LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 80, seit 26. Juni im HandelAlexander Mennicke hat eine große Aufgabe: Er koordiniert 100 Jahre Alfred-Kunze-Sportpark (AKS). Aber wie soll das gehen in Zeiten von Corona und wie feiert man die 100-jährige Existenz eines Fußballstadions angemessen? In Leutzsch sieht man das Stadion nicht nur als Gebäude, sondern als soziokulturellen Raum, der mehr als nur Steine ist. Hier werden Schicksale entschieden, Geschichten produziert, möglicherweise sogar mit historischem Ausmaß.

Die Geschichten machen die Steine erst zum Mythos, aber sie bringen auch Verantwortung mit sich. Das unterstreicht der 34-jährige Vorsänger aus der Chemie-Fanszene.

Das Fußballmagazin 11Freunde schrieb über den AKS: „Schön ist dieser Ort, weil er so wunderbar zusammengeflickt ist.“ Sehen Sie das auch so?

Spontan würde ich als Abwehrreflex nein sagen, weil es mir zu abwertend ist. Aber wenn man es genau ansieht, dann kann man dem schon zustimmen.

Warum ist der Sportpark ein derartiger Flickenteppich?

Das liegt vor allem in der Baugeschichte begründet. Es gab eigentlich nie einen großen Plan und es entstanden nur sukzessive Erweiterungen. So gab es 1920 erst nur eine Rasenfläche für mehrere Nutzer. Mit dem fortschreitenden Erfolg des Vereins in den 30er Jahren, als bei der Tura mehr als 20.000 Zuschauer kamen, oder nach dem 2. Weltkrieg, stiegen auch die Anforderungen. So ergibt auch das Stückwert Sinn. Die Tribüne, die ja der größte Blickfang ist, stand an der Regatta-Strecke, auf Höhe des heutigen Zentralstadions. Sie passt ja eigentlich optisch nicht richtig rein und ist nur da, weil Leute sich mehr oder weniger zufällig darum gekümmert haben.

Wie meinen Sie das?

Nach dem Krieg brauchten die Leute Feuerholz, also wurde alles abgerissen und verbrannt was man kriegen konnte. Auch die Tribüne hätte das getroffen und das sollte verhindert werden. Dazu gibt es den Mythos, der mir so als junger Mensch erzählt wurde, dass man sie über Nacht ab- und wieder aufgebaut hat. Das ist natürlich Quatsch. Tatsächlich dauerte es ungefähr ein Jahr, und 1949 wurde sie erstmals für ein Spiel genutzt. Die Ruderer hatten natürlich was gegen den „Diebstahl“ und auch eine offizielle Genehmigung von der Stadt gab es nicht, aber irgendwie war es dann doch okay. Das Holz wurde erst in den letzten zwei, drei Jahren ausgetauscht, bis dahin war es das Originalholz von damals.

11Freunde bezeichnete den Sportpark gar als schönstes Stadion in Deutschland. Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?

Es ist sicher eins mit dem größten Charakter, denn es ist eines der alten Stadien, die es so faktisch nicht mehr gibt. Wir haben viele alte Spieler interviewt und die beschreiben immer wieder diese Nähe, die überschwappende Stimmung, diese Situationen, bei denen Menschen beim Eckball mit dem Schirm pieksen konnten. Das macht die Atmosphäre aus. Das einzige Stadion, was so ähnlich ist und mir gerade hinsichtlich dieser Nähe einfällt, ist das in Potsdam-Babelsberg. Ich habe einige Bundesligastadien von innen gesehen, aber das fehlt dort schon. Wenn wir Freundschaftsspiele gegen Bundesligisten gemacht haben, waren die Fans, die da waren, schon sehr, sehr begeistert. Die kennen ja nur diesen „Bundesliga-Kladderatsch“. Dazu kommt die Lage mitten im Grün und doch in der Stadt.

Was ist der Alfred-Kunze-Sportpark für Sie?

Man kann den AKS nicht als Bauwerk anschauen, ohne den Verein zu betrachten. Und da geht es auch um den Freiraum Stadion. Man kann sich in Leutzsch noch frei bewegen, man kann auf den Dammsitz vom Norddamm und zurück, ohne von 20 Ordnern kontrolliert zu werden. Das würde ich auch unter der Charakteristik des Stadions subsumieren. Dazu kommt das soziokulturelle Leben im Stadion, denn es geht nicht nur um Fußball, sondern es geht um mehr. Leben, lieben, leiden, Kultur, Politik, Soziales. Es ist ein Stadion, das mit dem Verein und den Fans als Einheit lebt.

Foto: Screen Titelblatt

Wie muss man sich diesen Freiraum vorstellen?

Der Freiraum ist eine Gefühlssache. Wenn ich das mit der Bundesliga vergleiche, dann ist das Gefühl dort ein anderes. Ich kann mit Ordnern anders reden, kann mich freier bewegen und wenn ich ein Problem habe, gehe ich einfach zu den Spielern oder der Vereinsführung und sage denen das. Das ist auch klar für die Spieler, dass es dazugehört und dass es okay ist, so nah zu sein. Ein Geben und Nehmen. Der ganze Verein lebt als Familie, auch wenn das als Satz abgenutzt ist. Das schließt Meinungsverschiedenheiten nicht aus, aber der Zusammenhalt ist enorm und dabei spielt der AKS, auch als Freiraum, eine große Rolle.

In einem Interview haben Sie vom „morbiden Charme“ des Stadions gesprochen. Was meinen Sie genau?

Es ist ein morbides Gesamtkunstwerk, weil gefühlt 30 bis 40 Jahre fast nichts gemacht wurde. Der Zaun wurde 1996 neu gebaut, der Familienblock wurde errichtet und das war es quasi. Der Rest war zumeist Instandhaltung oder die Erfüllung von Auflagen. Das strahlt durchaus Charme aus. Die Sitze auf dem Dammsitz, die mit der Hand bemalt worden sind und von denen die Farbe abblättert oder manche kaputt sind, sind ein Beispiel. Der Norddamm, der aus Kriegsschutt errichtet worden ist, ein anderes. Im Vergleich zu den anderen Stadien, hat der AKS nicht dieses Geleckte, saubere. Aber es gibt eben auch enorme Baustellen.

Das Abfangnetz auf der 1 wurde jetzt endlich mal erneuert und eigentlich muss man an manchen Stellen mit dem Zaun weitermachen. Anderswo bröckelt der Beton. Noch wichtiger aber wäre die Infrastruktur. Umkleidekabinen, Duschen, wir brauchen endlich einen neuen Kunstrasen. Es gibt zwar Förderungen, aber wir müssen einen Eigenanteil stemmen, anderes komplett selbst finanzieren. Wir haben dabei aber die Maxime, dass wir nicht mehr ausgeben als das, was wir haben.

Derzeit gehört das Stadion nicht dem Verein. Warum nicht?

Einen Pachtvertrag zu bekommen, ist unser Ziel, aber es gibt viele Hürden, ehe wir den bekommen – und auch bekommen wollen. So charmant das Morbide an einigen Stellen ist, so hinderlich ist es an anderer. Wir leben in dem Bereich noch mit Rohren und Kabeln aus fernen DDR-Zeiten. Das Stadion ist so marode an vielen Stellen, ein Pachtvertrag wäre an unkalkulierbare Risiken gebunden, weil er uns anders in die Pflicht nimmt. Unsere „Wohnung“ muss erst mal in einen guten Zustand gebracht, also „verpachtbar“ gemacht werden, ehe wir sie übernehmen können. Da ist die Stadt Leipzig als Eigentümer gefragt. Als erster Schritt sollen jetzt endlich die Medienanschlüsse erneuert und neue Kapazitäten geschaffen werden. Vor allem eben Umkleidekabinen, Duschen und all sowas.

Alles wächst, die Stadt und auch unser Verein, und wenn man sich die Stadtentwicklung im Leipziger Westen anguckt, wird sich das auch nicht ändern. Die Georg-Schwarz-Straße wird immer mehr in Richtung Leutzsch saniert und die Bedürfnisse werden größer. Als Verein sind wir ein wichtiger Teil des Leipziger Westens und wollen dem gerecht werden. Platz für Schulsport, Freizeitangebote, Soziales. Der Standort ist wichtig, aber das können wir allein nicht stemmen.Gerade ist Chemie nur Nutzer, was bei allen Umbaumaßnahmen immer komisch ist. Wenn das Flutlicht, für das wir sammeln, steht, dann schenken wir es quasi der Stadt. Das ist absurd, aber so ist das mit der Sportplatzförderung in Leipzig.

Vermissen Sie die Unterstützung der Stadt?

Ja und Nein. Die Stadtentwicklung hat die Stadt überrollt. Als Leipzig bis in die 2000er ein Negativwachstum hatte, lag viel brach. Ich würde der Stadt nicht per se einen Vorwurf machen, dass sie absichtlich handelte, aber zum Teil wurden und werden Prioritäten falsch gesetzt. Und das nicht nur im Breitensport. Schulen, Kindergärten, da gibt es ja etliche Baustellen. Jetzt fehlt natürlich das Geld, weil es so viel zu tun gibt und am besten alles auf einmal. Aber auch der damalige VfB Leipzig und der FC Sachsen haben sich mit ihrer Ausgabepolitik nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das Geld, was für Legionäre ausgegeben wurde, hätte man in die Stadien stecken können. „Steine statt Beine“ hat hier mal jemand gesagt.

Wir können die Vergangenheit aber weder auf der einen noch auf der anderen Seite ändern und jetzt sind wir auf einem langsamen, aber guten Weg. Auch was die Stadt angeht. Es könnte schneller gehen, aber man ist bemüht, etwas zu ändern und bessere Bedingungen zu schaffen. Aber man stellt sich das auch alles leichter vor als es ist. Ich habe mich letzte Woche mit dem Chefplaner des AKS getroffen, der auch gesagt hat, das Bauen selbst sind nur ein paar Prozent der Arbeit. Das Drumherum ist viel mehr. Genehmigungen, Anträge, Aufträge, Vorbereitungen. Und wir stemmen fast alles im Ehrenamt und sind den vielen fleißigen Händen und Köpfen sehr, sehr dankbar. Aber dadurch sind uns natürlich Grenzen gesetzt.

Wann bekommt Leutzsch Flutlicht?

Hoffentlich bald. Gerade arbeitet der Verein an den ersten behördlichen Genehmigungen. Es muss z. B. ein Lichtemissionsgutachten gemacht werden. Das heißt, die Lux-Zahl, die auf dem Platz ankommt, darf nicht bei den Bewohnern hinterm Stadion ankommen. Wir haben die ersten Hausaufgaben gemacht aber bis zur Baugenehmigung ist es noch ein weiter Schritt, bis zum ersten Spatenstich sowieso. Da liegt noch sehr viel Arbeit vor uns allen. Es ist eigentlich absurd, dass so ein altes Stadion kein Flutlicht hat. Aber in den 70er Jahren ging der Stahl, der dafür vorgesehen war, nach Jena, weil die im Europacup gespielt haben. Das eine Flutlichtspiel im DFB-Pokal im Herbst 2018, war ein unglaublicher Moment. Da hatten nicht wenige Tränen in den Augen.

Projektleiter Alexander Mennicke (li.) mit Bürgermeister Prof. Thomas Fabian. Foto: Christian Donner
Projektleiter Alexander Mennicke (li.) mit Bürgermeister Prof. Thomas Fabian. Foto: Christian Donner

Wo ist Ihr Lieblingsplatz im AKS und warum?

Das ist schwer zu sagen. Ich stehe beim Spiel auf dem Norddamm. Wenn kein Spiel im Stadion ist, dann ist der Platz auf der Presseplattform eigentlich der schönste. Dort sieht man einen wunderschönen Sonnenuntergang und hat den besten Blick über das Stadion.

Was sind Ihre größten Moment im AKS?

Ein Moment war die DFB-Pokal-Saison als solche, vom überraschenden Sieg gegen Regensburg bis zum ersten Mal unter Flutlicht. Dann für mich persönlich die ersten Spiele als Kind, also 1994 als es noch um den Aufstieg in die 2. Liga ging. Die Derbysiege waren natürlich eine Nummer und vielleicht noch das Testspiel gegen Bayern 1997. Es ist wirklich schwer sich zu entscheiden, wenn man so viel mit einem Ort verbindet und darin erlebt hat.

Ein Schlagwort des Projekts AKS100 ist „100 Jahre AKS – 100 Jahre Erzählungen“. Was verbirgt sich dahinter?

Das Stadion ist für uns ein soziokultureller Raum, in dem viele Geschichten geschrieben werden, die über den Fußball hinausgehen. Persönliche Schicksale genauso wie kulturelle Aneignung, Erwachsenwerden, Erfahrungen machen. Dazu kommen politische Aushandlungsprozesse. Im Stadion soll es Widerstandsbestrebungen zur NS-Zeit gegeben haben, zu DDR-Zeiten hat man sich in Opposition zum DDR-Regime gesehen, das führte zu Deutschnationalismus bis hin zum Rechtsextremismus. In der Gegenwart steht der Verein für ganz klare antirassistische Werte, wir machen Flüchtlingsarbeit und so weiter. Das ist so vielleicht einzigartig in Deutschland.

Diese und andere Linien zu ziehen ist Teil des Projekts. Auch kulturell. Man muss sich nur die Fangesänge anschauen, die haben ja einen gewissen Ursprung, dazu die Choreos und auch Fahnen. Dem wollen wir Rechnung tragen und wollen zeigen, was das Stadion bedeutet. Dazu gibt es verschiedene Workshops und Vorträge. Am Ende soll als Höhepunkt ein Buch entstehen, das genau diese Sachen betrachtet und dem Raum AKS gerecht wird.

Inwieweit gab es im Stadion Widerstand gegen den Nationalsozialismus?

Der Mythos, der zu DDR-Zeiten gelehrt wurde, besagt, dass die Widerstandsgruppe um Georg Schumann, Otto Enger und Kurt Kresse, der auch Georg Schwarz angehörte, sich in Leutzsch getroffen hat und die Spiele genutzt hat, um sich abzusprechen. Das konnten wir noch nicht verifizieren. Wir hoffen, die Tagebücher von Georg Schwarz zu bekommen, die im Bundesarchiv unter Verschluss liegen. Daraus lassen sich vielleicht neue Erkenntnisse gewinnen. Tatsächlich aber haben wir recherchieren können, dass Teile des Arbeitssports bei der Tura weiter präsent waren bzw. dort aufgefangen wurden und die Spieler dort „Unterschlupf“ bekommen haben.

Im Stadtteil selbst gab es auch zur NS-Zeit eine starke Arbeiterbewegung. Natürlich ist die nicht per se als Widerstand zu betrachten, aber die Zustimmungsraten für die NSDAP waren viel geringer als anderswo. Für unsere Forschungen aber besonders interessant: Die Gestapo hat sich negativ über das Publikum von Tura und deren Verhalten geäußert. Unter den Zuschauern waren sehr viele Sozialdemokraten und die Nationalsozialisten vermuteten dort Widerstandshandlungen bis hin zur Fortführung der SPD.

Das Logo zum AKS-Jubiläum.
Das Logo zum AKS-Jubiläum.

Wird auch das Leben des Namensgebers Alfred Kunze aufgearbeitet, der nicht nur Meister-Trainer, sondern auch Wehrmachtsinspekteur war?

Neben Georg Schwarz wird natürlich auch Alfred Kunze im Zuge des Jubiläums und des Buches eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehört auch dieser Teil des Lebens Kunzes, für den wir eine Verantwortung haben, diesen aufzuarbeiten. Letztes Jahr ist die Biografie von Jens Fuge zu Alfred Kunze erschienen. Von dem Standpunkt aus arbeiten wir auch weiter, schauen in Archive, ich war dazu mit mehreren Militärhistorikern im Gespräch, all sowas. Wir wollen soviel über diese Problematik herausbekommen, wie möglich ist.

100 Jahre AKS in Zeiten von Corona. Was hat sich zum ursprünglichen Plan geändert?

Wir haben nunmehr ein Hygienekonzept eingereicht, das genehmigt wurde, es kann also mit den Plänen eingeschränkt weitergehen. Alles werden wir aber nicht durchführen können und wir müssen schauen, wie sich die Situation das Jahr über weiterentwickelt und welche Sachen wir dieses Jahr oder Anfang nächsten Jahres noch realisieren können. Die Situation ist nicht ideal, aber sie ist, wie sie ist. Ein großes Konzert war zum Beispiel in Planung, aber das wird dieses Jahr genauso wenig stattfinden können wie ein Jubiläumsspiel.

Zuerst setzten wir also kleine Veranstaltungen um, zum Beispiel einen Workshop zu Fangesängen: Wie entstehen sie, woher kommen sie, welche Wirkung haben sie und was sind die Besonderheiten in Leutzsch. Auch andere Geschichten sind in Planung: Lesungen, Vorträge und Demokratieworkshops für Nachwuchsspieler, Fans und Trainer. Auch um zu zeigen, dass unser Stadion ein demokratischer Raum ist. Als eines der Highlights ist eine Kunstausstellung geplant.

Anmerkung: Für den Abdruck in der LEIPZIGER ZEITUNG (LZ) musste das Interview aus Platzgründen etwas gekürzt werden. Daher wurde das Interview hier nun in voller Länge veröffentlicht.

Machtgefälle im Kopf. Die neue “Leipziger Zeitung” Nr. 80 ist da: Was zählt …

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