Es hat diesmal besonders lange gedauert, bis Leipzigs Statistiker die Kommunale Bürgerumfrage von 2017 ausgewertet haben. Aber mit über 150 Seiten ist der Ergebnisbericht besonders dick ausgefallen. Und auf das Titelfoto mit dem Regenbogen, das vom Rathausturm aus aufgenommen wurde, sind sie besonders stolz. Es zeigt genau dieses Leipzig zwischen einer Regenfront mit dunklen Wolken rechts und blauem Himmel links, wie es auch in den Zahlen steckt.

Leipzig ist keine Insel der Seligen. „Wir wollten auch ein wenig der Vorstellung entgegenwirken, es gebe da Restsachsen und dann Leipzig, wo alles ein bisschen besser ist“, sagte Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning am Dienstag, 23. Oktober, bei der Vorstellung des Ergebnisberichts.

Deswegen hat die Verwaltung 2017 auch erstmals den ganzen Fragenkomplex zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ aus dem „Sachsenmonitor“ der Staatsregierung übernommen. Den gab es nun schon zwei Mal – und beide Male hat er gezeigt, wie tief fremdenfeindliche Ressentiments in großen Teilen der sächsischen Bevölkerung verwurzelt sind.

Chemnitz kam nicht aus heiterem Himmel. Aber es war das letzte Warnsignal, weil es gezeigt hat, dass Rechtspopulisten und Rechtsradikale in Sachsen glauben, jetzt sei ihre Zeit gekommen und sie könnten ihre Verachtung für Demokratie und Weltoffenheit offen auf die Straße tragen. Samt Hitlergrüßen und Nazi-Parolen.

Hat es erst so weit kommen müssen?

Wer lang genug sächsische Politik beobachtet hat, weiß, dass von Anfang an vieles falsch gemacht wurde. Jahrzehntelang hat man sich lieber in fadenscheinigen Fechtereien mit den Linken im Land ausgetobt, an der Polizei gespart und auch die emsig organisierenden NPD-Strukturen einfach wachsen lassen im Land, bis ganze Regionen durchsetzt waren von deren fremdenfeindlichem Gedankengut.

Aber die Geschichte rollen wir jetzt nicht aus.

Wir haben es heute mit den Ergebnissen zu tun. Und ein Ergebnis ist nun einmal, dass viele Sachsen es wieder für selbstverständlich halten, andere Menschen auszugrenzen und abzuwerten. Möglicherweise, weil ihnen die eigenen Probleme über den Kopf wachsen. Keine Frage. Das ist ein eigenes Thema, mitsamt den Verletzungen aus der Nach-„Wende“-Zeit.

Und auch die ewige Regierungspartei CDU hat dieses Denken stets befördert: Wenn etwas nicht gut läuft, sind immer andere schuld. Und: „Wir machen das schon.“ Um in der Bevölkerung autoritätsgläubige Denkweisen sprießen zu lassen, braucht es auch ein hoheitliches Regieren, das den Regierten das Gefühl vermittelt: „Ich kann ja eh nichts ändern.“

So gesehen ist auch der „Sachsen-Monitor“ erst einmal nur eine Festsstellung des mentalen Zustandes in diesem Bundesland, noch kein Lösungsangebot.

Und Leipzig mag da oder dort ein paar weniger Prozentpunkte im fremdenfeindlichen Denken bekommen – aber hier hat diese obrigkeitliche Verwaltungsmentalität dieselben Spuren hinterlassen. Ein fruchtbares Feld für die Neurechten aus der AfD, die schon davon träumt, in Sachsen den Ministerpräsidenten stellen zu können.

Was Leipzig tatsächlich immer unterschieden hat, war seine engagierte Szene von demokratischen Initiativen, die immer bereit waren, gegen jeden rechtsradikalen Auftrieb aktiv zu werden. Auch weil es in den 1990er Jahren längst zu viel wurde. Am Ende gab es fast monatliche Anmeldungen der NPD und ihrer Wahlverwandten zu prestigeträchtigen Märschen zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal, durchgewunken von Ordnungsamt, Polizei und Gericht.

Rechtlich nicht verhinderbar. Was in Leipzig zumindest den Widerstandsgeist der Demokraten wachrief. Wenn man derlei Aufmärsche in Deutschland nicht verbieten kann (obwohl sie ja eindeutig gegen unsere Demokratie gerichtet sind), dann muss man mit Gegenprotesten gegenhalten. Das braucht ein bisschen Mut und viel Ausdauer. Aber so wurden auch Erfahrungen gesammelt. Wer Rechtsradikale erst gar nicht laufen lässt und ihnen den öffentlichen Auftritt vermiest, nimmt ihnen den Schwung.

Aber wie sieht es nun wirklich aus mit dem menschenfeindlichen Ressentiment in Leipzig?

Immerhin 70 Prozent der befragen Leipziger konnten anhand der Ergebnisse in die Gruppe jener Menschen eingeordnet werden, die kaum oder geringe Zustimmung zu den Dimensionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zeigten. Das ist der demokratische Kern der Stadt. Und die Zahl liegt um 10 Prozent über dem sächsischen Wert, 60 Prozent, was dann zumindest schon für eine gewisse Alarmstimmung sorgte und die Frage aufwarf: Verliert das Land seine Demokraten?

Da Vergleichswerte aus der Zeit vor 2014 fehlen, als die SPD wieder in die Regierungskoalition eintrat und eine solche Befragung im Sachsen-Monitor zur Bedingung machte, weiß man nicht, ob die Sachsen vorher anders tickten. Und ob sie erst durch das Aufkommen der rechtspopulistischen AfD dazu animiert wurden, wieder Positionen zu äußern, die so deutlich jedem demokratischen Miteinander widersprechen.

Denn die seit 2015 aufgekochte „Flüchtlingsfrage“ ist ja eine Art Türöffner, mit dem die Radikalen von rechts ihr völkisches Denken wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einschleusen. Und wenn ein ganzes Land und alle großen Medien darauf anspringen, erweckt das natürlich bei vielen Menschen den Eindruck, dass man das „jetzt wieder sagen darf“. Geht ja „nur“ um Flüchtlinge, die ja „eigentlich nicht hierher gehören“.

Dass diese menschenverachtende Diskussion auch in Sachsen den Blick auf die wirklichen Probleme der Bürger verstellt, darauf kommen wir noch.

Aber die von der AfD forcierte Menschenverachtung hat schon viele Sachsen erfasst. Und auch Leipziger sind auf den Kurzschluss angesprungen, dass nun ausgerechnet die Fremden daran schuld sind, dass vieles im Land nicht (mehr) richtig funktioniert.

Mit 53 Prozent ist die Zustimmung der Leipziger zur Aussage, „die meisten hier lebenden Muslime akzeptieren nicht unsere Werte“ zwar (für Leipziger Erwartungen) erstaunlich hoch, im Vergleich mit Sachsen (70 Prozent) doch wieder etwas niedriger. Was Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning so interpretiert, dass die Leipziger eben – anders als die meisten Sachsen – fast täglich tatsächlich mit Ausländern in ihrer Umgebung zu tun haben.

Sie haben es nicht mit imaginären Ängsten zu tun, sondern erleben das Miteinander in der Realität. Was gerade die fremdenfeindlichen Werte in Leipzig deutlich niedriger ausfallen lässt. Etwa bei der Aussage: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“. Da kommen in Leipzig 24 Prozent zusammen, in Sachsen 41 Prozent zustimmende Aussagen.

Dass viele Leipziger aber ebenfalls nicht durch direktes Erleben beeinflusst sind, sondern durch Medienberichte, zeigen die 50 Prozent Zustimmung zur Aussage „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Sachsenweit haben hier 58 Prozent zugestimmt.

Wer die Aussage auseinandernimmt, merkt, dass es eigentlich eine Aussage der Überforderung ist. Die Befragten empfinden die zunehmende Vielfalt eines Landes, das ganz offensichtlich attraktiv ist für Zuwanderung aus aller Welt, als Bedrohung. Auch für die eigene, überschaubare Welt.

Es ist Psychologie, mit der hier gespielt wird. Mal ganz zu schweigen davon, dass „Überfremdung“ ein eindeutig rechtsradikaler Topos ist, abgeleitet von der Heile-Welt-Vorstellung eines homogenen Märchenvolkes, in dem alle am Ort geboren sind, alle weiß sind und alle Ziehharmonika spielen.

Möglich, dass dieser wichtige Moment der Weltoffenheit 1990 von den in die Regierung Gewählten völlig unterschätzt wurde. Die meisten Sachsen assoziierten mit offenen Grenzen vor allem ihre eigene Reisefreiheit, sahen aber nicht, dass Ostdeutschland damit Teil einer Industrienation auf Weltniveau wurde und sich damit der Globalisierung öffnen musste. Bis in die Städte und den Schulunterricht hinein.

Das mit dem Schulunterricht aber hat die sächsische Regierung bis heute immer wieder vergeigt. Und ignoriert. Auch das typisch: Wer über sichtbare Konflikte nicht redet und alles immer schön anmalt, der erzeugt natürlich riesige Erwartungshaltungen gerade bei denen, denen Vielfalt und Unbegrenztheit Angst machen.

Die gute Botschaft eigentlich: Für richtige rechtsradikale Ansichten ist tatsächlich nur eine Minderheit zu haben. Die „natürliche Überlegenheit der Deutschen“ befürworten nur 8 Prozent der Leipziger (Sachsen: 16 Prozent), die Definition von weniger wertvollem Leben befürworten nur 7 Prozent (Sachsen 9 Prozent), das Durchsetzungsrecht des Stärkeren befürworten 7 Prozent (Sachsen 8 Prozent)

Nur in einem Topos weichen die Leipziger negativ vom Sachsen-Wert ab: Ihre Umgebung sei durch „die vielen Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet“, meinen 22 Prozent der Leipziger (Sachsen: 15 Prozent). Was eben auch zeigt, wie wenig die meisten Sachsen überhaupt mit Ausländern in ihrer Umgebung zu tun haben. Die Leipziger haben tatsächlich mit vielen zu tun und erleben auch die Konflikte, die es nun einmal gibt.

Aber auch dieser Wert wird hinterfragt.

Denn gerade dieser Fragenkomplex zeigt, dass Menschenfeindlichkeit direkt abhängt vom Lebensalter. Und die schlichte Wahrheit ist: Unsere Senioren fallen in allen Fragen als besonders menschenfeindlich gegenüber Ausländern im Allgemeinen und Muslimen im Besonderen auf. Ihre Zustimmungswerte zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind oft doppelt so hoch wie bei den Jüngeren.

Am tolerantesten sind die 18- bis 34-Jährigen. Und bis zu den 41-Jährigen ist das abgefragte Misstrauen gegenüber Muslimen und Ausländern noch relativ gering, steigt dann aber mit dem Lebensalter drastisch an, um in einigen dieser Fragen ab dem 50. Lebensjahr Zustimmungswerte von über 60 Prozent zu bekommen.

Das heißt: Der Resonanzboden für all die menschenfeindlichen Töne, die einige Politiker anstimmen, ist bei den Älteren doch beängstigend hoch. Und zwar deutlich höher als ihre Äußerungen zu Ausländern im direkten Wohnumfeld.

Das heißt: Auch in Leipzig funktionieren die ganzen medialen Kampagnen an versteckter oder offener Menschenverachtung. Was nicht überrascht, wenn auch die Medien sich so bereitwillig hergeben, immer wieder die „Flüchtlingsthemen“ der politischen Großsprecher aufzugreifen, die damit auch die Tatsache kaschieren, dass sie keine Idee haben, wie sie Deutschland zukunftsfähig machen könnten.

Unfähige Politiker suchen immer Sündenböcke. Wenn es nicht läuft, sind immer andere schuld, am besten Schwächere. Und dieses Märchen erreicht auch die Köpfe der älteren Leipziger. Das ist vielleicht eine nicht ganz unwichtige Erkenntnis aus dieser Befragung.

Aber was sind jetzt wirklich die Probleme, die den Leipzigern auf den Nägeln brennen?

Mehr dazu im nächsten Teil: Kriminalität in den Köpfen und Wohnkosten jetzt schon Problemthema Nr. 2

Leipziger Zeitung Nr. 60: Wer etwas erreichen will, braucht Geduld und den Atem eines Marathonläufers

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