Es ist eigentlich das Lebensthema von Wolfgang Hocquél: die riesige Denkmalfülle der Gründerzeit in Leipzig, die heute Scharen von Städtereisenden gerade deshalb nach Leipzig lockt, weil sie hier noch ganze Stadtquartiere finden, in denen die Schönheit des Städtebaus im späten 19. Jahrhundert zu erleben ist. Und das, obwohl die Gründerzeit bei Architekten und Denkmalpflegern jahrzehntelang regelrecht verpönt und verachtet war.

Die Diskussion aber begann in den 1960er Jahren – zuallererst im Westen, wo man gleich nach dem Krieg schon darangegangen war, die zerbombten Städte nicht nur wieder aufzubauen, sondern sie auch zu modernisieren – mit riesigen Straßentrassen, die sich durch das Stadtgebiet frästen, gesichtslosen Einkaufstempeln und in Windeseile hochgezogenen Wohnquartieren, die bis heute die ganze Kälte und Gesichtslosigkeit des industriellen Bauens ausstrahlen.

Schon damals erschraken die ersten Architekten und Städteplaner. Denn dieser Umbau zur autogerechten Stadt hatte fatale Folgen – von verödenden Innenstädten bis hin zu einer Aufenthaltsfeindlichkeit, die die Menschen regelrecht von den Straßen und Plätzen vertrieb.

Und das Verblüffende: Das deckte sich mit dem Gefühl, das Menschen haben, wenn sie durch solche autogerechten (lauten, windigen und ungemütlichen) Städte laufen – und wenn sie das mit dem Gang durch restaurierte alte Städte vergleichen, egal, ob mittelalterliche gewachsene Städte oder solche, die sich (wie Brüssel oder Wiesbaden) ein Stück der Baukultur aus der Gründerzeit bewahrt haben.

Woran das liegt, das wurde auch den engagierten Denkmalschützern erst nach und nach klar. Bis ins 21. Jahrhundert hinein dominierte nämlich die in den 1920er Jahren von Le Corbusier formulierte Theorie des modernen Bauens, niedergeschrieben in seinen „Fünf Punkten zu einer neuen Architektur“.

Der Baukörper löste sich dabei aus dem Stadt- und Straßengefüge, wurde zum Solitär, der Straßenraum riss auf. Das Ergebnis: riesige leere Räume, durch die der Wind pfeift oder der Autoverkehr drängt, während Menschen sich der Baukastenarchitektur gegenüber klein fühlen, wie eingekastelt und aussortiert. Der Normmensch neben dem Normhaus.

In den 1970er Jahren freilich wurde sich noch heftig gestritten – ging es um Eklektizismus, überbordenden Schnickschnack, als falsch empfundene Stilzitate. Gerade Architekten wehrten sich dagegen, die als Historismus bezeichnete Zeitepoche zwischen 1871 und 1914 als eigenständige Architekturepoche zu begreifen. Oder gar als bewahrenswert. Das war in Ost wie West nicht anders.

Nur dass im Osten vieles stehen blieb, weil das Geld zum Abriss und Neubau fehlte. Für Leipzig ein riesiges Glück, so heruntergekommen wie die Stadt 1990 auch war. Denn gerade im Waldstraßenviertel war in den nächsten Jahren schnell zu beobachten, wie sich die heruntergekommenen Bürgerhäuser wieder in alter Pracht zeigten, die Hausbesitzer selbst die Details liebevoll restaurierten. Heute ist das Waldstraßenviertel in seinem Bestand deutschlandweit einzigartig.

Aber es zeigt noch etwas, was auch Wolfgang Hocquél lange Zeit so nicht sah, auch wenn die Denkmalschützer früh begannen, auch ganze Quartiere als Flächendenkmale unter Schutz zu stellen. Aber das bezog sich zuallererst auf den geschlossenen Baubestand, nicht auf die besonderen Qualitäten eines solchen Quartiers, Qualitäten, die aus einer irgendwie bewohnbaren Stadt erst eine schöne Stadt machen.

Das Buch, das der viele Jahre als Denkmalschützer tätige Kunstwissenschaftler Wolfgang Hocquél zusammen mit dem Kunsthistoriker Richard Hüttel (lange Jahre als Leiter der Graphischen Sammlung im Museum der bildenden Künste tätig) jetzt geschrieben hat, rückt erstmals in dieser Deutlichkeit die „schöne Stadt“ in den Mittelpunkt – und damit auch Stadtplaner der Gründerzeit wie Hans Strobel, denen sehr bewusst war, dass Städte auch Lebens- und Erlebnisräume sind.

Sie leben von Abwechslung, von Aufenthaltsqualitäten, menschlichen Maßstäben. Und Leipzig hatte auch deshalb Glück, weil ab den 1870er Jahren ausgebildete Architekten Einfluss hatten auf die Planung der wachsenden Stadt, die binnen eines halben Jahrhunderts ihre Bevölkerungszahl verdoppelte. Dabei entstanden mehrere Stadtquartiere, in denen ganz genauso konsequent auch das Stadtbild mitgeplant wurde wie im Waldstraßenviertel. Alleen und Grünflächen wurden genauso mitgeplant wie die Stadtplätze um die Kirchen. Und darüber wurden strenge Bauvorschriften gelegt, die den Bauherren in klaren metrischen Grenzen viel Gestaltungsfreiheit ließen. Die sie auch nutzten.

Die Stadt als Bühne, der Begriff fällt im Buch auch – er wird zum Beispiel am Nordplatz durchexerziert, einem der typischsten Stadtplätze in diesen neu entstehenden Quartieren. Das ist eine Stelle, an der man sich eigentlich mehr gewünscht hätte. Denn die Sprungrampe ist aufgebaut. Und eigentlich ist klar, worüber Hocquél und Hüttel jetzt schreiben müssten: Wer wie und wann dafür sorgte, dass die Stadt tatsächlich als Bühne gebaut wurde, ein Ort, in dem sich Menschen gern aufhalten und öffentlichen Raum als Lebensraum wahrnehmen.

Es deutet sich nur erst an.

Was freilich zu verständlich ist.

Denn es gibt noch viel mehr zu rehabilitieren. Das merkt man schnell. Denn Leute wie Licht, Scharenberg, Pommer, Dybwad, Weidenbach, Rossbach und wie sie alle hießen, sind heute noch ein Begriff, werden auch immer wieder in neuen Veröffentlichungen zur Leipziger Architektur gewürdigt. Aber das macht den Lesern diese Veröffentlichungen noch längst nicht klar, welchen Einfluss gerade in der Gründerzeit hochkarätige und vielseitig ausgebildete Architekten auf das Leipziger Stadtbild nahmen, nicht nur auf die einzelnen Gebäude, die sie meist mit genialem Blick so gestalteten, dass sie im Stadtraum ihre ganze Wirkung bis heute entfalten. Sondern auch auf das Straßenbild. Teilweise saßen sie direkt – wie Hugo Licht – in der Stadtbaudirektion, entwarfen Visionen für ganze Quartiere und Straßenzüge.

Einige bezogen sich auch direkt auf den österreichischen Architekten und Stadtplaner Camillo Sitte. Er „wandte sich ab von der pragmatischen, der von hygienischen, verkehrlichen und ökonomischen Zwecken beherrschten Stadtplanung seiner Zeit“, schreibt Wikipedia. Also genau von den platten Stadtbauregeln, die nach dem 2. Weltkrieg wieder zur Anwendung kamen und so viele ungemütliche, technisch einfallslose Städte hervorgebracht haben. Obwohl man doch eigentlich wusste, dass Menschen zu ihrer Stadt nicht nur pragmatische Beziehungen haben, sondern sie auch als Lebens- und Identifikationsort brauchen.

Und dass in Leipzig so viel Verständnis für eine Architektur im menschlichen Format vorhanden war, hat eine Menge mit Stadtbaudirektor Johann Carl Friedrich Dauthe und der von ihm gegründeten Baugewerkenschule (dem Nukleus der heutigen HTWK) zu tun, wo nicht nur kompetente Baumeister ausgebildet wurden, sondern auch ein tiefes Verständnis von der Einheit von guter Architektur und Beherrschung aller Bautechniken vermittelt wurde.

Theorie und Praxis in einer Person. Also in Leipzigs Fall: in der Person mehrerer begabter Architekten, die eben nicht nur die markanten Gebäude schufen, die heute noch immer sinnbildlich für Leipzig stehen (vom Hauptbahnhof bis zum Völkerschlachtdenkmal, vom Neuen Rathaus bis zum Bundesverwaltungsgericht), sie schufen auch all die vielfältigen und trotzdem wie aus einem Guss wirkenden Wohnviertel des Bürgertums, machten den Augustusplatz zum Kleinod und gaben selbst den Wohnquartieren der Arbeiter und Angestellten ein Flair, das noch heute davon erzählt, dass diese Architekten der Reichen auch den „einfachen Leuten“ ein Recht auf frische Luft, Grün und gut gestalteten Wohnraum zugestanden – die Meyerschen Siedlungen stehen exemplarisch dafür.

Zu Ende des Buches hin gibt es ein regelrechtes Plädoyer für den „Historismus als Architekturepoche“. Da merkt man, dass auch der eine Kampf  – die Architekturleistungen dieser knapp 50 Jahre endlich auch gleichauf zu würdigen mit all den scheinbar so klar definierten Architekturstilen der Vorgängerepochen – noch nicht entschieden ist. Denn noch immer herrscht weitverbreitet das Diktum Le Corbusiers.

Und Hocquél hat nur zu recht, wenn er die ungefügen Architekturleistungen vieler Neubauten der letzteren Jahre anprangert, denen es nicht mal im Ansatz gelingt, stadträumliche Qualitäten zu entwickeln, die viel zu groß, viel zu sehr auf Nutzeffekt getrimmt mitten in alten Strukturen stehen und sich einfach nicht einfügen.

Manche sind sogar so aufdringlich, dass sie den Platz regelrecht mit ihren aggressiv auf den Kubus getrimmten Baumassen beherrschen. Was auch davon erzählt, wie viel Einfluss die Stadtverwaltung in den vergangenen 30 Jahren verloren hat auf Baugestaltung und architektonische Qualität. Von den neu geplanten Wohnquartieren muss man da gar nicht erst reden – sie werden eine Zumutung, weil Rendite über Schönheit geht, Kostendruck jedes menschliche Maß unmöglich macht.

Die beiden Autoren erzählen auch, wie es ausgerechnet die hohe architektonische Kompetenz der Baumeister Ende des 19. Jahrhunderts war, die auch dem Denkmalschutz erstmals zum Durchbruch verhalf – und damit auch dem Bewusstsein der Stadtmenschen von der Schönheit und Unersetzlichkeit einiger wichtiger Bauwerke der Vergangenheit. Da taucht dann zwar immer wieder das Wehklagen über den Abbruch der alten Thomasschule (der Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs) auf, aber im Ensemble mit der Thomaskirche und dem konkreten Stadtraum betrachtet wird deutlich, dass der konkrete Stadtraum am Dittrichring massiv gewonnen hat.

Hocquél und Hüttel lassen auch ihre Kritik am heutigen völlig desorientierten Denken über Denkmäler nicht weg, wissend darum, dass Denkmäler für jeden Betrachter eine Geschichte erzählen müssen, plastisch, greifbar, eindeutig. Sonst funktionieren sie nicht. Sie erwähnen zwar nur Leipzigs kläglichen Umgang mit dem Luther-Melanchthon-Denkmal.

Aber die Farce um das Freiheits- und Einheitsdenkmal gehört hier auch mit hin. Denn die Besucher der Ausstellung mit den Wettbewerbsergebnissen haben genau das immer wieder kritisiert: Die Gestaltlosigkeit machte das Denkmal zum Abstraktum, das erst eine Erklärungstafel braucht, damit man weiß, worum es geht. Das ist schon regelrecht betrachterverachtend.

Und es negiert die Erfahrungen der „schönen Stadt“. Denn dass die Gründerzeitbauten so mit Kunst und Figurenschmuck beladen sind, macht sie auch zu Erzählungen. Man kann diese Gebäude lesen. Die Stadt wird zu einem großen Geschichtenbuch – das Gegenteil der Le Corbusierschen Leere, Abstraktheit und Quadratur.

In Leipzig hat sich dieses Denken in Stadtstrukturen noch bewahrt – bis hin in die Passagen, die geradezu zum Aufenthalt einladen. Im Interview mit dem ehemaligen Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, Volker Rodekamp, beziehen die beiden Autoren noch einmal persönlich Stellung zum „unschätzbar wertvollen historischen Kapital“, das Leipzig besitzt und das es heute zum Pilgerort selbst für Menschen macht, die von Gründerzeit gar nichts wissen, schöne Städte aber genießen und wertzuschätzen wissen.

Aber der nächste Schritt steckt eigentlich als Keim schon im Buch: Die Gründerzeit auch als eine Zeit im Städtebau wiederzuentdecken, in der Stadtplanung und Architektur eine sehr komplexe Einheit eingingen. Eine, die Menschen, die darin spazieren, noch heute das beruhigende und wohltuende Gefühl gibt, dass sich eine Stadt so anfühlen muss. Das hat mit Atmosphäre zu tun, mit Harmonie, Offenheit und einer Architektur, die auch den Außenstehenden anspricht – und nicht mit gekalkten weißen Wänden so vor den Kopf stößt, dass er nur noch eiligst weitergehen kann, weil hier kein Bleiben ist.

So gesehen ist das Buch ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf eine andere Stadtplanung, die sich nicht davor scheute, die Bühne Stadt auch für ihre Nutzer zu bauen.

Der Widerspruch wird deutlicher, wenn man sich alle die kubischen Entwürfe für die geplanten neuen Viertel anschaut. Da will man auch künftig nicht wohnen müssen, selbst wenn man sich die unverschämten Mieten leisten kann. Aber es fällt im Buch ja auch immer wieder der Begriff vom Bildungsbürgertum (das sich ja bekanntlich das Gewandhaus genauso „gönnte“ wie das Bildermuseum und das Neue Schauspiel). Das fehlt heute auf beklemmende Weise, ist wie vom Erdboden verschluckt. Und bleibt selbst dann stumm, wenn die neuesten Bausünden als Wunderlösung angepriesen werden.

Wolfgang Hocquél und Richard Hüttel sind zwar beide nicht mehr die Jüngsten. Aber ihre Botschaft dürfte noch Generationen beschäftigen, die allesamt den krassen Widerspruch erleben zwischen dem, was in der Gründerzeit gebaut wurde, und was heute als modern gilt, weil es „quadratisch und praktisch“ gedacht ist. Nur nicht menschenfreundlich.

Wolfgang Hóquel; Richard Hüttel Der Traum von einer schönen Stadt, Faber & Faber, Leipzig 2020, 30 Euro.

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