Seit gut zwei Jahren nimmt Sachsen die „Reichsbürger“ ernst. Es hatte lange gedauert und es musste erst bundesweit einige gewaltsame Vorfälle mit solchen Leuten geben, bevor auch Sachsens Verfassungsschutz diese Menschen, die unseren Staat und unsere Verfassung komplett infrage stellen, endlich zum Beobachtungsobjekt gemacht hat. Es sind nicht viele – aber sie fallen immer wieder mit Straftaten auf. Auch 2018 wieder.

Die sogenannten „Reichsbürger“ aus Sachsen haben 2018 mindestens 203 Straftaten begangen. Das ist das Ergebnis einer Auswertung durch das Polizeiliche Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrums (PTAZ), deren Ergebnisse das Innenministerium nun auf eine Kleine Anfrage (Drucksache 6/16891) von Kerstin Köditz, Sprecherin der Linksfraktion für antifaschistische Politik, bekanntgab. 2017 waren 235 Taten registriert worden (Drucksache 6/12298). Köditz erklärt dazu:

„Die Hälfte aller Fälle im Jahr 2018 wurde in den Landkreisen Mittelsachsen (41) und Bautzen (35) sowie der Stadt Dresden (29) registriert. Es folgen die Kreise Görlitz (17), Zwickau (17), Meißen (13) und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (12). In den anderen Regionen war die Fallzahl jeweils einstellig. Es zeichnen sich also klare Schwerpunkte ab – bezogen auf die Bevölkerungszahl war das Fallaufkommen in Mittelsachsen und Bautzen sogar doppelt so hoch wie im Landesschnitt“, stellt die Landtagsabgeordnete der Linken fest.

„Rund die Hälfte aller registrierten Taten gilt als politisch motiviert, bei einem Viertel wird klar von rechtsmotivierter Kriminalität ausgegangen. Immerhin: In den meisten Fällen wurden Tatverdächtige ermittelt, zu rund 88 Prozent handelt es sich um Männer.“

Der Szene der sogenannten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ werden sachsenweit rund 1.400 Personen zugerechnet, rund 100 mehr als vor einem Jahr. Erst seit Ende 2016 wird dieses Spektrum amtlich beobachtet.

„Offenbar liegen die Strukturen aber teilweise immer noch im Dunkeln. Auch bei den Straftaten kennen wir vermutlich nur die Spitze des Eisberges“, sagt Kerstin Köditz.

Dass das Phänomen dieser Menschen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland negieren und ihre Gesetze ignorieren, erst in den letzten Jahren scheinbar um sich greift, hat – wie so oft – mit der Entstehung der großen Internet-Plattformen zu tun, deren Grundprinzip darin besteht, Gleichgesinnte zusammenzubringen. Menschen mit seltsamen, gewalttätigen oder gesellschaftszerstörenden Ansichten finden seitdem auf diesen Plattformen spielend leicht zusammen.

Waren sie vorher in ihrer Gemeinde nur Käuze, Außenseiter und Eigenbrötler, finden sie nun problemlos Gleichgesinnte, die Algorithmen der Netzwerke bringen sie automatisch zusammen, sie tauschen sich aus und werden auf einmal zur Bewegung. Und sie profitieren davon, dass die Netzwerke schrille Ansichten bestärken und Leuten, die besonders heftig und häufig ihre Ansichten in den Foren hinterlassen, praktisch die Dominanz in entgrenzten Diskussionen verschaffen.

Das kommt auch den Rechtsradikalen zugute, wo es einige wenige Aktive braucht, um im Internet die Diskussionen zu dominieren.

Ben Nimmo vom US-amerikanischen Think Tank Atlantic Council etwa erklärt zu diesem Phänomen im „Tagesspiegel“: „Eine Gruppe bestehend aus zehn Personen, die beschließt, ihre gesamte Zeit auf Social-Media-Plattformen zu verbringen, kann dort so viele Inhalte verbreiten, dass sie wie eine große Bewegung wirkt.“

Und es führt natürlich dazu, dass jede Menge schräger Gestalten auf einmal Anregung finden, sich genauso zu verhalten. Was übrigens auch ein Bestätigungselement enthält. Denn wer mit seiner grauen Existenz irgendwo am Rand der Gemeinschaft bisher haderte, kann sich nun auf einmal – unterstützt von Gleichgesinnten – als Gegner eines Staates profilieren, den er irgendwie nicht mag.

Worunter dann vor allem die Angestellten im öffentlichen Dienst zu leiden haben, die mit diesen Leuten und ihrem wirren Weltbild zu tun bekommen.

„In der Statistik wurden rund 40 verschiedene Straftatbestände verzeichnet. Besonders häufig handelte es sich um Nötigungen, Bedrohungen bis hin zu Erpressungen (49), um Volksverhetzung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (44), aber auch um Widerstand gegen und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte (11)“, stellt Kerstin Köditz fest. „Hinzu kommen Sachbeschädigungen (9), Körperverletzungen (7), Verstöße gegen das Waffengesetz (5) sowie das Betäubungsmittelgesetz (3).“

Die Überschneidungen mit dem rechtsradikalen Potenzial sind unübersehbar. Oft genug sind die „Reichsbürger“ gleichzeitig in rechtextremen Netzwerken aktiv, die Glorifizierung des nationalsozialistischen Staates überschneidet sich mit der Ablehnung der Bundesrepublik.

Linke Abgeordnete wirft Sachsens Innenminister bei Reichsbürger-Drohungen gegen Bedienstete Ahnungslosigkeit vor

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Warum die neue Leipziger Zeitung geradezu einlädt, mal über den Saurier Youtube nachzudenken

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Es gibt 6 Kommentare

Eine Diskussion hätte schon viel bewegt, ich denke da nur mal Artikel 218. Es bleibt m.M.n. vergebene Chance.

“Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 146
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.” (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_146.html)
Man sieht, dass kein Widerspruch vorliegt. Wenn die Legislative der BRD eine neue Verfassung vorlegt, wird diese neue Verfassung gelten. Das GG hätte also 1990 durch eine Verfassung abgelöst werden können. Wurde es aber nicht. Also bleibt es in Kraft!

Wenn ich mich recht entsinne, war der Punkt dahinter: Wenn Deutschland wieder vereint ist, gibt es sich eine Verfassung, bis dahin hat die BRD ein Grundgesetz.
Leider wurde das bei der Wiedervereinigung ‘verpaßt’, wie so einiges andere…

Im obigen Kommentar wird im “PS:” von “unserer Verfassung” geschrieben. Wie ist denn die Situation wirklich? Im Grundgesetz steht, dass es an dem Tage seine Gültigkeit verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt. Diesen Widerspruch verstehe ich nicht. Wer oder was ist denn nun die Verfassung? Wenn dieser Umstand weg wäre, wäre vielleicht auch den Menschen, die Zweifel an der jetzigen Situation haben einiger Wind aus den Segeln genommen und jeder Mensch wüsste woran er ist.

Einzelne “Reichsbürger” und ihre Motivation zu betrachten, verstellt den Blick auf die ‘neuen’ Denker und Organisatoren und Verbreiter ihrem Wesen nach faschistischer Ideologien.
Und denen geht es um ihren maximalen Profit, am besten zu erreichen durch Besitz der wirtschaftlichen und politischen Macht mit Hilfe eines von ihnen abhängigen, autoritären Staates.
Die jetzige Europäische Union und die demokratischen Parlamente der Mitgliedsländer sollen beseitigt werden und anstatt dessen ein “Europa der Nationen” neu entstehen.
Und dazu braucht man nicht nur Wähler (aktuell noch), sondern überzeugte Anhänger.

Und da schaut man, was es aktuell so gibt an nationalistischen, rechtsextrem bis vermeintlich nur konservativen, christlich-fundamenalistischen und ‘Zurück zur Natur’-Selbstverwaltern etc.
und versucht deren kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und Gemeinsamkeiten auf einem möglichst einfach gehaltenem Niveau herauszustellen.
Und dann kommt man zum uralten System der ‘Schuld’.

Zuerst werden nach eigenem Gutdünken Opfer und Täter bestimmt, auch über ‘Rollentausch’.
‘Opfer’ sind die zu erreichende Zielgruppe.
Und nun kommt das ‘Heilsversprechen’. Wenn man kein Opfer sein will, muss man sich von der ‘Schuld’ befreien.
Man braucht entweder einen ‘Sündenbock’ oder leugnet bzw. verharmlost wirklich stattgefundene Verbrechen an der Menschlichkeit, um das dahinterstehende System der menschenverachtenden Gewalten-Übernahme keinem geschichtlichen Vergleich auszusetzen.
Dadurch dass man sich selbst das Recht gibt, ‘Schuld’ und ‘Unschuld’ zuzuweisen, steht man gleichzeitig quasi als Richter über dem Ganzen und kann es nach eigenem Belieben steuern.

(Den Holocaust-Leugnern sind die 6 Millionen ermordeter jüdischer Menschen egal.
Auch die als politische (und damit auch ‘wirtschaftsschädliche’) Bedrohung ausgemachten Gewerkschafter und antifaschistisch Organisierte,
sowie auch andere mit rassistischen Merkmalen versehene Bevölkerungsgruppen, wie z.B. Sinti und Roma,
und als ‘arbeitsscheu’ und ‘asozial’ deklarierte, also alle die der ‘Wirtschaft’ keinen direkten Gewinn bringen. Von Künstlern über Schriftsteller bis hin zu psychisch und physisch kranken Menschen, die aus Sicht der ‘Wirtschaft’ nur Kosten verursachen und deren Gewinn für die Gesellschaft und ein menschliches Zusammenleben, sich nicht in Geld bemessen lässt.)

Es geht darum, unter dem Begriff “Schuld-Kult”, die verbrecherische Geschichte des ‘Deutschen Reiches’ als eine Kausalkette von Verleumdungen darzustellen. Also nicht Täter sondern ‘unschuldiges’ Opfer zu sein.

Ja und weiter gibt es dann, auch unter dem Begriff der ‘Nation’ bzw. der ‘Vaterländer’, die Aufteilung in ‘wertes’ und ‘unwertes’ Leben.
Dazu gehört dann auch der Aufbau einer vermeintlichen Bedrohung des zuvor über die ‘Opfer-Rolle’ definierten ‘Volkes’.

Und wer sich dieser Gruppe anschließen darf, da ist man sehr flexibel. Da werden dann schon mal alte, ‘wissenschaftliche’ Spinnereien wie die ‘Europiden’ (Nachfahren von Europäern) ausgegraben, um ‘hellhäutigere’ gegen ‘Schwarz-Afrikaner’ zu mobilisieren.

Naja, und die ‘Reichsbürger’ erkennen die in Folge des 2. Weltkrieges entstandenen Grenzen nicht an, und meinen ihre quasi dadurch entstandene ‘Staatenlosigkeit’ mit Waffen verteidigen zu dürfen. Und das vereint sie über Länder hinweg.

(Ein Zurück zum ‘biblischen’ Verständnis der Ehe, mit klarer Rollenverteilung von ‘Mann als Kämpfer’ und Frau als Hüterin von ‘Herd, Heim und Kindern’ also Verdrängung aus der Gesellschaft und Sicherstellung der eigenen, männlichen Abstammung –
da ist man ganz schnell bei ‘Blut und Boden’-Ideologien mit allen ihren verheerenden Folgen auch im letzten Jahrhundert.)

Und Menschen mit dieser ‘Reichsbürger’-Ideologie lassen sich halt einfacher benutzen bzw. sind ein willkommenes menschliches ‘Werkzeug’, wenn man als sich selbst definierende elitäre Gruppe die absolute Herrschaft übernehmen will.
Also den Staat und das für ‘die Wirtschaft’ notwendige ‘Human’-Kapital.
Gesellschaftlicher Frieden und menschliches Miteinander sind da nur kontra-produktiv.

Der einzelne Reichsbürger muss beobachtet (und mit rechsstaatlichen Mitteln beschränkt) werden,
aber genauso wichtig ist es, die dahinter stehende ideologische Vernetzung zu erkennen, weil der ‘gewöhnliche Reichsbürger’ sich im allgemeinen nicht selbst miteinander im großen Rahmen strukturell organisiert.

PS:
Und ‘Reichsbürger’ stellen nicht “unseren Staat und unsere Verfassung komplett infrage”, sondern lehnen diese als aus ihrer Sicht unrechtmäßige, für sie nicht zutreffende Konstrukte ab.
Es wird von der Bundesrepublik Deutschland als einer nach dem 2. Weltkrieg aufgezwungenen ‘Gesellschaft mit beschränkter Haftung’ gesprochen, an der man zwangsweise als Personal, definiert über den Personal-Ausweis, teilnehmen muss.
Und die Definition des VS für extremistische Bestrebungen (gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet und diese beseitigen wollend), soll da bewußt nicht so richtig greifen,
weil, wenn man etwas als nicht existend erklärt (die Rechtmäßigkeit der FDGO durch die Reichsbürger), kann und braucht man auch nicht dagegen vorgehen, um diese zu beseitigen. Eine ‘GmbH’ kann man auflösen. Das ‘Reich’ bleibt bestehen.
Also, was da als vermeintliche Spinnerei daherkommt, ist schon sehr durchdacht und auch schon deshalb gefährlich für unsere Demokratie.

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