Ursprünglich sollte sie zwei Jahre und neun Monate Haft verbüßen: In einem Verzweiflungsakt hatte Erika S. (81) vor über zwei Jahren versucht, sich und ihren schwer erkrankten Ehemann mit Tabletten zu töten. Nach einer erfolgreichen Revision ihrer Anwälte verhandelte das Landgericht den tragischen Fall noch einmal neu – und fand eine andere Antwort.

„Es tut mir so unendlich leid. Aus heutiger Sicht kann ich mir das alles nicht mehr erklären. Ich mache mir große Vorwürfe wegen dieser Kurzschlussreaktion“, beteuerte die Angeklagte Erika S. am Donnerstag vor dem Landgericht in einer selbst vorgetragenen Erklärung.

Von Anfang an hatte die Rentnerin aus Borna nie bestritten, was am Abend des 15. Juni 2018 in der gemeinsamen Wohnung passiert war: Mit jeweils 20 Schlaftabletten, die sie erst ihrem heute 80-jährigen Mann Wolfgang und dann sich selbst verabreichte, wollte sie das Leben des Paares nach über sechzig Jahren Ehe beenden. Doch der Tötungsversuch scheiterte an einer zu geringen Dosis, beide überlebten die Vergiftung und wurden am Morgen aufgefunden. Erika S. wurde wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung an ihrem Mann angeklagt.

Schicksalsschläge, Depression und Überforderung

Dieser Vorwurf stützte sich darauf, dass der schwer demenzkranke Wolfgang S., der zudem unter den Folgen von vier Schlaganfällen litt, die Tötungsabsicht seiner Gattin keineswegs erkennen konnte und nicht zwangsläufig damit einverstanden war, gemeinsam in den Tod zu gehen. Vielmehr habe der damals 79-Jährige geglaubt, seine normalen Medikamente einzunehmen. So sah es auch die 1. Strafkammer des Leipziger Landgerichts, die Erika S. vor gut einem Jahr gemäß dem Willen der Staatsanwaltschaft zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilte.

Die gelernte Kellnerin und langjährige Kaufhallen-Angestellte hatte ihr Handeln aus einer Verzweiflung heraus erklärt, denn die Betreuung und Pflege ihres schwer kranken Mannes hatte sie mit der Zeit zunehmend überfordert. Das Leiden von Wolfgang S. führte zu einer Wesensveränderung, die sich immer wieder in heftigen Beschimpfungen und Wutausbrüchen Bahn brach, einfachste Aufgaben konnte der einst als zupackend und hilfsbereit geschätzte Wolfgang nicht mehr erfüllen, nässte und kotete sich oft ein. Tagespflege und familiäre Unterstützung konnten das Problem nur zum Teil lindern, den Umzug in ein Altersheim wiederum lehnte Wolfgang vehement ab, drohte mit Suizid, sollte es je so weit kommen.

Seine Ehefrau, die seit den Neunzigern selbst wiederholt unter Depressionen litt und 2008 eine Brustkrebs-Erkrankung überstand, funktionierte nur noch, geriet zunehmend in eine Abwärtsspirale aus Hilflosigkeit und dem Gefühl der Überforderung. Als Wolfgang S. am 15. Juni 2018 auf dem Weg zu einem Zahnarzttermin mit seinem Rollator auf dem Marktplatz von Borna stürzte, seine Gattin in aller Öffentlichkeit anschrie und sich zu Hause in kürzester Zeit zweimal einnässte, reichte es Erika S. endgültig. Sie schrieb einen Abschiedsbrief an ihre Tochter, legte alle Unterlagen bereit und griff zu den Tabletten.

Die 11. Strafkammer unter Vorsitz von Karsten Nickel (Foto) wandelte das erste Urteil wegen der besonderen Umstände in eine Bewährungsstrafe um. Foto: Lucas Böhme
Die 11. Strafkammer unter Vorsitz von Karsten Nickel (Foto) wandelte das erste Urteil wegen der besonderen Umstände in eine Bewährungsstrafe um. Foto: Lucas Böhme

Tragik eines Lebensabends“

Trotz dieser schweren Lebenssituation, so begründete die Strafkammer vor einem Jahr ihr hartes Urteil, habe Erika S. eigenmächtig über das Leben eines anderen Menschen entschieden. Ihr Anwalt Hagen Karisch, der sich für eine Bewährung eingesetzt hatte, ging gegen das Urteil beim Bundesgerichtshof in Revision.

Mit Erfolg: Zwar bestätigten die dortigen Richter den Schuldspruch wegen versuchten Mordes, hoben das Strafmaß aber als fehlerhaft auf und ordneten eine neue Verhandlung vor einer anderen Kammer an. So habe das Gericht in seinem ersten Urteil bestimmte Aspekte der Tatbegehung, die ohnehin schon als Mordmerkmal gelten, unzulässig als Strafverschärfung herangezogen.

Das brachte nun auch die Anklage zum Einlenken: Staatsanwalt Johannes Gräf forderte am Donnerstag nur noch zwei Jahre Haft auf Bewährung für die Angeklagte. Mit der Verteidigung ging er konform, dass viel für Erika S. spricht: In ihrem langen Leben war die Seniorin nie delinquent, galt wegen ihrer Depressionen nur als vermindert schuldfähig, hatte sich lange selbstlos um ihren Gatten gekümmert, handelte in einer Kurzschlussreaktion, legte ein reuevolles Geständnis ab. Zudem zahlt sie Wolfgang, der heute in einem Heim untergebracht ist, seit mehreren Monaten einen finanziellen Ausgleich und besucht ihn regelmäßig.

Rechtsanwalt Hagen Karisch sprach in seinem Plädoyer von der „Tragik eines Lebensabends“, die sich im Geschehen offenbare, seine betagte Mandantin sei schlicht an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gekommen. Verteidiger-Kollege Dr. Stefan Wirth warnte zudem vor einer „katastrophalen Wirkung“, die eine Inhaftierung von Erika S. bedeuten würde. Beide plädierten mit Nachdruck für eine Bewährungsstrafe.

Erleichterung bei den Angehörigen

Die Kammer folgte diesen Argumenten und sprach eine Strafe von zwei Jahren auf Bewährung aus. Der Vorwurf des versuchten Mordes bleibe aber im Raum und sei einer der schwersten, der überhaupt möglich ist, betonte der Vorsitzende Richter Karsten Nickel: „Sie müssen damit leben, dass Sie versucht haben, das Leben ihres geliebten Ehemannes zu beenden“, wandte er sich direkt an die Angeklagte.

Diese nahm das Urteil mit Erleichterung auf – und umarmte gleich darauf ihre Tochter, deren Ehemann sowie ihre Enkelin, die den Prozess gebannt auf der Zuschauerbank verfolgt hatten. Dass die Mutter, Schwiegermutter und Oma ursprünglich ins Gefängnis gehen sollte, war auch für sie ein Schock gewesen.

Die jetzige Entscheidung ist bereits rechtskräftig. Sowohl Staatsanwalt als auch Verteidiger erklärten noch im Gerichtssaal, auf eine erneute Revision zu verzichten.

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