Am Ende hat man fast Mitleid mit der jungen Frau, die da übernächtigt, ungewaschen und völlig ratlos vier Tage mit dem Zug durch Deutschland fährt. Bevor sie nach Jena kommt und sich dort der Polizei stellt mit den Worten:"Ich bin die, die sie suchen." Ein ganzes Lebenskonzept war für Beate Zschäpe am 4. November 2011 in Flammen aufgegangen.

Und die Medien, die über das brennende Wohnmobil in Eisenach und die beiden Toten darin berichten, ahnen noch gar nicht, was da auf einmal ans Tageslicht kommen würde.

Die Leser und Zuschauer in Deutschland haben die Ermittlungsarbeiten im Fall der drei aus Jena stammenden Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe seither als Puzzle-Arbeit miterlebt. Anfangs waren es eigentlich die zwölf Bekenner-Videos, die in den Tagen nach dem missglückten Sparkassen-Überfall in Eisenach und dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos der Öffentlichkeit klar machten, was da 13 Jahre lang in Chemnitz und Zwickau unentdeckt untergetaucht war und sich in dem beklemmenden Paulchen-Panter-Video dann großartig “Nationalsozialistischer Untergrund” nannte.

Spätestens das Video führte den hemdsärmeligen Ermittlern im Land drastisch vor Augen, dass sie nicht nur die Gefahr eines Rechtsterrorismus über Jahre völlig falsch eingeschätzt hatten. Sie hatten im Grunde über 20 Jahre lang die falsche Melodie gespielt. Man hat es fast schon vergessen. Aber der NDR-Redakteur John Goetz und der Leipziger Reporter Christian Fuchs haben gründlich gearbeitet, gesammelt wie die Eichhörnchen und in logische Zusammenhänge gepackt, was der häppchen-konsumierende Tages-Journalismus schon längst nicht mehr bewältigt.
Ausgangspunkt waren mehrere Reportage-Sendungen fürs Fernsehen, in denen versucht wurde, die Vorgänge um die dreiköpfige Zelle in logische Zusammenhänge zu bringen. Eine Logik, die die ersten skandalisierenden Medienberichte bis weit ins Frühjahr 2012 nicht hatten. Genauso wenig, wie die meisten Medienberichte über die heute sogenannten Ceska-Morde in sich logisch und gründlich recherchiert waren. Nicht ohne Grund etablierte sich ein Schlagwort wie “Döner-Morde” gerade in den oberflächlichen Medien dauerhaft.

Auch all die Ermittler, die sich zwischen 2000 und 2007 mit den zehn Morden und zwei Bombenanschlägen beschäftigten, die dem Terror-Trio zuzurechnen sind, waren nicht vorbereitet auf das, was ab November 2011 alles bekannt wurde. Die Zwickauer Polizei durchsiebte den Schutt der Wohnung, die Beate Zschäpe vor ihrer Flucht in Brand gesetzt hatte, gründlich durch, fand verwertbare Computerdateien, Waffen, Geld aus den mindestens 14 Banküberfällen, die dem Trio zuzuschreiben sind, Urlaubsfotos, Bücher, Exemplare der selbst gebastelten “Pogromly”-Spiele … – Das ganze Leben der drei Jenaer Neonazis, die 1998 nach Sachsen flüchteten und seitdem unter Tarn-Identitäten lebten, wurde sichtbar.

Fuchs und Goetz haben binnen weniger Monate alles gesammelt, was mittlerweile über die WG-Mitglieder bekannt geworden ist, haben die Spreu vom Weizen getrennt, die neuen Mutmaßungen aus sensationsgierigen Medien getrennt von dem, was wirklich durch Aktenbefunde, Zeugenaussagen und Spurenfunde belegt ist. Sie tun es ganz ohne Aufregung, fast schon mit Mitgefühl. Denn anders lassen sich Fragen noch den Ursachen und Motiven solcher Taten gar nicht erst stellen.
Sie beleuchten die Jugendzeit der drei, die in einem Jena erwachsen wurden, in dem alles aus den Fugen war. Aber nicht nur die Städte im Osten waren im Umbruch und die Verwaltungen vor Ort oft überfordert. Nicht nur Lokalpolitiker in Thüringen und Sachsen redeten die Gefahren von Fremdenhass, Nationalismus und Chauvinismus klein. Auch Bundespolitiker spielten die Hardliner-Karte aus. Selbst in Leipzig weiß man ja, dass es fast zehn Jahre dauerte, bis sich die Zivilgesellschaft endlich fand und gemeinsam Strategien suchte gegen das, was sich da in der rechtsextremen Nische gesammelt und zusammengebraut hatte.

Goetz und Fuchs beleuchten aber auch zwangsläufig die Arbeit der Ermittler, die seit einigen Wochen auch vermehrt in der medialen Öffentlichkeit stehen. Reihenweise treten die Präsidenten von Verfassungsschutzämtern zurück, gestehen Versäumnisse ein, drucksen vor Untersuchungsausschüssen, müssen die oft dubiose Rolle ihrer V-Leute erklären, die – wie in Thüringen – oft üppig gespickt wurden mit staatlichen Alimenten, aber trotzdem die wirklich wichtigen Hinweise nicht gaben. Abhöraktionen fanden oft über Jahre statt – doch sie blieben ebenso ergebnislos.

Oft waren es – wie im Fall der Ceska-Morde – führende Ermittler selbst, die Ermittlungsstränge abwürgten und die Medien auf die falsche Spur setzten. Und das, obwohl einige eingesetzte Profiler die beiden Haupttäter und ihre Motive immer wieder sehr genau beschrieben.

Doch was nicht sein sollte, das durfte nicht sein. Es waren ja nicht nur die Morde von Mundlos und Böhnhardt, die von den Ermittlern nicht als rassistisch und rechtsextrem motiviert einsortiert werden sollten. Das Problem betrifft alle Anschläge aus rassistischen und nationalistischen Motiven in der Bundesrepublik. Nicht nur in Sachsen hat man ja mit aller Macht versucht, ein fiktives Gleichgewicht zwischen Linksextremismus und Rechtsextremismus zu konstruieren, so dass auch Politik und Bürgern oft entging, wie fest verankert der gewaltbereite Rechtsextremismus in Sachsen längst war. Es waren Mitglieder des vor allem in Chemnitz und Zwickau heimischen “Blood and Honour”-Netzwerkes, die Mundlos, Bönhardt und Zschäpe nicht nur 1998 das Untertauchen in Sachsen ermöglichten, sondern auch in den Folgejahren Kontakt hielten und immer wieder halfen.

Die Terrorzelle war nie so isoliert, wie sie in manchem Medienbericht dargestellt wurde.

Natürlich bleiben viele offene Fragen. Es lässt sich nie wirklich bis zu Ende rational erklären, warum Menschen so eine Entwicklung nehmen. Aber auch das Einzigartige, was manche Medien diesem Terror-Trio zuschreiben, trifft nicht wirklich zu. Vorbilder hatten die drei in Großbritannien und den USA. Der rechte Terror ist schon längst keine einzig deutsche Erscheinung mehr.

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Aber durchaus interessant sind auch die letzten Tage. Auch die vor dem Banküberfall in Eisenach, der die Polizei auf die Spur der beiden Männer im Wohnwagen brachte. Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass es im Trio schon längst kriselte. Denn was bleibt eigentlich übrig an Lebensmotivation, wenn man sich auf dieses schmale, schale Weltbild des Nazismus einlässt? Die Töne im Bekenner-Video, das schon 2007 entstand, klingen schrill. Doch gerade das tagelange Umherirren von Beate Zschäpe steht fast symptomatisch für die Leere, die bleibt, wenn hinter dem Morden kein eigentlicher Lebenssinn mehr zu finden ist.

Fuchs und Goetz haben die Daten, Fakten und Ereignisse so dicht gepackt, dass sich das Buch atemlos liest. Und ernüchternd. Hier sind keine Helden porträtiert und auch keine Monster – die Drei schrumpfen auf menschliches Maß, ihre Handlungen werden greifbarer. Ihre Motive natürlich nicht. Das ist die Krux an Ideologien aller Art: Sie sind, wenn man sie ernst nimmt, hermetisch, haben für alles eine Erklärung und kennen keine Zweifel.

Das muss den Dreien schon früh so gegangen sein, als sie in den neu entstehenden rechtsextremen Netzen in Jena Anschluss fanden und eine Art Bestätigung, die ihnen die unsichere Umbruchszeit nicht gab. Einstige Klassenkameraden erinnern sich an das überhebliche Lächeln von Uwe Mundlos, andere Zeugen an die latente Gewaltbereitschaft von Uwe Böhnhardt. Damit kontrastieren die kleinbürgerlichen Idyllen ihres gemeinsamen Lebens in den konspirativen Wohnungen und in den gemeinsamen Ostseeurlauben.

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Die Zelle
Christian Fuchs; John Goetz, Rowohlt Verlag 2012, 14,95 Euro

Die Zitate aus den wenigen öffentlich gewordenen Dokumenten der Zelle haben die Autoren durchweg mit Ergänzungen wie “Fehler im Text” versehen müssen. Das Buch macht auch traurig, weil es stellenweise die Hilflosigkeit der Eltern sichtbar macht, die mit der Flucht ihrer Kinder nicht wirklich zurecht kamen.

In seiner kompakten Fülle ist dieses Buch wohl alles, was man augenblicklich über die Terrorzelle erfahren kann, die sich so hochtrabend “Nationalsozialistischer Untergrund” nannte. Aber das ist die Dimension, in der alle Ideologien schwimmen: Ein kleines Häuflein glaubt, die ganze Welt retten zu müssen, verpackt seine Taten in Phrasen und geht für die Phrasen über Leichen. Doch am Ende bleibt eine Leere, die all das überschnappende Paulchen-Panter-Gereime nicht zudecken kann. Übrig bleiben drei junge Leute, von denen zwei auf jeden Fall mehrfache Mörder, Bombenleger und Bankräuber waren.

Da gibt es möglicherweise einfach nichts mehr zu sagen und das Schweigen von Beate Zschäpe ist so außergewöhnlich nicht. Selbst das Wort “Zelle” klingt irgendwie zu groß für dieses Trio. “Ein großes Stück schonungsloser Aufklärung”, schreibt Hans Leyendecker zu dieser wirklich akribischen Aufarbeitung dreier Lebensgeschichten, die in gewisser Weise auch typische Lebensgeschichten sind. Typisch für ein Land, das in den 1990er Jahren selbst die Überfälle von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen hinnahm, als sei das etwas Normales, etwas, an dem die betroffenen Migranten irgendwie selbst schuld waren – weil Deutschland mit all den Zuwanderern überfrachtet sei. Diese Jahre irrlichtern die ganze Zeit mit in diesem Buch. Eben die Jahre, in denen die Drei in dieser Gesellschaft Tritt suchten. Und ganz rechts außen fanden. Dort, wo es von martialischen Worten zum Terror nur noch ein ganz kleiner Schritt war. Den sie übrigens schon in Jena gingen – 1997. Auch das gehört dazu, zu dieser beklemmenden Geschichte ohne Happyend.

Christian Fuchs, John Goetz “Die Zelle”, Rowohlt Verlag 2012, 14,95 Euro

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