Da ist etwas mächtig schiefgelaufen in Sachsen. Etwas, das vielen Sachsen das Gefühl gibt, dass sie keinen Einfluss mehr auf das haben, was im Freistaat geschieht. Das hat mit Strukturen zu tun, Strukturen von Teilhabe, Selbstverwaltung und der zunehmenden Entfernung von Staat und Politik. Und besonders heftig hat die letzte Kreisreform 2008 zugeschlagen. Jetzt macht sich wenigstens die SPD Gedanken darüber, was man vielleicht wieder reparieren kann.

„Die negativen Folgen der Kreisreform, die nur auf das Sparen ausgerichtet war, sind überall in unserem Land zu spüren. Viele Menschen können von einer bürgernahen Verwaltung vor Ort nur noch träumen. Um es also deutlich zu sagen: Die Kreisreform von 2008 war Murks. Es hilft aber nicht, jetzt nur die Zentralisierung mit all ihren negativen Folgen zu beklagen. Und es macht auch keinen Sinn, diese Reform rückgängig zu machen“, erklärt Köpping, die zum Spitzenteam der SPD zur Landtagswahl gehört.

„Wir müssen wieder mehr Macht teilen. Noch liegt zu viel Entscheidungsgewalt weit weg von den Bürgerinnen und Bürgern – bei den Landkreisen und Landesdirektionen. Diese erscheinen den Bürgern nun wie kleine Fürstentümer: Wenig nahbar und bürgerfreundlich.“

Sie erscheinen oft nicht nur so wie kleine Fürstentümer – sie agieren oft auch so. Denn mit ihnen hat Sachsens Regierung ein straffes Kontrollsystem eingerichtet, in dem nicht mal eine Dorfstraße saniert werden kann, ohne dass dazu ein kiloschwerer Förderantrag von mehreren staatlichen Instanzen geprüft und genehmigt werden muss.

Am 1. Juli haben der Bürgerrechtler Frank Richter, der Augustusburger Bürgermeister Dirk Neubauer und Petra Köpping ihren Vorschlag „Demokratie leben, heißt Macht teilen“ vorgelegt. Bestellt hatte ihn im April der Parteivorsitzende Martin Dulig.

Es stecken sieben Vorschläge drin, wie Demokratie für die Bürger des Freistaats wieder erlebbar gemacht werden könnte. Aber in der Analyse der Zustände werden die drei Autoren noch deutlicher. „Die politische Landschaft im Freistaat Sachsen ist im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung gekennzeichnet von Zentralismus, überbordender Bürokratie und verkrusteten Strukturen. Ja, auch wir haben unseren Anteil an dieser Entwicklung. Dies müssen wir uns ehrlich eingestehen. Doch aus Fehlern kann und muss man lernen“, schreiben sie und beschreiben dann recht genau, wie das Königreich schon ab den 1990er Jahren so gebaut wurde, dass den Kommunen kaum noch eigener Handlungsspielraum blieb und in Dresden eine ausufernde Genehmigungs- und Kontrollbürokratie entstanden ist, die das Land am finanziellen Gängelband führt. Oder auch nicht führt. Denn so unberechtigt ist auch das Gefühl amtlichen Stillstands nicht.

„Über die Jahrzehnte wurde immer mehr Entscheidungsgewalt weg von den Bürgerinnen und Bürgern hin zu Landkreisen, Landesdirektionen und der Landespolitik verlagert. Zudem steht ein Großteil des Finanzaufkommens unter der Entscheidungshoheit des Freistaates. Daraus folgte, dass die Stadt- und Gemeinderäte gerade kleinerer Städte und Gemeinden in ihren Möglichkeiten vor Ort mehr und mehr eingeschränkt wurden. Diese von Bürgerinnen und Bürgern vor Ort als Verantwortliche gewählte Vertreter wurden im Laufe der Zeit eher zu Antragstellern denn zu Entscheidern. Doch genau letzteres müssten sie mit Blick auf den demokratischen Gedanken und die verfassungsrechtlich gesicherte kommunale Selbstverwaltung eigentlich sein“, heißt es im Papier.

Und was die Bürger erleben, verwandelt sich natürlich in Gefühle – Gefühle des Abgehängtseins, der Machtlosigkeit und des zunehmenden Misstrauens in die Instanzen, die andernorts über die Gelder der Bürger entscheiden.

„Viele Beschlüsse stehen unter dem Vorbehalt, dass die betreffenden Vorhaben erst durch Fördermittel überhaupt möglich werden. Die aber stehen unter der Ägide komplexer und langwieriger Verfahren, die außerhalb des Einflussbereiches der Bürgerinnen und Bürger durchgeführt und entschieden werden“, stellt das Papier fest.

„Dies hat zur Folge, dass die Menschen zunehmend den Glauben an die von ihnen gewählten Strukturen vor Ort und damit an die Kraft und den Sinn der Demokratie verlieren. Wahlbeteiligungen und das Interesse an den Prozessen vor Ort gehen zurück. Das Gefühl, die Kontrolle über das Leben zuhause zu verlieren, wächst. Die Abneigung gegen die repräsentative Demokratie ist hoch, die meisten Menschen haben kaum Verbindung zu den Institutionen der Parlamente und Exekutive.“

Aber was tun? Kann man diese verkrustete Bürokratie wieder aufbrechen und den Bürgern, Bürgermeistern und Kommunalparlamenten wieder das Gefühl geben, über die eigenen Belange selbst entscheiden zu können?

„Da ist ein grundsätzlicher Aufbruch für mehr Demokratie notwendig. Als SPD haben wir Vorschläge auf den Tisch gelegt, um verkrustete Strukturen aufzubrechen. Die Kreisreform von 2008 war falsch. Wir müssen die Fehler endlich reparieren“, sagt Petra Köpping. „Wir wollen einen grundsätzlichen Aufbruch zur demokratischen Erneuerung – und der kann nur von unten kommen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass Bürgerinnen und Bürger mehr Einflussmöglichkeiten haben wollen, um in ihrem Dorf, ihrer Stadt oder ihrem Stadtteil Dinge zum Besseren zu wenden. Es gibt so viele Ideen, die aber leider brachliegen. An dieser Stelle lässt sich mit viel Vertrauen schnell etwas ändern.“

Das Papier schlägt zum Beispiel Bürgerhaushalte überall in Sachsen vor.

„Gemeinden wie Lichtenstein, Roßwein und Augustusburg machen erfolgreich vor, dass es geht. Als SPD haben wir deshalb vorgeschlagen, dass unsere Kommunen auch nach dem Jahr 2020 eine jährliche Pauschale von 70 Euro pro Einwohnerin und Einwohner (maximal 70.000 Euro) vom Land bekommen, die sie auch für solche Bürgerhaushalte verwenden können. Damit wird Macht und Gestaltungsfreiraum konkret nach unten verlagert“, so Köpping.

Aber das reicht natürlich nicht. „Und wir brauchen wieder Ansprechpartner vor Ort und nicht 30 km entfernt, wo man keinen kennt. Wir brauchen Menschen, die sich in jedem Dorf um andere kümmern. Und jeder Mitarbeiter in den Verwaltungen sollte durch Digitalisierung einfacher Verwaltungsangelegenheiten mehr Zeit bekommen, sich um die konkreten Bedürfnisse und Probleme vor Ort zu kümmern. Bei der Digitalisierung darf nicht wie bei der Kreisreform wieder der Fehler gemacht werden, nur die Spareffekte zu sehen.“

Das sind trotzdem nicht die stärksten Vorschläge aus dem Papier.

Dazu gehört zum Beispiel Vorschlag Nr. 1: „Wir wollen den Städten und Gemeinden eine stabile, planbare und deutlich bessere finanzielle Grundausstattung durch den Freistaat geben. Das gleicht einem revolutionären Akt: Denn finanziert werden soll dies durch die Streichung von Förderprogrammen, die bspw. durch die Sächsische Aufbaubank ausgereicht werden. Finanzielle Möglichkeiten sind die Basis für mehr direkte Demokratie vor Ort.“

Denn 60, 70 oder gar 90 Prozent Förderung durch den Freistaat mögen sich ganz nett anhören, wenn Minister damit für sich werben. Wenn die Kommunen die Fördergelder aber trotzdem nicht bekommen, weil sie keine Gegenfinanzierung aufbringen können oder der Förderantrag jahrelang durch die Instanzen wandert, dann ist etwas falsch am System.

Punkt 2 schlägt leichtere Bürgerbegehren vor: „Für die direkte Einflussmöglichkeit bei grundlegenden Fragen zur Entwicklung in der Kommune vor Ort sollen für ein Bürgerbegehren nur noch Unterschriften von fünf Prozent der Wahlberechtigten gesammelt werden müssen.“

Und durchaus bedenkenswert ist auch Punkt 5, wo es um die Selbstherrlichkeit der Ämter geht: „Es braucht wieder den Mut zu mehr eigenverantwortlichen Entscheidungen innerhalb der Behörden und Ämter. Wir brauchen Entscheidungsmut und Ermöglichungshaltungen. Das muss gedeckt sein durch politisch akzeptierte Fehlertoleranz, die wir nur auf Landesebene herstellen können. Der Mut zur menschlichen Entscheidung muss gestärkt werden. Wir brauchen daher eine neue Leitkultur für den Öffentlichen Dienst, um Projekte und Ideen zu ermöglichen und nicht zuallererst zu prüfen, warum etwas nicht geht.“

Dazu muss aber die notwendige spiegelbildliche Betrachtung kommen, die agierende Politiker meist nicht wahrnehmen. Denn wenn anonyme Amtsebenen entscheiden, was gehen darf und was nicht, dann entscheiden sie eben auch über den tatsächlichen Einsatz der Gelder und bilden demokratisch unkontrollierte Entscheidungsinstanzen, Paralleluniversen, in denen sie mit Geldern eigene Interessen verfolgen, die eigentlich Steuergelder sind, über deren Einsatz gewählte Mandatsträger entscheiden müssten.

So betrachtet ist das SPD-Papier ein erster, aber noch zu zaghafter Ansatz, die Fehlentwicklungen der sächsischen Staatsverwaltung wirklich alle zu benennen. Und das Versprechen, Macht teilen zu wollen, können die sieben Vorschläge so auch noch nicht erfüllen. Man denke nur an die zähen und langwierigen Verfahren zur Haushaltsgenehmigung in Sachsen. Während Landkreise und Kreisfreie Städte in der Regel in überschaubaren Zeiträumen einen genehmigungsfähigen Haushalt hinbekommen, scheitern viele sächsische Gemeinden daran. Das fragt der Linke-Abgeordnete André Schollbach regelmäßig ab. Und auch im April 2019 hatten noch Dutzende Gemeinden einen solchen Haushalt nicht hinbekommen.

Darunter auch Gemeinden im Landkreis Leipzig wie Bad Lausick, Bennewitz, Borna, Frohburg, Groitzsch, Naunhof, Otterwisch, Pegau und Zwenkau. In Nordsachsen waren es Arzberg, Beilrode, Dahlen, Doberschütz, Dreiheide, Liebschützberg, Löbnitz und Mockrehna. Das sind mit der Zeit erdrückend viele Gemeinden, denen das finanzielle Polster fehlt, um rechtzeitig einen Haushalt zu beschließen und auch genehmigt zu bekommen.

Wer genauer hinschaut merkt, wie viel falschläuft in Sachsen und dass die CDU-geführte Staatsregierung die wichtigsten finanziellen Entscheidungen immer weiter auf höhere Ebenen verlagert hat. Wer letztlich über die Haushalte der anderen und die ihnen zugestandenen Gelder entscheidet, hat die Macht im Land.

Stellt die SPD also die Machtfrage?

Irgendwie noch nicht.

Ein paar kleinere Vorschläge hat Petra Köpping noch: „Ich möchte gern auch andere Versorgungsmodelle erproben. Kleine Dörfer könnten mit einer Förderung kleine Läden eröffnen, die Post und Bankdienstleistungen anbieten und in denen es auch einen Behördenschalter gibt. Das schafft nicht nur Arbeitsplätze im Ort, sondern sichert auch ein gutes Zusammenleben in allen Lebenslagen.“

Zehn Jahre Kreisgebietsreform in Sachsen

Zehn Jahre Kreisgebietsreform in Sachsen

 

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