Da hat der Doktor Martin Luther aber etwas angerichtet, als er vor 500 Jahren seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel auf eine Papierrolle schrieb und in die Welt hinaus sandte. Was ja der Grund ist, warum die evangelische Kirche in diesem Jahr versucht, irgendwie 500 Jahre Reformation zu feiern. Vollgestopft mit Ereignissen, die selbst die Luther-Pilger überfordern. Auch Leipzig bekommt noch was zu hören am 2. September.

Anlässlich des Reformationsjubiläums füllt am 2. September eine 42 Meter lange, von 95 Stühlen umrahmte Tafel den Marktplatz in Leipzig. Gleiches wird ab dem 5. September in Erfurt und ab dem 15. September in Wittenberg der Fall sein. Die gewaltige Installation ist Teil des transmedialen Kunstwerkes „Abendmahl – ‚abnehmender Schrecken | zunehmende Liebe‘“ des Komponisten und Medienkünstlers Thomas Christoph Heyde.

Materielle Grundlage der intermedialen Konzertinstallation „Abendmahl“ ist eine gewaltige Tafel von 42 Metern Länge. Umrahmt von 95 Holzstühlen, die aus über 10 Tonnen Holz, Acrylglas, Stahl, Teerfarbe und über 100.000 weißen Federn gefertigt wurden, verweist das Gesamtobjekt in seiner ebenso eindrücklichen wie eigenwilligen Erscheinung auch auf die historischen Folgen der Reformation.

Die Tafel tritt als Gesamtobjekt zentral auf dem Marktplatz in Erscheinung und ist sowohl vor als auch nach der konzertanten Aufführung lebendiger Nutz- und Begegnungsort für Besucher/innen und Bewohner/innen der drei Städte.

Denn das aufwendige Konzert werden die Besucher der drei Marktplätze jeweils nur ein Mal erleben. Ansonsten soll dieser riesige Tisch an Luthers Tischreden erinnern, einladen zum Hinsetzen und zum Gespräch. In Leipzig steht der Tisch zum Beispiel vom 2. bis 4. September.

Die andere und weitaus spektakulärere Bestimmung des Gesamtobjekts wird allerdings erst mit der intermedialen Konzertinstallation sichtbar, die in Leipzig am Samstag, 2. September, zu erleben sein wird, in Erfurt dann am folgenden Samstag, 9. September, und in Wittenberg am 16. September. Hierfür nehmen 95 SängerInnen an der Tafel Platz und bringen eine ebenso eindringliche wie spektakuläre rund 35-minütige transmediale Komposition des Komponisten und Medienkünstlers Thomas Christoph Heyde zur Uraufführung.

Die „Abendmahl“-Installation am 2. September auf dem Leipziger Markt. Foto: Lumalenscape & FZML
Die „Abendmahl“-Installation am 2. September auf dem Leipziger Markt. Foto: Lumalenscape & FZML

Thomas Christoph Heydes „Abendmahl“ ist zweigeteilt. Im ersten Teil löst Heyde die 95 Thesen von Luther in 430 Gesten auf, sie werden also mehr versinnbildlicht denn vertont. Was unter anderem damit zu tun hat, dass mehr als die Hälfte der Thesen mit unserer Zeit gar nichts mehr zu tun hat. Heyde nutzt übrigens das lateinische Original. Die meisten Zuhörer dürften also mit dem Text erst recht nichts anfangen können. Erst die Gesten schaffen eine Art Interpretation, die durchaus auch missverständlich sein darf.

Womit Heyde zumindest gelingt, die Abstraktion dieses Lutherschen Thesenanschlags deutlich zu machen, in dem es um eine Einladung zu einer wissenschaftlichen Disputation ging. Eine Einladung, die ja bekanntlich erst angenommen wurde, als der Inhalt der Thesen schon zur Frontenbildung beigetragen hatte.

Als dann 1519 in Leipzig tatsächlich eine Disputation zustande kam, hatte das Ganze längst den universitären Rahmen verlassen. Das erinnert schon an unsere heutige Zeit, in der über Inhalte und berechtigte Kritik nicht mehr zielführend diskutiert wird, sondern bis aufs Messer gestritten – die Talkshows im TV sind das beste Beispiel für diese Emotionalisierung der Debatte, die immer mehr ohne Inhalte auskommt.

Im zweiten Teil verarbeitet Heyde seinen Text mit dem Titel „Vaterunser | Muttermein“, in den das berühmte „Vaterunser“ fast unmerklich hineincodiert ist. Zudem bezieht er sich auch musikalisch auf einen überlieferten „Vaterunser“-Choral von Martin Luther, den dieser komponiert, schließlich jedoch wieder verworfen hat.

Vier motorisierte Kameras, die computergesteuert auf dem Tisch entlangfahren, sind ebenso Teil der ausgefeilten Komposition. Ihr Bild gibt 430 unterschiedliche Gesten der Mitwirkenden wieder und wird im Hochformat auf vier über der Tafel hängenden Leinwänden projiziert.

Zielgerichtet steuern die Kameras jeweils die Sängerin, den Sänger an, die oder der gerade eine These illustriert – ihr Bild erscheint auf den großen Bildwänden.

Das Ganze passiert ohne Dirigent. Der Zuschauer sieht also ein regelrechtes Programm vor sich ablaufen, in dem die 95 Thesen ein Eigenleben entfalten, ohne dass recht verständlich wird, welchen Code sie eigentlich übermitteln.

Mit ein wenig Distanz betrachtet also auch ein künstlerischer Blick auf ein Phänomen, von dem alle Welt weiß – aber worum es eigentlich geht, ist für den normalen Erdenmenschen unverständlich – ein fremder Code eben, lateinischer Text. Man schaut einem Streitgespräch zu, das in einer fremden Sprache stattfindet, ahnt, dass man gemeint sein könnte.

Aber man versteht kein Wort. Es wirkt faszinierend, befremdlich und hochartifiziell.

Getragen wird das Projekt vom Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig. Die Produktion liegt in den Händen der Leipziger Produktionsfirma Lumalenscape. Der 1973 in Leipzig geborene Thomas Christoph Heyde ist nicht nur Komponist, sondern auch geschäftsführender künstlerischer Leiter des Forums Zeitgenössischer Musik Leipzig.

Neun Solisten im Projekt kommen vom Auditivvokal Dresden, der Chor des Meininger Staatstheaters nimmt mit 33 Sängerinnen und Sängern teil. Dazu kommt noch mit 53 Sängerinnen und Sängern das extra gegründete Abendmahl-Chor & Sprech-Ensemble mit Leipziger Mitgliedern.

Das Leipziger Konzert auf dem Markplatz beginnt am 2. September um 20:15 Uhr.

Der Clip zum „Abendmahl“

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