Bezeichnungen fanden ja Bundesregierung, IWF & Co. für ihre seltsamen Eingriffe, die vor allem eines bewirkten: Das komplette Ausschalten der südeuropäischen Länder als Konjunkturmotoren.Die pessimistische Prognose reihe sich ein in einen Reigen anderer gedämpfter Erwartungen, wie sie erst am Dienstag, 7. Oktober, der Internationale Währungsfonds (IWF) in Washington verkündet hat, stellt Attac fest. (Wobei auch dieses IWF-Gutachten unter dem blinden Fleck leidet: Welchen Anteil haben die IWF-Maßnahmen am Niedergang der Volkswirtschaften?) Dabei betont der IWF besonders die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einiger Schwellenländer und der Eurozone. In ihrem Herbstgutachten, das der Bundesregierung als Grundlage für ihre Konjunkturprognose dient, haben die vier Wirtschaftsforschungsinstitute Ifo (München), DIW (Berlin), RWI (Essen) und IWH (Halle) die Wachstumserwartungen für die deutsche Wirtschaft nun deutlich gesenkt.

Werner Rätz: “Dass das Krisenmanagement der Europäischen Union die Krise verschärft und zig Millionen Europäerinnen und Europäer in die Armut treibt, ist seit Jahren unübersehbar. Besonders die Troika aus IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank spielt dabei eine üble Rolle.”

Das sei angesichts der Autorenschaft des IWF für die Strukturanpassungsprogramme gegen verschuldete Entwicklungsländer nicht anders zu erwarten gewesen. Eine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems sei nirgendwo gelungen. Auch in Deutschland sind im Zuge der Krisenbearbeitung die Staatsschulden um etwa eine halbe Billion Euro gewachsen. Um einen ähnlichen Betrag sind die privaten Vermögen angestiegen. Das sind die oben genannten “privaten Haushalte”, die sich jetzt “eine Verbesserung ihrer Vermögenspositionen” bemühen. Sie wissen einfach nicht mehr, wohin mit dem ganzen Schmott.

Das Herbstgutachten ist ein reines Gutachten für die vermögenden 10 Prozent in Deutschland. Und für genau die macht die Bundesregierung Politik. Mal vom Mindestlohn abgesehen, der ab 2015 zumindest ein paar Billiglöhnern ein bisschen Geld zum Konsumieren verschaffen wird. Für eine Luxuskarosse wird’s nicht reichen – aber vielleicht für die Anzahlung für eine neue Waschmaschine.

Aber die Meinung der abgehobenen Wirtschaftsinstitute dazu: “Hinzu kommt, dass der flächendeckende Mindestlohn zwar trotz zu erwartender negativer Beschäftigungseffekte die Lohnsumme erhöhen, aber die Unternehmensgewinne senken wird. Per saldo dürfte die reale gesamtwirtschaftliche Nachfrage vom Mindestlohn wohl nicht stimuliert werden. Zum Teil wird der durch den Mindestlohn induzierte Kostenanstieg auf die Preise überwälzt werden. Die Verbraucherpreise werden im Jahr 2015 wohl um 1,4 Prozent steigen; davon dürften 0,2 Prozentpunkte auf den Mindestlohn zurückgehen. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt leicht um 56.000 Personen steigen, die Arbeitslosenquote wird im Jahr 2015 wohl 6,8 Prozent betragen.”

Das nennt man dann wohl die wissenschaftliche Veräppelung des Publikums. 0,2 Prozent an prognostizierten 1,4 Prozent Preisanstieg entfallen auf den Mindestlohn? Das ist nichts. Das entspricht nicht mal dem, was passiert, wenn die Discounter mal wieder ihre Preise für Milch oder Obst erhöhen. Im Gleichtakt zumeist.

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Übrigens nicht die einzige Aussage, in der die wohlbestallten Wirtschaftsinstitute prononciert Stellung gegen den Mindestlohn beziehen: “Die Aussichten für die Konjunktur sind auch deshalb gedämpft, weil Gegenwind von der Wirtschaftspolitik kommt”, heißt es sogar mit einem ziemlich heftigen Seitenhieb gegen SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Gutachten. “Zwar gehen von der Finanzpolitik, gemessen an den diskretionären Maßnahmen, expansive Impulse aus, doch wirken das Rentenpaket und die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns wachstumshemmend. Auch nutzt die Bundesregierung ihren finanziellen Spielraum zu wenig für investive Zwecke. All dies wirkt sich wohl negativ auf die private Investitionsneigung aus.”

Und dem folgte dann das falsche Lob, das eigentlich gleich eine verkappte Forderung des deutschen Establishments enthielt: “Dass die Bundesregierung der Konsolidierung des Staatshaushaltes eine herausgehobene Bedeutung zukommen lässt, ist zu begrüßen. Angesichts erwarteter öffentlicher Finanzierungsüberschüsse in Höhe von 0,3 Prozent und 0,1 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt für die Jahre 2014 und 2015 wäre eine Minderung der Abgabenbelastung allerdings durchaus möglich.”

Mal sehen, welche Parteien in den nächsten Tagen mit Forderungen nach Steuersenkungen protzen.

Attac betont bei der Gelegenheit, wie wichtig ziviler Protest gegen die Selbstbedienungsmentalität der deutschen High Society ist. Stichwort: Blockupy, mitten in der Bankenmetropole Frankfurt.

“Zivilgesellschaftlicher Protest hat zumindest den Finger in die Wunde gelegt, auch wenn wir die grundfalsche Politik noch nicht stoppen konnten”, sagt Roland Süß, ebenfalls Mitglied im Attac-Koordinierungskreis und im Blockupy-Bündnis. “Behördliche Schikanen in Frankfurt und skandalöse Gerichtsurteile können uns nicht daran hindern, diesen Protest fortzusetzen.”

Das Blockupy-Bündnis hat mittlerweile beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof Antrag auf Berufung gegen das Urteil des Frankfurter Verwaltungsgerichts gestellt, demzufolge der Polizeikessel bei der Blockupy-Demonstration im Juni 2013 rechtmäßig gewesen sei.

www.attac.de

Das Gutachten auf der Seite des DIW: https://www.diw.de/de/diw_01.c.484498.de/themen_nachrichten/gemeinschaftsdiagnose_herbst_2014

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