Es gibt ihn tatsächlich, den Gasthof „Zur Landesgrenze“ in Schkeuditz: Äußere Leipziger Straße 104, es ist nicht weit zur Weißen Elster, die Straßenbahn hält fast um die Ecke. Das Ganze ist also vorstellbar, dass Hallenser und Leipziger Dichter sich hier zum versöhnlichen Umtrunk treffen und alle Zerwürfnisse der vergangenen Jahrzehnte im Bier ersäufen.

Muss ja nicht am Himmelfahrtstag sein, wenn die rauflustigen Scharen der angetütelten Herren sich rotnasig im Grünen tummeln. So wie es Helmut Richter mal ging vor vielen, vielen Jahren, als er noch jung und gut behütet war. Vielleicht erfüllt sich ja die Sehnsucht der älteren Wanderer noch. Es wäre ein Zeichen – für was auch immer. Denn die Landesgrenze zwischen Sachsen und dem preußischen Gebiet um Halle liegt schon seit Jahrzehnten nicht mehr so weit östlich von Schkeuditz, sondern weiter westlich, in wesentlich tristerer Gegend, worüber Christian Kreis, dichtender „Frechdachs in Halle“, weiter hinten in diesem Heft singt und reimt. Es hat sich ja nichts wirklich geändert seit Bettina Baltschevs 2010 erschienenem Regionalexpress-Buch „Last Exit Schkeuditz West“, auch wenn jetzt schnieke S-Bahnen fahren. Langweilige Bahnsteige zwischen Rübenfeldern, triste Wohnsiedlungen und öde Messe-Halte in Halle-Messe sind heute noch genauso abschreckend wie damals: Wer steigt hier nur aus? Großkugel hat er sich vorgenommen, Dieskau, Gröbers – aber das Spannende an der Strecke ist natürlich, dass sie tatsächlich den leeren Raum zwischen Halle und Leipzig überbrückt. Man kann auch in Wahren und Gohlis ein- und aussteigen. Wenn es nach Kreis geht: in Schkeuditz lieber nicht.

Das kann Dichterfrechheit sein. Oder ein Versuch, auch das kleinteilige Dazwischen irgendwie zu fassen. Denn die beiden Städte, um die es geht, leben einen anderen Rhythmus, eine andere Dichte, eine andere Tiefe. Und sie unterscheiden sich gravierend. Was dieses Heft aus der seit Jahren in Sachsen-Anhalt erscheinenden Reihe „Ort der Augen“ einmal versucht zu thematisieren. Grenzüberschreitend natürlich, mit Dichterinnen und Dichtern aus Leipzig und Halle, die aufgefordert waren, sich einmal zur jeweils anderen Stadt zu artikulieren. Was ihnen in der Regel schwer fällt, denn es kommt ihnen immer was dazwischen: eine hübsche Idee, ein idyllisches Bild, eine ferne Erinnerung, ein beiläufiger Gedanke. Nicht jeder ruft sich zur Raison. Aber auch das lässt ahnen, wie gespenstig das ist, wenn sich Leute des Wortes äußern sollen zu Orten. Vertrauten Orten gar, denn diese Autoren aus Halle und Leipzig mussten nie extra nach Schkeuditz fahren, um sich zu treffen. Es gibt – außer im Ruhrpott – keine anderen Großstädte in Deutschland, die so dicht beisammen liegen und über die Jahrzehnte immer auch Leid und Freud gemeinsam erfuhren. Auch wenn Manches, was in Halle geschah, aus Leipziger Perspektive wundersam und erfrischend provinziell wirkt. Etwa wenn Manfred Jendryschik sich an die Anbetungszeremonie einer lokalen Funktionärin erinnert – mit Schlangestehen und devotem Geburtstagsglückwunsch. Derlei hat es nicht nur in Halle über der Saale gegeben, sondern auch in Leipzig. Mit aller Peinlichkeit. Nur hat man hier entweder die Dichter nicht eingeladen – oder die Eingeladenen haben nie drüber geschrieben – so spitzzüngig wie Jendryschik sowieso nicht.

Das Spitzzüngige haben sie oft genug diesseits der Saale gelernt, im Literaturinstitut J. R. Becher – zumeist noch beim weiland berühmten, geliebten und bewunderten Georg Maurer – dem der Hallenser Dieter Mucke ein schönes, ironisches Gedicht widmet. Wer es dann in Leipzig nicht mehr aushielt, dieser zuweilen als viel zu klotzig, gerade und großbürgerlich empfundenen Stadt, der ging dann auch als Schriftsteller lieber nach Halle rüber, freute sich an krummeren Gassen, schlug auch deutlich märchenhaftere Töne an. Beinah hätte da Leipzig noch ein paar Dichter mehr verloren, denn immerhin lebten Bartsch und Jendryschik da, gesellige Burschen. Da konnte man in Rotweinrunden auch mal welttrunken sein. Und mal etwas weniger streng.

Denn Leipzig – das macht die Hallenser Sicht deutlich – wird auch als leichte Überforderung empfunden, als ein Ort der Regeln, Erwartungen und Beanspruchungen. Mal Dieter Mucke zitiert: „Die Häuserecken und die Firste standen / Wie Kanten von Kristallen zueinander / So daß die Menschen eine Wüste fanden / Aus Stein und Kälte, die sie frieren machte …“

Das hat man auch von Leipziger Dichtern schon gelesen. Auch von Andreas Reimann, der in diesem Büchlein zumindest andeutet, was ihn zu Reisen nach Halle animiert hätte – wären sie dageblieben: Czechowski, Rainer und Sarah Kirsch … Man darf sich zu recht an die berühmte Sächsische Dichterschule erinnern. Halle gehörte immer dazu, auch wenn später im Bändchen die Warnung zu lesen ist, dass dieses Halle schon seit 1701 nicht mehr sächsisch ist – weswegen man den Sachsen dort wohl eher mit Feindesargwohn begegne. Kann sein. Wenn auch verändert. Denn immer gilt auch: „Teile und herrsche.“ So dachten die preußischen Könige immer. Und ihre Nachfahren auf Magdeburger und Dresdner Thronen tun es bis heute.

Und so bleibt den beiden Städten immer wieder nur der Brückenschlag von Hallzig nach Leipzle und umgekehrt, auch wenn für die älteren Semester in diesem Band die Adressen der alten Freunde schwinden. Man wird ja nicht jünger. Und die Jüngeren bevorzugen den spöttischen Ton mit Blick auf dieses so befremdliche Leipzig in seiner Oberflächlichkeit. Dabei sind doch – zumindest aus Dichter- und Ballonperspektive – die schweren Schichten Geschichte überall sichtbar. Die Landschaft: gespickt mit den Namen berühmter Schlachten, bei denen für gewöhnlich eine Menge Fußvolk verreckte, nur dann und wann mal ein König oder Marschall. Jürgen Jankowsky erinnert daran. Zu recht. Denn Grenzen entstehen nicht, weil Menschen anders aussehen oder sächseln, sondern weil Mächtige ihre Machtbezirke abstecken – in der Regel mit Gewalt. Und Gewalt ist auch heute noch sichtbar – als idyllische Erinnerung im Neuseenland. Wilhelm Bartsch erinnert daran, der die Schlacht um die Kohle im Leipziger Südraum noch selbst erlebt hat. So etwas frisst sich unter die Haut wie Kohlenstaub.

Es ist also eher eine Begegnung in Bildern, Assoziationen, Erinnerungsstücken. Und mal etwas Neues in diesem „Ort der Augen“, der bewusste Versuch einer Grenzüberschreitung, einer Wiederbegegnung  – verbunden durch die Reproduktionen einiger Bilder des Leipziger Malers Frank Hauptvogel, der eigentlich in die Generation III der Leipziger Malerschule gehört, zu den Rauchs, Weischers, Griesels, auch wenn er deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt. Dabei laden seine Bilder ein, immerfort neu nachzudenken über das Einsamsein, Beharrlichsein, Sichbehaupten auf Erden oder in theatralischen Kulissen. Puppenspieler, Tänzer und Verkleidete gehören bei ihm seit Jahren zum Repertoire. Und ein paar kleinere Texte im Buch versuchen, dem vorsichtig oder spielerisch beizukommen. Aber Hauptvogel ist ja nicht der einzige unter den Leipziger Malern, die immer wieder die Puppenspieler in den Kulissen thematisieren. Fast hat man den Verdacht: In Leipzig kommt man zwingend auf das Thema, und die Maler fühlen sich hier am Ende genauso einsam wie die Dichter. Als hätte es die Zäsur ’89 nicht gegeben, als hätten nur die Puppenspieler gewechselt und die Bühne etwas heller gemacht.

Fragen tun sich da auf. Vielleicht sollte  man doch mal wieder nach Halle fahren und sich die eigene Stadt von außen angucken. Mit dem skeptischen Blick der Dichter.

Ort der Augen,  1 / 2016, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2016, 4,90 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar