Die ganze Nation diskutierte wie wild über die auf einmal am Horizont wolkende Idee, es könnte in Deutschland demnächst „kostenlosen ÖPNV“ geben. Weil das so in einem Brief der Bundesregierung an den EU-Umweltkommissar gestanden hätte. Hatte es aber nicht. Mit fünf möglichen Projektstädten wollte man dazu erst mal reden. Aber die Begeisterung dort hält sich in Grenzen. Was den Bahnkunden-Verband nicht davon abhält, über kostenlose ÖPNV-Nutzung nachzudenken. Oder besser: das, was vorher passieren müsste.

Die „Zeit“ hatte sich die Mühe gemacht und die fünf im Brief als Modellkommunen genannten Städte befragt. „Kostenloser Nahverkehr vorerst in keiner Kommune“, hieß es am 26. Februar dann. Und: „In Deutschland wird vorerst keine Kommune testweise den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr einführen.“

Für Modellprojekte zur Verbesserung der Luftqualität ist man offen. Aber der Vorschlag, gleich in fünf Modellstädten einen kostenlosen ÖPNV anzubieten, war schlicht eine Sturzgeburt, kommentiert der Deutsche Bahnkunden-Verband den Vorgang. Und deren Vater hieß wohl „drohendes Fahrverbot“ und deren Mutter „Autolobby“.

Was eigentlich als eine interessante Idee erscheint, sei zum jetzigen Zeitpunkt völlig unausgegoren und nicht durchsetzbar, schätzt der DBV ein und fordert deshalb, dass eine preiswerte ÖPNV-Nutzung mit einer Änderung der gesamten Verkehrspolitik einhergehen muss. Wenn das Projekt ernst gemeint ist, müssten sich erst einmal alle Akteure – auch die Fahrgäste! – an einen Tisch setzen.

Denn gerade in den Großstädten und Ballungsregionen platzen Bahnen und Busse heute bereits aus allen Nähten. Plötzlich noch mehr Fahrgäste würde das gesamte System bestimmt zum Kollabieren bringen. Erneuerungs- und Ausbaubedarf werden seit Jahren von den Verkehrsunternehmen und Haushältern der Kommunen gegenüber den Bundesländern und der Bundesregierung eingefordert.

Doch erst im Rahmen der Fahrverbote bewegt sich endlich etwas, stellt der DBV fest.

Vielleicht ginge es ja auch eine Nummer kleiner. Müsse es wirklich eine kostenlose Nutzung von Bahn und Bus im Nahverkehr sein? Die Fahrgäste seien durchaus bereit, so die Erfahrung des DBV, für eine Leistung zu bezahlen. Wenn die Luft in kurzer Zeit in den Städten besser werden soll und mehr Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollen, bedürfe es vieler kleiner Schritte und Maßnahmen. Nur dann werde auf absehbare Zeit die Verkehrswende in der Praxis gelingen.

Als Beispiele nennt der DBV:

– Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch für den Schienenpersonenfernverkehr,

– Schaffung von Rahmenbedingungen, die einen tatsächlichen Wettbewerb im Schienenpersonenfernverkehr ermöglichen,

– Trassenkosten im Güter- und Personenverkehr auf Grundlage der Grenzkosten (das würde bedeuten, dass die „Schienenmaut“ um bis zu 75 % der heutigen Preise sinkt),

– Entrümpelung gesetzlicher Vorschriften, die den ÖPNV unverhältnismäßig verteuern (z. B. Finanzierung von Bahnübergängen, Anlage von Busspuren),

– Förderung des Straßenbahn- und Busverkehrs in den Städten durch Vorrangschaltungen und Sonderfahrstreifen,

– Einführung einer nutzerbezogenen Maut auch für Reisebusse im Fernverkehr,

– Ausbau der Mitnahmemöglichkeiten von Fahrrädern und Gepäck im Nah- und Fernverkehr,

– deutliche Erhöhung seitens des Bundes der Gelder für den Aus- und Neubau von Schienensystemen (Eisenbahn und Straßenbahn),

– Wiedereinführung der Zweckbindung für die Regionalisierungsmittel,

– Vorhaltung eines Grundangebotes an Bahn- und Busleistungen auch in ländlichen Räumen.

Nach Meinung des DBV kann die Diskussion um einen kostenlosen ÖPNV nur der Anfang sein. Zahllose konkrete Vorschläge für eine Stärkung des umweltfreundlichen Bahn- und Busverkehrs auf Bundes- und kommunaler Ebene liegen auf dem Tisch. Es müsse nur begonnen werden, darüber ernsthaft zu sprechen. Der DBV stehe gern dafür zur Verfügung.

Es wird also keine Testkommunen für den kostenlosen ÖPNV geben. Und ob die Bundesregierung ihren Vorstoß ernst meint, kann sie dadurch beweisen, dass sie den Kommunen mehr Geld zur Verfügung stellt, die ÖPNV-Angebote auszubauen. Nicht nur in Leipzig platzen die Straßenbahnen im Berufsverkehr als allen Nähten. Auch in Stuttgart, München, Frankfurt und Düsseldorf, wo Fahrverbote relativ bald drohen, genügen die ÖPNV-Systeme dem wachsenden Bedarf nicht.

Die Bürger – vor allem die Pendler – sind längst am Umsteigen auf Rad und Bahn, wo das möglich ist. Die Stau- und Dicke-Luft-Probleme in den Großstädten haben ihre Ursache nicht im Autofetischismus der Deutschen, sondern in der Not der Berufspendler, die ohne Pkw meist gar nicht zur Arbeit kommen. Das Thema ÖPNV haben die letzten Bundesregierungen gründlich vergeigt.

Dieses Grunddilemma muss sich lösen. Und die Idee „kostenloser ÖPNV“ löst es nun einmal nicht.

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Es gibt 4 Kommentare

@Frank
Mit der Mineralöl- und Kfz-Steuer sowie der Maut hat man nicht mal genug Einnahmen, um die bestehenden Autobahnen zu erhalten.Was will man da noch abzwacken für andere. Die Transportsteuer greift da, wo der Verkehr entsteht und ich sehe sie als dringlich an, wenn man nicht andere Steuerprivilegien wie die Pendlerpauschale, Diesel- und/oder Dienstwagenprivileg abschafft.

@Alexander
Transportsteuer ist ja mal nicht schlecht, dann können wir die Mineralölsteuer und die KFZ-Steuer und die LKW-Maut weiter schön für alles andere verwenden. Wir brauchen keine neue Steuer, wir brauchen das diese Einnahmequellen endlich für den ÖPNV mit eingesetzt werden.

@Christian
Ich kann dir nur zustimmen. Mich wundert auch, dass nun ausgerechnet die Organisationen, die sich für den ÖPNV einsetzen sich nun darin überschlagen, wer den kostenlosen ÖPNV am vehementesten ablehnt.
Was die Bundesregierung aber kurzfristig machen kann: Die Einführung einer Transportsteuer (versement transport) nach französischem Vorbild. Hierbei würde man die Verursacher des Verkehrs an der Finanzierung auch daran beteiligen. https://de.wikipedia.org/wiki/Versement_transport

Eine etwas merkwürdige Folgelogik hat sich bei diesem Thema entwickelt…

Die durch jahrelanges Nichtstun drohenden Fahrverbote haben die Bundesregierung zu einer Kurzschlussreaktion genötigt: Kostenloser ÖPNV.
-> Ursache: zu lasche Umweltschutzmaßnahmen der Städte sowie Grenzwertbetrug durch die PKW-Industrie.

Dann Zurückrudern: Nur Modellstädte. Nur zeitlich begrenzt. Hier würde ich als EU schon abwinken und Strafzahlungen ansetzen.
Nun reales Nachdenken: Kostenlos brächte völlige Überlastung. Kostenlos geht nicht.
Danke auch, denn die Regierung, die nun alle Fahrscheine bezahlen will, müsste zusätzlich erst einmal alle angestauten Investitionen bezahlen.
Danke auch, denn das war ja selbst mit einem blinden Auge absehbar.

Aber der Bahnkunde wäre ja bereit zu zahlen.
So? Hallo? Der Bahnkunde finanziert bereits jahrelang den Erhalt der Umwelt, während PKW-Fahrer – auch nichtsahnend – für eine Verschmutzung derer gesorgt haben. Während die Städte / Kommunen an einer Verbesserung der Umweltsituation sparten. Während die Regierung ihre Umweltziele mal so einfach nach unten korrigiert haben, weil die Energielobbypolitik das nicht hergab und die PKW-Industrie geschützt wurde!

Eine Reduzierung der ÖPNV-Preise muss fairerweise und unbedingt durch eine Mitfinanzierung des motorisierten Individualverkehrs und der Automobilindustrie erfolgen. Sonst bewegt sich gar nichts.

Aber ich ahne: haben sich alle erst einmal an die Fahrverbote gewöhnt, ist das Thema preiswerterer ÖPNV und der Ausbau dessen vom Tisch.

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