Das Wort Empörung fehlt tatsächlich noch im „Wörterbuch des besorgten Bürgers“, das von vier Leipziger Autoren im Ventil Verlag veröffentlicht wurde. Empört war postwendend der sächsische AfD-Vize Dr. Thomas Hartung. Aber eher über einen Artikel auf „bento“. Ob er das Wörterbuch selbst gelesen hat? Eher unwahrscheinlich. Dazu ist es zu deutlich in der Analyse dessen, was AfD & Co. derzeit in Deutschland treiben.

Es geht nicht um die AfD allein. Deswegen steht auch der „besorgte Bürger“ im Titel, dieses seltsame Wesen, das 2014/2015 unverhofft auch in der medialen Darstellung erschien, als wäre es ein neues, ernst zu nehmendes Phänomen, wirklich so eine Art Volksbewegung, wo doch nun diese besorgten Spaziergänger in Dresden auch noch mit dem Ruf auftragen, sie seien „das Volk“. Es geht also auch um die Tabubrüche von Pegida, Legida und wie die ganzen mehr oder weniger rechten „Volks“-Bewegungen sich alle nennen, um namhafte Rechthabenwoller wie Thilo Sarrazin, aber auch um Politiker wie Thomas de Maizière, Horst Seehofer, Wolfgang Schäuble oder Markus Ulbig, die entweder nicht mehr merken, wenn sie nationalistische und fremdenfeindliche Ressentiments bedienen – oder sie tun es mit Absicht.

Natürlich geht es um Tabubrüche. Sehr bewusste Tabubrüche. Die wirklichen Sorgen, die die scheinbar so besorgten Bürger haben, sind nicht greifbar, verschwinden hinter Eskalationen, Diffamierungen, falschen Behauptungen und der Konstruktion einer Weltsicht, die mit der Realität wenig zu tun hat.

Es ist schon bewundernswert, mit welcher Akribie sich die Autoren dieses kleinen Wörterbuchs darangemacht haben, die wichtigsten Reizworte zu untersuchen, die in den Äußerungen der scheinbaren neuen Volksbewegung immer wieder auftauchen. Die so neu nicht ist. Dazu genügt der Verweis auf die so verdienstvollen Leipziger „Mitte“-Studien, die gezeigt haben, wie weit rechtsradikale und auch faschistische Ressentiments bis weit in die gefühlte Mitte der Gesellschaft auch heute noch verbreitet sind. Sie traten nur Jahrzehnte lang nicht zu Tage, weil auch den Menschen, die so denken, jederzeit bewusst war, dass sie damit den Konsens unserer Gesellschaft verlassen. Rassismus, Chauvinismus, Menschenfeindlichkeit sind ja in einer demokratischen Gesellschaft nicht ohne Grund tabuisiert. Sie zerstören ihre Grundlagen. Eine funktionierende Demokratie gibt es nur im offenen und vor allem ehrlichen Dialog.

Davon bleibt aber nicht viel übrig, wenn man all diese Wortmeldungen auf zunehmend rechtsradikaleren Demonstrationen, in Internetforen, Büchern und einschlägigen Zeitschriften liest. Das tendiert nicht nur ganz zufällig in den Jargon der Nazis, das ist in weiten Teilen schon reine LTI, auch wenn die Autoren den Namen Viktor Klemperer erst einmal vermeiden. Sie haben auch keine neue „LTI“ geschrieben, auch wenn sie sehr akribisch untersuchen, welche Herkunft viele der nun wieder aufgeploppten Worte haben und wie vor allem ein ganzes Reich neuer Bedeutungen konstruiert wird. Scheinbar ganz zufällig, weil lauter aufgeregte Leute (viele alte weiße Männer darunter) die Vokabeln mit homophobem Denken aufladen.

Was ganz so zufällig nicht passiert. Etliche Vokabeln stammen tatsächlich aus dem Propagandaarsenal der heutigen Nazis. Schon seit Jahren versuchen sie ihre ziemlich eigenartige Weltsicht mit solchen Vokabeln in den öffentlichen Diskurs zu drücken – das reicht von Volkstod über Asylmissbrauch bis Überfremdung. Es ist schon erstaunlich, dass Leute, die solche Vokabeln benutzen, tatsächlich glauben, sie seien nur brave, besorgte Bürger und auch noch die anständige Mitte der Gesellschaft, gar das Volk. Womit man schon mal beim Kern wäre, denn wer so darauf insistiert, „das Volk“ sein zu wollen, der grenzt schon aus, erst recht, wenn er seine Verlautbarungen zur allein gültigen Wahrheit erklärt und dem ganzen Rest der Gesellschaft gar noch Verschwörung unterstellt oder eine Gleichschaltung. Was wohl für manchen Beobachter das Verwirrende war: Da verhalten sich ein paar Leute ganz eindeutig rechtsradikal – unterstellen aber ihren politischen Gegnern lauter faschistische Machenschaften.

Es entsteht ein geradezu verwirrendes Bild. Was von außen her kaum noch aufzulösen ist – auch weil die Leute in ihrer „besorgten“ Sprachkugel den gesellschaftlichen Diskurs verweigern. Bis in die Talkshows der deutschen Fernsehsender hinein, wo sie ihre Meinung verbreiten können, ohne dass es auch nur ansatzweise zu einem echten Diskurs kommt. Meinung steht scheinbar gegen Meinung. Tabubrüche werden ganz bewusst inszeniert. Man beschwört Mauern herbei, schwadroniert vom Schießbefehl an den Grenzen, schreit „Lügenpresse“ – zitiert sie aber genauso wie den verhassten Koran. Oft genug falsch, aus dem Zusammenhang gerissen, oft genug auch mit erfundenen Zitaten. Selbst George Orwells „1984“ wird geplündert, wenn man überhaupt noch das Original liest und nicht nur noch zitiert, was irgendjemand einmal über das Buch behauptet hat. Denn wenn man es gelesen hätte, hätte man auch gemerkt, wie sehr der Sprachgebrauch der neuen Rechten (die eben auch eifrig von den Vordenkern der Neuen Rechten mit Material gefüttert werden) dem entspricht, was Orwell als Newspeak beschreibt.

Die Umdeutung von Worten funktioniert, sie schafft einen in sich geschlossenen Kosmos. Was immer deutlicher wird, je tiefer man sich in die essayistischen Beschäftigungen der Autoren mit diesem Vokabular hineinliest. Man taucht damit in eine Denkwelt ein, die sich immer mehr vom gesellschaftlichen Diskurs abschottet, sich auf alte rassistische und nationalistische Interpretationsmuster zurückzieht und so tut, als sei da draußen ein organisierter Angriff auf die heile deutsche Familienwelt von anno 1950 im Gang. Die so heil nicht war, denn hinter der Wirtschaftswunderfassade gärte der ganze unverdaute Emotionsbrei des Nazireiches ja weiter. Deswegen schwelt in dieser Welt bis heute auch der Hass auf die Achtundsechziger, die diesen braunen Mief seinerzeit öffentlich machten und die biedere Republik dazu brachten, sich mit diesem braunen Erbe überhaupt einmal auseinanderzusetzen.

Was Teile der Gesellschaft nur sehr widerwillig oder gar nicht taten. Die reagieren heute wieder in der alten Weise, verstecken sich aber gern und bezeichnen ihre alten Ansichten als Tabubruch. Sie tun so, als ginge es darum, Dinge mal sagen zu dürfen – und gleichzeitig tut man so, als herrsche ein Meinungsdiktat und man dürfe das gar nicht. Die inszenierte Opferrolle gehört dazu: Man provoziert, relativiert, will es aber hinterher gar nicht so gemeint haben.

Das Schema wird ziemlich deutlich: Der Tabubruch ist sehr bewusst inszeniert. Denn damit zwingt man der öffentlichen Wahrnehmung die eigene Weltsicht auf, zwingt zu Gegenreaktionen. Was auch nicht neu ist. Auch schon ältere Politiker und Intellektuelle von der rechten Sorte haben gern mit Nazisprech provoziert – und hinterher so getan, als hätten sie es nicht so gemeint, wären nur ein bisschen gedankenabwesend gewesen. Der Unterschied ist: Das passiert heute nicht mehr nur punktuell, sondern in breiter und sehr unverschämter Weise.

Das Wort Scham kommt im Lexikon übrigens auch vor. Und anfangs liest sich die Analyse tatsächlich spielerisch, ironisch, voller guter Laune, das knickrige Vokabular der rechten Rechthaber zu demontieren.

Aber irgendwann merkt man, dass viele Worte nicht ganz zufällig sexualisiert sind – egal, ob es um Überfremdung, Genderwahn oder Frühsexualisierung geht. Augenscheinlich drängt sich in all diese Klagen über die scheinbar so zeugungsfreudigen Südländer und die scheinbar vom Genderwahn befallene Gesellschaft eine echte, allgegenwärtige sexuelle Frustration bei den Sprechern. Man scheint regelrecht fixiert auf Themen wie (Massen-)Vergewaltigung, Pädophilie oder die Gefahr, zwangsweise verschwult zu werden. Und das Bild vom starken weißen Mann erscheint wie ein Versuch, ein letztes bisschen Stärke zu zeigen, weil man sich als ebensolcher regelrecht demontiert fühlt durch all das Multikulti, den Feminismus und all die anderen Zumutungen einer Welt, die sich fortwährend verändert.

Schuld sind immer die Anderen. Zu Recht stellen die Autoren immer wieder fest, dass dieses Gebarme eigentlich peinlich ist: Man geriert sich als starker weißer Mann – und füllt alle Kanäle mit weinerlichem Gewimmer, sorgt sich gar um ein imaginiertes christliches Abendland, ohne eine Ahnung zu haben, was das eigentlich ist – außer dieses trübe abgesperrte Konstrukt, in dem die alten weißen Männer sich hinter schützenden Mauern wieder vor den Zumutungen einer unberechenbar komplizierten Welt verstecken können. Besorgte Burgbewohner eben, die sich kraft ihrer Wassersuppe zum „Volk“ erklären, die nazistische Volksgemeinschaft aber meinen – und damit einen zutiefst rassistischen Begriff von Volk, Nation und Heimat vertreten. Alle drei Vokabeln sind übrigens auch historisch sehr suspekt. Was allen Lesern, die sich auch gern mit der Geschichte und den Assoziationen solcher nur auf den ersten Blick scheinbar harmlosen Begriffe beschäftigen, beim Lesen sicher Spaß machen wird.

Man merkt schon, wie leicht man auf solche blumigen Vokabeln hereinfällt und dabei vergisst, wie viel Ignoranz und Abgrenzung sie in sich tragen.

Und man ahnt auch, warum sich heimattümelnde konservative Politiker in Sachsen und Deutschland so schwertun, sich von diesen bedeutungsschwangeren Wortwelten abzugrenzen – und damit vom latenten Faschismus, der in ihnen steckt, dieser ganzen falschen Romantisierung von Blut und Boden, die der Konstruktion von Volk, Nation oder auch Deutschsein zugrunde liegt.

In einem hinten im Buch abgedruckten Gespräch gehen Georg Seeßlen und Klaus Theweleit dann auch noch darauf ein, was mit unserer Gesellschaft passiert, wenn wir diese systematischen Tabubrüche akzeptieren und gar im öffentlichen Diskurs dominieren lassen. Seeßlen spricht von einem „kontrafaktischen Brüllen“, was uns daran erinnert, dass ein paar Narren gerade das Unsinn-Wort „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gekürt haben. Postfaktisch assoziiert, dass wir in einer Zeit leben, in der Fakten nicht mehr gelten und nur noch Meinungen und Emotionen aufeinanderprallen. Was für Dauerfernsehgucker so aussehen mag.

Aber Seeßlen spricht den eigentlichen Vorgang an. Denn das Auftrumpfen des rechten Sprachgebrauchs ist ein Auftrumpfen gegen alle Fakten. Selbst dann, wenn sich ein Thilo Sarrazin hinsetzt und behauptet, er habe die Fakten. In der Regel erweisen sich seine Fakten bei genauem Nachprüfen allesamt als falsch. Die Leute, die sich die Mühe machen, seine Behauptungen an den verfügbaren Daten zu prüfen, landen in einem Reich der falschen Behauptungen, Übertreibungen, Fehlinterpretationen, der sturen Ignoranz. Das ist nicht postfaktisch, sondern kontrafaktisch.

Und so geht es mit allen Begrifflichkeiten in diesem Sprachfeld der „besorgten Bürger“, die so besorgt gar nicht sind, die aber mit ihren immer neu inszenierten Provokationen bislang den gesellschaftlichen Diskurs vor sich hertreiben. Die Bestätigung holen sich die Tabubrecher in ihren geschlossenen Welten, wo sie mit Gleichgesinnten allein sind und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen für ihre derben Sprüche. Aber das ist dann schon ein Thema für Soziologen, die sich damit beschäftigen, wie solche Gesinnungsgemeinschaften funktionieren und wie sich Charaktere verändern und verbiegen, um Teil der Gemeinschaft sein zu dürfen. Da wird es dann ganz und gar „heimelig“.

Die Autoren zeigen zwar ihre ganze Lust, den Unsinn dieser Sprachwelt mit jedem einzelnen Wort auseinanderzunehmen. Aber man spürt auch, in was für einer verqueren Welt diese Leute zu Hause sind, wie sie sich ihre Ängste regelrecht selbst konstruieren. Und man spürt, wie eng und traurig diese Welt ist, wie viel Hilflosigkeit da herrscht und wie viel Angst vor den Anderen, auch wenn die Angst scheinbar nur auf Muslime und Flüchtlinge projiziert wird. Angst ist immer missbrauchbar. Und vor allem geht eins verloren: der menschliche Blick auf die Anderen, die „Fremden“. Hinter der hörbaren Häme wird die tiefsitzende Verunsicherung spürbar.

Deswegen sind die einzelnen Beiträge zu rund 150 Stichworten (und das sind noch längst nicht alle) auch nicht immer lustig zu lesen. Denn wer all diese Worte so gebraucht, der tut es entweder im Bewusstsein, unsere Gesellschaft und ihre Freiheiten gründlich zerstören zu wollen (weswegen die scheinbaren Grenzübertritte von Frauke Petri und Björn Höcke ganz und gar nicht harmlos sind), oder derjenige steckt schon tief in seiner eigenen Angst, sieht die Welt voller Verschwörungen und unheimlicher, unfassbarer Mächte, und lässt sich leicht von jeder Panik anstecken. Beides Gründe, diesem Vokabular der falschen Besorgtheit nicht die Deutungshoheit zu überlassen. Denn zum demokratischen Diskurs auf Augenhöhe ist nichts davon geeignet. Den unterläuft dieses Vokabular – nicht zufällig, sondern ganz gezielt.

Robert Feustel, Nancy Grochol, Tobias Prüwer, Franziska Reif (Herausgeber) Wörterbuch des besorgten Bürgers, Ventil Verlag, Mainz 2016, 14 Euro.

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