Da muss man erst mal hinkommen in diese Ecke von Leipzig – auf den Vorplatz des S-Bahnhofs Plagwitz. Und dann auch noch in die hinterste Ecke, um dort auf dem Dach den Schriftzug ACAB zu lesen. Und dann muss man daraus auch noch einen Skandal machen. Kaum ein Mensch hätte diesen rosaroten Buchstaben Aufmerksamkeit geschenkt, würde nicht die Leipziger AfD-Fraktion jaulend davorstehen und das „Ansehen der Stadt“ bedroht sehen. Geht's noch eine Nummer größer?

In diesem Fall nicht. Selbst dann nicht, wenn die AfD-Fraktion im Leipziger Stadtrat zu jedem einzelnen ACAB-Graffito eine Stadtratsanfrage schreiben würde. Das verrät eher etwas über diese Fraktion und ihre Biedere-Bürger-Mentalität.„Seit einiger Zeit ist auf dem Dach des alten Bahnhofsgebäudes des S-Bahnhofes Plagwitz ein Graffito mit dem Schriftzug ‚ACAB‘ angebracht (zu Deutsch ‚Alle Polizisten sind Bastarde‘), welcher auf einen linksextremen Verursacher schließen lässt“, mutmaßte die Fraktion in ihrer Anfrage an die Stadtverwaltung.

„Dieses Kürzel stellt eine schwerwiegende Beleidigung allen Polizisten gegenüber dar, die sich tagtäglich für Recht und Ordnung sowie den Schutz aller Bürger einsetzen. Für das Ansehen der Stadt Leipzig ist dieses Graffito an einer derart exponierten Stelle, wo es tagtäglich von zahlreichen Bürgern und Gästen der Stadt gesehen wird, in hohem Maße schädlich. Vor dem Hintergrund, dass unsere Stadt neben Berlin und Hamburg als Hauptstadt linksextremer Gewalt in Deutschland gilt, ist das ein nicht hinnehmbarer Zustand.“

Welche Gäste der Stadt verirren sich eigentlich in diese Ecke von Plagwitz, um ausgerechnet diesen Schriftzug auf dem Dach des Bahnhofs zu bewundern? Selbst Nicht-Plagwitzer müssen sich erst mal in die Linie 14 setzen und bis zur Endstelle fahren oder mit der Buslinie 60 hinkurven. Und sie werden enttäuscht sein. Diese vier Buchstaben hat man selbst in Connewitz schon schöner gesehen. Ein Künstler war da wirklich nicht am Werk.

Aber immerhin: Wenn die AfD-Fraktion meint, dass der Schriftzug so wichtig ist, sind wir eben mal hingefahren und haben ihn hier ins Foto gebannt. Damit auch alle anderen Leipziger/-innen sich aufregen können. Obwohl: Viel Grund zur Aufregung gibt es gar nicht, wie das Dezernat Umwelt, Klima, Ordnung und Sport jetzt mitteilt. Denn das Gebäude ist schon lange Privateigentum. Und weil das so ist, muss die Stadt gar nichts machen. Der Eigentümer könnte sein ganzes Haus mit Buchstaben bemalen und bekäme es höchstens mit der Denkmalschutzbehörde zu tun.

„Beim Plagwitzer Bahnhof handelt es sich um eine in Privatbesitz befindliche Liegenschaft“, erklärt das Ordnungsdezernat deshalb.

„Eine Reinigung seitens der Stadt Leipzig kann hier nicht erfolgen. In diesen Fällen wird der Eigentümer nach Möglichkeit auf die Verunreinigung aufmerksam gemacht und die Säuberung der Fläche empfohlen. Diese kann der Eigentümer im eigenen Ermessen durchführen oder den Zustand so belassen. Eine Pflicht zur Reinigung besteht jedenfalls nur dann, wenn die Schmiererei den Tatbestand der verfassungsfeindlichen Symbolik oder Beleidigung erfüllt (gemäß § 86a Strafgesetzbuch [StGB] ‚Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen‘).“

Aber nicht einmal das ist erfüllt, anders als die AfD-Fraktion mit der „schwerwiegenden Beleidigung allen Polizisten gegenüber“ mutmaßt.

„Nach herrschender Meinung ist den Schriftzug ‚A. C. A. B.‘ zu zeigen grundsätzlich auch nicht nach § 185 StGB ‚Beleidigung‘ als solche strafbar, sondern von der im Artikel 5 des Grundgesetzes geschützten Meinungsfreiheit gedeckt – wenngleich der Schriftzug oftmals mit einer ablehnenden Haltung gegenüber staatlichen Institutionen in Verbindung gebracht wird“, betont das Ordnungsdezernat.

„Dementsprechend kann der Eigentümer behördlicherseits hier nicht verpflichtet werden, das Graffito zu beseitigen. Gleichwohl wurde die gebäudeverantwortliche Person bereits im Jahr 2020 auf die Situation hingewiesen; bedauerlicherweise jedoch ohne den aus Sicht der Stadtverwaltung gewünschten Erfolg.“

Man sieht: Die Stadtverwaltung steht auch eher auf der Seite jener, die solche Aufschriften möglichst schnell aus dem Stadtbild entfernt haben möchte. Und ist damit Teil jener Spirale, die sich seit Jahren aufschaukelt. Und die von der wohl falschen Annahme ausgeht, dass erhöhter Polizeidruck den Sprayern das Handwerk legt. Aber genau das passiert nicht. Was durchaus damit zu tun hat, dass die Wände einer Stadt auch eine Botschaft sind – egal, ob sie weiß sind oder beschmiert. Das ist nämlich, wie untenstehender Youtube-Clip zeigt – seit 2.000 Jahren bekannt. Die Wände von Pompeji waren mit Graffiti übersät.

Römische Graffiti – Das Facebook der Antike | Altertum

Und das hat auch etwas mit Machtungleichgewichten zu tun, auch wenn die Graffiti Pompejis im Clip als das Facebook der Antike bezeichnet werden. Der Vergleich hinkt. Auch in Pompeji konkurrierten schon offizielle Aufschriften mit illegalen, hatten die einen die Macht und das Geld, den öffentlichen Raum mit ihren Parolen, Werbungen und Verlautbarungen zuzupflastern, und die anderen mussten nachts „illegal“ malen, weil es garantiert auch damals schon Strafen für so etwas gab. Und wenn es nur – genau wie heute – die „Beschädigung fremden Eigentums“ ist.

Auch „ACAB“ erzählt von einem Machtgefälle. Wer so tut, als wäre das nicht so, macht sich wohl wirklich Illusionen über unsere Gesellschaft.

Und jeder Blick in jede Straße zeigt, dass nicht die illegalen Malereien dominieren (auch nicht in Connewitz), sondern die offiziellen Beschriftungen in all ihren Formen. Der öffentliche Raum ist zum Großteil privatisiert.

Und auch wenn die Stadt die Graffiti-Ex-Firmen losschickt, ist das ein Versuch, die eigene Sicht auf Stadt durchzusetzen. Für einen stolzen Preis, wie wir am 22. Juli nach der Dienstberatung des Oberbürgermeisters erfahren durften.

Da meldete die Stadt nämlich mal die jüngsten Zahlen zur Graffiti-Beseitigung allein an städtischen Gebäuden. Und die Zahlen – die auch in einer Vorlage für die Ratsversammlung stehen – erzählen ganz und gar nicht von einer Entspannung der Lage.

***

Die Meldung der Stadt zur Graffiti-Bilanz

Im Jahr 2020 hat die Stadt insgesamt rund 285.700 Euro ausgegeben, um illegale Graffiti an städtischen Gebäuden und Mobiliar entfernen zu lassen. Hierfür wurden an Fachfirmen insgesamt 263 Einzelaufträge erteilt. Im Jahr zuvor waren es 229 Reinigungsaufträge mit einem Umfang von knapp 245.900 Euro gewesen. Die entsprechende Übersicht geht aus der Sitzung der Verwaltungsspitze hervor.

Seit Jahren unternimmt die Stadt Leipzig nicht unerhebliche Anstrengungen, um stadteigene Gebäude und bauliche Anlagen zeitnah und regelmäßig zu reinigen. Im Berichtszeitraum vom 1. Januar 2019 bis 31. März 2021 wurden beispielsweise 261 Schulgebäude, 33 Kindertageseinrichtungen, 24 Verwaltungsgebäude, 1.367 Schaltkästen und 201 Spielgeräte auf Spielplätzen gereinigt – teilweise mehrfach.

Für einige Gebäude und Objekte werden kontinuierlich Reinigungsaufträge ausgelöst, unter anderem für die Brücke Prager Straße, den Astoria Tunnel oder den Elstermühlgraben. Die milde Witterung der letzten Jahre ermöglichte es, dass die Graffiti ganzjährig entfernt werden konnten. Lediglich im ersten Quartal dieses Jahres konnten aufgrund des langen Winters nur wenige Reinigungsaufträge abgearbeitet werden: Bis 31. März waren es 65 Einzelaufträge für insgesamt etwa 27.100 Euro gewesen.

Für die Arbeiten steht seit Ende des Jahres 2019 neben fünf Fachfirmen auch ein spezielles städtisches Reinigungsteam beim Eigenbetrieb Stadtreinigung zur Verfügung. Dieses Team kommt derzeit vor allem zur Säuberung von Kleinstflächen wie etwa Schaltkästen zum Einsatz und wird vom Ordnungsamt insbesondere dann beauftragt, wenn schnell strafrechtlich relevante Inhalte entfernt werden müssen.

Um die Zahl illegaler Graffiti langfristig zu reduzieren, setzt die Stadt Leipzig verstärkt auch auf Prävention, beispielsweise mit der Verabschiedung des „Präventionskonzept Graffiti“. Präventive Arbeit ist auf Dauer ausgelegt und speziell im Bereich Graffiti mit sehr langwierigen Prozessen verbunden, sodass eine spürbare Wirkung erst mittel- bis langfristig zu erwarten ist.

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Es gibt 2 Kommentare

Vielleicht wollten der oder die Künstler:in ja auch Annalena Charlotte Alma Baerbock supporten und hat sich, aus nachvollziehbaren Platzgründen, einfach für ein Akronym entschieden . . tja, man weiß es nicht und es gibt sicherlich wichtigere Sachverhalte im Tagesgeschehen werte ungeschätzte AfD-Fraktion!

Na, wenn die AfD bei dem Gebäude nicht weiterkommt können sie es ja mal beim alten Bahnhofsgebäude in Stötteritz versuchen? Das sind dort zwar rechte Schmierereien und Transparente, aber das macht doch bestimmt keinen Unterschied für die Saubermänner der AfD. Oder etwa doch?

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