Wohin entwickelt sich das Leipziger Neuseenland? Darum soll's gehen bei der Bürgerbeteiligung zur "Charta Leipziger Neuseenland". Die war eigentlich schon fertig. 2011 sollte sie verabschiedet werden. Doch dann kam dieser 11. Juli 2011, den die Akteure im Gewässerverbund als "Tag Blau" feiern wollten. "Und dann waren wir doch überrascht, wie massiv der Protest war", sagte Heiko Rosenthal, Leipzigs Umweltbürgermeister, am Donnerstag, 6. Februar.

Da war in der Leipziger Stadtbibliothek Auftakt zur Bürgerbeteiligung an der Charta-Überarbeitung. Rund 160 Interessierte waren gekommen. Eingeladen hatten die Akteure aus der Steuerungsgruppe Leipziger Neuseenland. Zum Neuseenland gehören im Wesentlichen die Bergbaufolgeseen in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen, dazu Leipzig als verbindender Gewässerknoten. Gleich zwei Mal bekamen die Gäste des Informations- und Sammelabends das beliebte “Ei” des Neuseenlandes zu sehen, das die geografische Lage des Neuseenlandes umreißt. In der Mitte – als Scharnier und Verbindungsstück: Leipzig mit seinen hochsensiblen Gewässerknoten.

Wie sensibel gerade die Fließgewässer durch den Leipziger Auenwald sind, das wussten die Akteure auch vorher schon. Ein wenig haben sie es auch in einer der acht Thesen für ihre Charta formuliert: “Das naturnahe Leipziger Neuseenland”. Darin heißt es u. a. “Einzigartige Naturlandschaft bewahren und erlebbar machen!” Das Ausrufezeichen steht (noch) so da. Heiko Rosenthal als Umweltbürgermeister Leipzigs und Mitglied der Steuerungsgruppe zitierte in seinem Einführungsvortrag aber lieber den Satz aus der These: “Die Sicherung und Aufwertung von Naturräumen nationalen und europäischen Ranges bestimmen die differenzierte touristische Nutzung.”

Wer die Sätze vergleicht, sieht, wie sich schon beim Formulieren der These die touristische Nutzung in die “einzigartige Naturlandschaft” hineinschiebt.

Wie es in der Wirklichkeit aussieht, das erlebten sie alle leibhaftig am 11. Juli 2011, als mit großem Tamtam (und einjähriger Verzögerung) die Schleuse Connewitz und damit der so genannte Kurs 1 in Betrieb gingen. Kurs 1 ist der erste von insgesamt acht geplanten Kursen im Gewässerverbund, der befahrbar ist. Er verbindet die Leipziger Innenstadt (Mole Stadthafen) mit dem Cospudener See. “Das eigentliche Ziel ist aber der Zwenkauer See”, so Rosenthal.

Doch wie kein anderer ist er bis heute geschockt, wie vehement der Protest der Naturschützer und Naturliebhaber am 11. Juli 2011 war, als die Sprecher und Repräsentanten der Steuerungsgruppe Neuseenland einfach mit Fahrgastschiffen gemütlich durch den Floßgraben zum Cospudener See fahren wollten. Unterwegs wurden sie von einem Gewimmel von Kajaks aufgehalten und gezwungen umzusteigen – aus dem Motorboot in das eigentlich naturverträglichere Paddelboot. Wer mag, findet die Fotos von Leipzigs OBM Burkhard Jung, dem Landrat des Landkreises Leipzig, Dr. Gerhard Gey, und Leipzigs Umweltbürgermeister Heiko Rosenthal alle im Artikel, den Gernot Borriss damals über dieses spektakuläre Ereignis schrieb.

Auch am 6. Februar spricht Heiko Rosenthal davon: “Das hat uns zum ersten Mal gezeigt, wie massiv der Protest gegen Motorboote im Neuseeland tatsächlich ist.”

Es gab zwar seitdem wieder reihenweise Versuche, den Neuseenländern Motorboote allerorten schmackhaft zu machen. Bis hin zu einer Schiffbarkeitsuntersuchung im Gewässerknoten Leipzig. Aber zumindest eines brachte die Steuerungsgruppe Leipziger Neuseenland fertig: Sie nahm die Charta erst einmal von der Tagesordnung und stellte sie überhaupt erst einmal öffentlich zur Diskussion. Vorher hatten nur die Mitglieder der Steuerungsgruppe diskutiert. Und die acht Thesen sprechen zumindest davon, wie komplex man das Neuseenland und seine Nutzung sieht.

Sie formulieren zumindest auch stellenweise die offensichtlich gewordenen Nutzungskonflikte – etwa bei sportlicher und Freizeitnutzung, Naturerlebnis und wirtschaftlicher Ansiedlung. Aber irgendwo stecken die Konflikte noch tiefer. Ein bisschen zugetuscht mit Phrasen wie “Einklang von Mensch und Natur” oder einem Grundwiderspruch aus “entspannendem Leipziger Neuseenland” und “Freizeitgestaltung in ihrer Vielfalt ermöglichen!” Letzteres liest sich nicht nur für Naturschützer wie eine Einladung an all jene, die sich auch gegen die Interessen anderer Nutzer – gern motorisiert – austoben möchten.

Dass die Protestierenden am 11. Juli 2011 vollkommen Recht hatten, zeigte der Sommer 2013, als zum ersten Mal seit den eingreifenden Baumaßnahmen zur Befahrbarmachung des Floßgrabens wieder Eisvögel am Floßgraben brüteten – was eine dreimonatige Sperre des Floßgrabens zur Folge hatte. Es ist nicht der einzige Gewässerabschnitt, an dem die diversen Bootskurse mit dem Naturschutz im Auenwald kollidieren.

Zumindest das ist der Steuerungsgruppe klar: Wenn die Charta nicht zu einem von einer Mehrheit der Neuseenländer, wie es so schön heißt, akzeptierten Leitbild wird, wird es haarig im Neuseenland. Man hat zwar schön geplant und das Entstandene findet zu Recht den Zuspruch der Gäste. Doch Vieles, was vor zehn Jahren auf den Reißbrettern noch sinnvoll erschien, kollidiert heute mit anderen Nutzungsarten. Und zwar zumeist solchen, die mit der Sehnsucht der Menschen nach Ruhe, Ungestörtheit, Wasser- und Naturnähe zu tun haben.

Dazu kommt ein Problem, das die Steuerungsgruppe 2012 massiv erlebte: Sie kann nicht kommunizieren.
Als achte These taucht es in der Charta auf: “Vielfalt als Chance – qualitätvolle Beteiligungskultur im Leipziger Neuseenland leben!” Man stellte zwar die Charta-Thesen ins Internet und lud alle Interessierten dazu ein, die Thesen zu diskutieren – aber die Resonanz war so gering, dass die Steuerungsgruppe 2013 beschloss, den Beteiligungsprozess dann doch lieber die Profis der Leipziger Agentur ZAROF machen zu lassen – mit öffentlichen Bürgerversammlungen und Workshops.

Ein wenig wurde auch am 6. Februar deutlich, warum die Kommunikation nicht funktionierte. Auch nicht mit der eigentlichen Informationsseite zum Neuseenland www.leipzigerneuseenland.de, die vor allem von touristischen Informationen dominiert wird. Wobei auch das schon wieder nicht ganz stimmt – wer die Seite besucht, wird zuallererst mit Event-Nachrichten konfrontiert. Es braucht schon ein wenig Mühe, sich überhaupt in die Strukturen des Neuseenlandes und seiner Akteure einzulesen. Es sind auch nicht alle auf dieser Seite präsent. Es ist nun einmal die Seite des Tourismusverbandes Leipziger Neuseenland e.V.

Andere Informationen findet man auf der Website des Grünen Ringes, wieder andere bei der LMBV, die die großen Bauprojekte im Neuseenland betreut, oder beim Leipziger Gewässerverbund, der wieder touristisch dominiert ist.

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Das Neuseenland spricht nicht nur mit vielen Stimmen, es macht auch die Akteure und Entscheidungswege nicht transparent. Es bietet auch keine Plattform, auf der sich Gäste und Anwohner einbringen können. Wirklich berichtet auch über Probleme, Konflikte und Sorgen im Neuseenland haben nur zwei, drei Medien. Wo dann freilich die Leser sich auch nur punktuell informierten. Vor allem auch, weil die Nachrichten sich durchaus komplett widersprechen konnten. Da konnten die einen schon mal das Lied von den Hausbooten singen, während die anderen – z. B. die L-IZ – durchaus anmerkten, dass es darum bei der Charta-Diskussion wirklich nicht geht.

Auch wenn das Thema “wirtschaftliches Neuseenland” im Charta-Prozess extra betrachtet wird. Natürlich hat Rosenthal Recht, wenn er sagt: “Wirtschaftlich muss das Neuseenland sich selbst tragen.” Dafür gibt es schon seit Konzipierung der Seen klar ausgewiesene Areale.

Aber da ist man wieder bei der Vielstimmigkeit und der berechtigten Kritik der Bürger. Denn noch nicht lange ist es her, da wollte ein Leipziger Unternehmen auf Markkleeberger Flur ein Golfhotel an den Südzipfel des Cospudener Sees bauen – was in den Planungen zum See so nie gewollt war. Auch hier feierte das eine Medium – und in der L-IZ gab es saftige Kritik. Denn worauf sollen sich die Bürger verlassen, wenn nicht auf die öffentlichen Nutzungspläne für die Seen? Wird doch wieder für jeden Unternehmer, der glaubt, für ihn gäbe es keine Grenzen, eine Extrawurst gebraten?

Dann verliert die Steuerungsgruppe endgültig alles Vertrauen.

Was am Mittwoch herauskam – dazu mehr in Teil 2

Charta Leipziger Neuseenland (2): Ein Berg von Diskussionspunkten wird jetzt sortiert

Weitere Informationen

www.charta-leipziger-neuseenland.de

Weitere Seiten, die über Entwicklungen im Neuseenland informieren:

www.leipzigerneuseenland.de

www.lmbv.de

www.gruenerring-leipzig.de

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