Erika S., heute 81, hatte 2018 versucht, sich und ihren Ehemann mit Tabletten umzubringen – eine Verzweiflungstat, denn die Seniorin fühlte sich mit der jahrelangen Pflege des schwer Demenzkranken überfordert. Das Landgericht verurteilte sie wegen versuchten Mordes zu einer Haftstrafe. Diesen Donnerstag wird der Fall noch einmal neu verhandelt. Muss die Rentnerin tatsächlich hinter Gitter?

Es ist ein Fall von menschlicher Tragik, der selbst für die routinierten Juristen des Leipziger Landgerichts keine alltägliche Kost war und ist. Erika S., 81 Jahre, gelernte Serviererin und ehemalige Kaufhallen-Verkäuferin, hatte sich und ihrem Ehemann Wolfgang in der gemeinsamen Wohnung in Borna jeweils 20 Schlaftabletten verabreicht – auf eine Erlösung durch den Tod hoffend. Das war im Juni 2018. Doch das Ehepaar überlebte. Erika S. wurde wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung angeklagt.

Vor fast genau einem Jahr fand der Prozess statt, in dem Erika S. die Tat sofort zugab und ihre verzweifelte Situation schilderte. Wolfgang S. (79) litt unter einer diagnostizierten Demenz, die sein ganzes Wesen änderte, immer wieder zu aggressiven Wutausbrüchen führte. Dazu kamen die Folgen von vier Schlaganfällen.

Für Erika S., die selbst mit Depressionen kämpfte und eine 2007 entdeckte Brustkrebs-Erkrankung überstand, erwies sich die Betreuung des Gatten als immer nervenaufreibender. Trotz Tagespflege und familiärer Unterstützung habe sie sich zunehmend überfordert, hilflos und verlassen gefühlt. In ein Altersheim umziehen wollte Wolfgang nicht, drohte mehrfach an, sich etwas anzutun, sollte es je so weit kommen.

Am Abend des 15. Juni 2018 habe Wolfgang zustimmend genickt, als sie ihn gefragt habe, ob er „mit ihr gehen“ wolle, und ihm daraufhin die Schlaftabletten verabreicht, bevor sie diese selbst einnahm. Die Staatsanwaltschaft glaubte diese Version allerdings nicht, stufte das Verhalten als heimtückischen Mordversuch ein, da der betagte Mann die Absicht seiner Frau keineswegs habe erkennen können.

Die Strafkammer schloss sich dieser Sicht an – und verurteilte Erika S. wegen versuchten Mordes zu zwei Jahren und neun Monaten Haft: Die Rentnerin habe, bei allem Verständnis für ihre komplizierte Lebenssituation, eigenmächtig über das Leben eines anderen Menschen entschieden.

Die Verteidigung hatte massive Milderungsgründe angeführt, die für eine Bewährung sprechen würden. Immerhin, dies erkannten auch Anklage und Gericht an, war Erika S. noch nie straffällig, hatte sich bis zur Selbstaufgabe um ihren Mann gekümmert, handelte spontan, galt nur als vermindert schuldfähig und beteuerte glaubhaft, es tue ihr alles leid. Zudem blieb die Vergiftung ohne Langzeitschäden. Wolfgang S. lebt heute in einem Heim.

Rechtsanwalt Hagen Karisch ging gegen das Urteil in Revision. Der Bundesgerichtshof ordnete im Januar 2020 an, den Prozess neu aufzurollen: Zwar sei die Wertung der Tat als Mordversuch korrekt, die Strafzumessung wurde jedoch als fehlerhaft und möglicherweise zu hoch kritisiert.

Am Donnerstag nun wird eine andere Kammer des Leipziger Landgerichts erneut über den tragischen Fall entscheiden. Für die heute 81-jährige Erika S., die bisher auf freiem Fuß ist, könnte dann auch die quälende Frage geklärt werden, ob sie ihre Wohnung tatsächlich mit einer Gefängniszelle tauschen muss – bisher wurde nur der eine Verhandlungstag angesetzt.

Verteidigt wird die alte Dame wieder durch Rechtsanwalt Hagen Karisch sowie dessen Kollegen Dr. Stefan Wirth. „Wir werden um eine Bewährungsstrafe kämpfen“, kündigte Dr. Wirth am Montag telefonisch gegenüber L-IZ.de an. Für den renommierten Strafverteidiger ist klar: „Es ist besonders von der menschlichen Tragik her. Ich hatte noch nichts Vergleichbares.“

L-IZ.de wird über den Ausgang des Prozesses berichten.

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