LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus der Ausgabe 44Auf den ersten Blick erscheint Rebecca Jäger wie eine gewöhnliche Frau mittleren Lebensalters. Die 52-Jährige trägt bei unserer ersten Begegnung eine trendige Jeansjacke, ein dunkelblaues Sommerkleid mit Blümchenmuster, schwarze Leggins und Sandalen. Unter dem Kleid sind Brüste zu erkennen, ihre Zehennägel hat die 52-Jährige schwarz (nachtblau) lackiert. Im Gesicht ist die Journalistin dezent geschminkt, am linken Mittelfinger trägt sie einen breiten Ring, in den Ohren glitzern silberne Ohrstecker, an ihrem Hals baumelt ein kleiner Davidstern. Erst bei näherem Hinsehen lässt ihr Gesicht maskuline Züge erkennen. Mit einem schwarzen Kopftuch verdeckt die Connewitzerin lichte Stellen auf dem Haupt.

Jägers Krankengeschichte liest sich wie ein langer Leidensweg. Mehrfach begab sie sich in psychologische Behandlung. Noch immer nimmt Jäger Medikamente. Turbulent verlief auch ihr Beziehungsleben bisher. „Ich war zwei Mal verheiratet“, erzählt Jäger. Aus einer Ehe ging eine Tochter hervor. Erst spät, mit 44 Jahren, erkannte sie, sich innerlich mehr als Frau denn als Mann zu führen. „Dass manche Transfrauen erst im fortgeschrittenen Lebensalter ihr Coming-Out haben, kommt gar nicht so selten vor“, berichtet Kurt Seikowski. Der habilitierte Psychologe forscht seit Mitte der 80er Jahre an der Uni Leipzig zu Geschlechtsidentitätsstörungen. „Manche Mann-zu-Frau-Patienten verdrängen in der Pubertät ihre Transsexualität, gründen Familien, bekommen Kinder.“

Häufig spiele dabei die Scham eine Rolle, als äußerlich erkennbarer Mann in der Öffentlichkeit in Frauenkleidern herumzulaufen.

Jägers entscheidender Schritt

Medizinische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung sind erst möglich, wenn sich der Betroffene über einen längeren Zeitraum im neuen Geschlecht ausprobiert hat. Verläuft der sogenannte „Alltagstest“ positiv, verschreibt ein Arzt dem Patienten typischerweise eine Hormontherapie. Die Verordnung setzt in aller Regel das positive Gutachten eines Psychologen oder Psychiaters voraus. Rebecca Jäger nimmt seit eineinhalb Jahren täglich weibliche Hormone ein. Und wird die Therapie bis an ihr Lebensende fortsetzen müssen. Als nächste Schritte plant die Leipzigerin eine Gesichtshaarepilation und eine geschlechtsangleichende Operation.

Jäger hat sich deshalb 15.000 Euro vom Munde abgespart, um den Eingriff bei einem renommierten Chirurgen in Thailand vornehmen zu lassen. „Ich habe auf vieles in den letzten Monaten verzichtet“, schildert die Transfrau. Je länger man mit ihr über den Umwandlungsprozess spricht, desto entspannter und glücklicher wirkt Jäger. Freilich ist der Wandel des Geschlechts kein einfacher Gang. Das innere Coming-Out, das Sich-eingestehen, im „falschen“ Körper geboren zu sein, fällt vielen Betroffenen schwer. Das Selbstouting gegenüber Familie, Freunden und Kollegen erscheint dagegen als Mammutaufgabe, die viel Überwindung erfordert.

„Als ich das erste Mal als Frau zur Arbeit gegangen bin, hatte ich den Schiss meines Lebens“ erinnert sich die Journalistin eines Leipziger Medienunternehmens. „Ich habe in der (Haupt)Redaktionssitzung meine einstudierten Sätze heruntergerattert. Ich lebe ab jetzt als Frau. Bitte nennt mich Rebecca. Bitte habt Verständnis für meine Situation. Danach habe ich nur noch Knochen auf Holz gehört. Ein überwältigendes Erlebnis.“ Positive Erfahrungen machte Jäger auch in ihrem sozialen Umfeld. Familie und Freunde haben sie längst als Frau akzeptiert.

Vor dem Hintergrund des überschwänglich positiven Feedbacks hielt Jäger die offizielle Änderung von Vornamen und Personenstand für das, was es eigentlich sein sollte: Eine Formalie. Der zuständige Leipziger Amtsrichter ist offensichtlich anderer Meinung. Das Transsexuellengesetz bestimmt in Paragraph 4, das Gericht habe den Antragsteller persönlich anzuhören. Und das Gericht dürfe einem Antrag nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus hinreichend vertraut sind.

Wenn ein Richter den Gutachter wählt…

In Leipzig wandern alle Anträge auf Vornamens- und Personenstandsänderung seit Januar 2016 über den Schreibtisch von Jens Lieckfeldt. Der Familienrichter ordnete im Fall Jäger die Einholung von drei Gutachten an. Man könnte auf den Gedanken kommen, der promovierte Jurist wolle auf Nummer sicher gehen. Für sich genommen schon ein abwegiger Gedanke, ist doch die juristische Anpassung von Vorname und Personenstand an das konträre Geschlecht – im Gegensatz zu den medizinischen Eingriffen – keinesfalls irreversibel. Problematisch ist allerdings, dass Jäger Besserverdienerin ist.

Die studierte Philosophin erhält keine Prozesskostenhilfe, weshalb sie für die gesamten Verfahrenskosten aufzukommen hat. In Mitteldeutschland kostet ein Gutachten im Regelfall zwischen 550 und 700 Euro. Der Sachverständige kassiert 100 Euro je Stunde. Die Preisschwankungen resultieren aus unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und der Tatsache, dass kein Fall dem anderen gleicht.

In Jägers Fall hat die dritte Gutachterin – eine Leipziger Psychotherapeutin, die in Fachkreisen bisher kaum durch Arbeiten auf dem Gebiet von Geschlechtsidentitätsstörungen von sich Reden gemacht hat – rund 2.000 Euro veranschlagt.

Trotz zweier positiver Gutachten ist sich das Amtsgericht nicht sicher, ob Rebecca Jäger Mann oder Frau ist. Foto: Martin Schöler
Trotz zweier eindeutiger Gutachten ist sich das Amtsgericht nicht sicher, ob Rebecca Jäger Mann oder Frau ist. Foto: Martin Schöler

Nun ist Rebecca Jäger nicht auf den Kopf gefallen. Die Journalistin hatte sich schon vor Antragstellung eingehend mit dem Verfahren befasst, das auf sie zukommen würde. „Auf meine Nachfrage hin hat mir Richter Lieckfeldt nicht begründet, warum drei Gutachten erforderlich seien. Aber er riet mir, meinen Antrag zurückzunehmen, sollte ich mit der Verfahrensweise nicht einverstanden sein.“ Jäger besucht daraufhin die ersten beiden Gutachter. Beide kommen unabhängig voneinander zu eindeutigen Befunden: „Alles spricht für eine echte Transidentität.“ Einer der Experten fasst ihren langen Leidensweg in zwei Sätzen zusammen. „Die Begutachtende hat ihren Wunsch nach einem Leben als Frau lange zurückgestellt, ihre Identitätsproblematik lange für sich behalten und still gelitten. Sie hat versucht, dem männlichen Rollenbild zu entsprechen – ihr Leiden hat sich in depressiven Phasen und selbstverletzenden Verhalten ausgedrückt.“

Lieckfeldt liegen die Expertisen mittlerweile vor. Trotz eindeutiger Befunde sieht sich der Honorarprofessor ohne das 2.000-Euro-Gutachten zu einer Entscheidung außerstande. In einem Schreiben an Jägers Anwältin bemängelt der Richter die fachliche Qualität der ersten beiden Gutachten. Dazu verweist er auf einen gut 20 Jahre alten Fachaufsatz, dessen Autoren Richtlinien für die Begutachtung Transsexueller aufstellen. Stichpunktartig nennt der Jurist einige Punkte, zu denen sich die beiden Erstgutachten nicht verhalten würden. Hierzu muss man wissen, dass der Gutachterauftrag von dem Richter selbst formuliert wurde. Eine rechtlich vorgeschriebene Methodik, die über die formale Einhaltung wissenschaftlicher Standards hinausreicht, existiert allerdings nicht. „Jeder Gutachter ist in der Entscheidung frei, wie er die Begutachtung durchführt“, bestätigt Seikowski.

Ein Richter ist ein Richter ist ein Richter

Jäger empfindet Lieckfeldts Vorgehensweise als Willkür. Deshalb wandte sie sich Ende Mai mit einem Offenen Brief an Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU). „Diese Art der Verfahrensgestaltung ist seit Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes im Jahr 1981 bundesweit einmalig. (…) Ich erlebe diese Verfahrensweise als zutiefst diskriminierend. Die Hürden für eine Personenstands- und Vornamensänderung werden willkürlich erhöht.“ Die Leipzigerin setzt sich darüber hinaus mit Hilfe einer Rechtsanwältin gegen den Richter zur Wehr. So weit das die Rechtsordnung zulässt. Die Möglichkeiten sind begrenzt. Grund ist das hohe verfassungsrechtliche Gut der richterlichen Unabhängigkeit. In der Bundesrepublik unterliegen Richter keiner Dienstaufsicht, insofern Art und Weise der Verfahrensgestaltung betroffen ist.

„Beweisbeschlüsse sind nicht separat anfechtbar“, erläutert Jägers Anwältin Kerstin Will. „Das bedeutet einen herben Einschnitt in die Rechtsstellung des Antragstellers, der dem Tun des Richters an dieser Stelle ausgeliefert ist.“ Die Überprüfung des Beschlusses, in dem Lieckfeldt die drei Gutachter bestellt hat, wäre nur im Rahmen der Beschwerde gegen eine Ablehnung beim Oberlandesgericht möglich. Solange das Amtsgericht keine Entscheidung trifft, sind Will die Hände gebunden. „Wir versuchen gerade, die beiden vorliegenden Gutachten aufgrund der gerichtlichen Kritik nötigenfalls zu ergänzen.“ Das Gericht könnte dann – notfalls über eine Untätigkeitsklage – zu einer Entscheidung gezwungen werden, um den Weg zum Oberlandesgericht zu ebnen. „Alles in allem zeichnet sich hier noch ein längerer gerichtlicher Weg ab“, mutmaßt die Rechtsanwältin.

Erstaunlich ist, dass Fälle wie der von Frau Jäger bisher nur aus Leipzig bekannt sind. „Uns sind seit letztem Sommer 14 solcher Fälle bekannt geworden“, berichtet Alexander Naß. Der Soziologe berät und vernetzt im Auftrag des Vereins „Trans-Inter-Aktiv Mitteldeutschland“ Transpersonen, Selbsthilfegruppen und Therapeuten. Verfahren nach dem Transsexuellengesetz liegen in der Zuständigkeit der Amtsgerichte, an deren Sitz auch ein Landgericht ansässig ist.

Auf Nachfrage bestätigt Naß, ihm sei bisher an keinem zweiten mitteldeutschen Gericht ein Verfahren bekannt geworden, in dem das Gericht schon zu Verfahrensbeginn die Einholung dreier Gutachten verfügt habe. Typischerweise werde ein dritter Sachverständiger nur in Fällen sich widersprechender Erstbegutachtungen herangezogen. Der Berater berichtet von weiteren Auffälligkeiten am Leipziger Amtsgericht. In einem Fall sei ein Erwachsener zur Begutachtung zu einem Kinder- und Jugendpsychiater nach München geschickt worden. In einem anderen Fall habe sich eine Hallenser Psychologin mangels fachlicher Expertise selbst entpflichten lassen. Und in einem dritten Fall habe Lieckfeldt zunächst nur eines der beiden Gutachten beauftragt. „Das kostete den Antragsteller natürlich unnötig Zeit“, beklagt er.

Kurt Seikowski, mithin einer der führenden Experten in der Region, erhält seit Herbst 2016 keine Aufträge mehr von Lieckfeldt. Möglicherweise, weil sich die meisten Antragsteller bei ihm in Behandlung befinden. Seikowskis Name taucht auf einer Liste empfehlenswerter Therapeuten auf, die „Trans-Inter-Aktiv“ im Netz veröffentlicht hat. „Das ist bei der Erstellung psychologischer Gutachten eigentlich kein Hinderungsgrund. Ich sehe darin sogar einen Vorteil“, meint der Privatdozent.

Seikowski weist darauf hin, dass viele Transpersonen auf die möglichst schnelle Änderung von Vornamen und Personenstand angewiesen seien. „Die Patienten stehen oft unter psychischem Druck.“ Schließlich könne es durchaus zu Irritationen kommen, wenn beispielsweise eine Transfrau unter Vorlage eines Ausweises, der einen männlichen Namen aufweist, ein Bankkonto eröffnen möchte.

Mann, Frau? Mensch. Der lange Weg von Rebecca Jäger (Teil 2): Frontalverteidigung am Amtsgericht

Mann, Frau? Mensch. Der lange Weg von Rebecca Jäger (Teil 2)

Dieser Artikel erschien am 16.06.17 in der aktuellen Ausgabe 44 der LEIPZIGER ZEITUNG. An dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser. Dieses und weitere Themen finden sich in der aktuellen LZ-Ausgabe, welche neben den normalen Leipziger Presseshops hier im Szeneverkauf zu kaufen ist.

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