Was man für große Städte machen kann, ist genauso auch im Kleinen möglich, auf Stadtteilgröße. Anhand einiger Berliner Statteile hat es ja der Lehmstedt Verlag schon vorgemacht, auch wenn diese Stadteile größer sind als die meisten deutschen Großstädte. Nun startet der Verlag so ein Detail-Projekt auch in Leipzig. Und wo fängt man da an? In Plagwitz, entschied Heinz Peter Brogiato.

Dass der Stadtteil im Leipziger Westen spannend ist für Touristen aller Art, haben auch schon andere Leipziger Stadtführer, die den ewigen Mustopf Innenstadt verlassen haben, festgestellt. Es ist nicht mal nur das sprießende neue Straßenleben, das hier erlebbar ist mit Cafés, Freisitzen, Kulturkneipen. Plagwitz ist eine Vielzahl unterschiedlichster Landschaften, die zusammengehören. Schon von Anfang an, schon seit Carl Erdmann Heine vor 150 Jahren begann, die Gegend um das winzige Dorf Plagwitz mit Straßen, Brücken und Eisenbahngleisen zu erschließen, als er hier etwas schuf, was Leipzig bis dahin gar nicht hatte: ein erstes modernes Industrieareal, logistisch erschlossen, stadtnah gelegen. Genau der richtige Ort zum Wachsen und Sprießen für Unternehmen, die binnen weniger Jahre vom Handwerksbetrieb zum internationalen Exportakteur anwuchsen, tausende Menschen beschäftigten und ruhmreiche Namen trugen.

Ihnen begegnet man natürlich auf der Tour, die der geografisch gebildete Wanderer zusammengestellt hat. Und er fängt da an, wo man anfangen muss, wenn man das alles erklären will: am Carl-Heine-Denkmal an der Käthe-Kollwitz Straße, von wo aus es einfach mal die Karl-Heine-Straße westwärts geht bis zum Bahnhof Plagwitz, und unterwegs kommt man an all den Villen vorbei, die sich die berühmten Leipziger Fabrikanten hier bauten, ein klein wenig entfernt von ihren Fabriken, die weiter im Westen lagen und liegen. Denn von etlichen dieser gigantischen Industriebauten stehen heute noch Gebäude – einige vom Verfall geprägt (und beliebt bei Fotografen von „Lost places“), andere wunderhübsch saniert und in eindrucksvolle Lofts verwandelt.

Was daran erinnert, dass der Startpunkt für das heute florierende Plagwitz im Jahr 2000 gesetzt wurde, als Leipzig mit dutzenden Projekten in Plagwitz an der EXPO 2000 teilnahm und hier den „Wandel“ zeigte. Oder das, was sich Stadtplaner als volbildliches Wandelprojekt vorstellen konnten. Dabei war dieses einst rußige und graue Industriequartier schon mittendrin in diesem Wandel. 1996 war der von Carl Heine begonnene Kanal aufwendig saniert und mit einem Radweg versehen worden. Erst seitdem spielt der Kanal im Freizeitleben der Leipziger überhaupt eine Rolle. Vorher war er nichts als eine fast vergessene Kloake. 1997 wurde auch der Stadtteilpark daneben begonnen.

Solche Eingriffe der Stadt sorgten tatsächlich dafür, dass sich vorher unbeliebte Ecken in Plagwitz als neue attraktive Wohnstandorte entpuppten. Auch wenn der große Zuwachs an Bevölkerung erst zehn Jahre später begann, in einer Zeit, als sowohl die beliebte Schaubühne als auch der legendäre Felsenkeller schon viele Phasen des Auf und Ab der Gefühle erlebt hatten. Denn dass sich hier jemals wieder Kultur ansiedeln würde, daran glaubten die Stadtplaner 2000 noch lange nicht. Das überließen sie lieber den üblichen Verrückten aus der kreativen Szene – die am Ende Recht behielten. Denn dass die Karl-Heine-Straße sich zum lebendigen Boulevard des Westens entwickelte, hatte nichts mit dem frühzeitigen Ausbau der Straße zu tun. Die Kreativen siedelten sich hier an, als der Stadtrat emsig über die Einstellung der Straßenbahn Linie 14 debattierte.

Heute leiden die Kreativen wieder. Die kulturellen Hotspots wie Lindenfels, Westflügel oder Westwerk haben sich etabliert. Dafür sorgt die Aufwertung des Hausbestandes rechts und links für steigende Mieten und wegschmelzende Freiräume.

Für Liebhaber einer eindrucksvollen Industriearchitektur aus dem 19. Jahrhundert, die heute neue Nutzungen gefunden hat, ist die Tour natürlich einzigartig. Es gibt nicht viele Städte in Deutschland, die so viel museale Industriearchitektur auf engstem Raum zeigen können – hübsch abgewaschen und aufpoliert natürlich. Die Maschinen sind längst demontiert, die Öfen aus. Nur einige wenige (zuweilen auch traditionsreiche) Unternehmen sind noch am alten Standort aktiv. Neue Gewerbe haben sich angesiedelt und eingemietet, manchmal steckt im roten Klinkerbau dann auch wieder ein neuer Tanzschuppen, ein Restaurant, ein Museum. Oder – Brogiato macht den ganzen großen Schlenk bis in die Spinnereistraße – auch eine geballte Ladung von Galerien und Ateliers. Gerade die einstige Baumwollspinnerei erzählt von einer spannenden Geschichte, wie sich eine Stadt als Kunst-Standort neu positionieren kann – auch wenn das ebenfalls vor allem durch das Engagement der Künstler, Galeristen und Betreiber selbst geschah.

Leipzigs Marketing freut sich dann nur immer wieder, wenn es entdeckt, dass etwas Neues gewachsen ist und sichtlich funktioniert. Die Galerien-Rundgänge sind längst kein Geheimtipp mehr für die kunstsinnige Stadtgesellschaft, die Gäste kommen längst aus Übersee. Hier ist eindrucksvoll zu sehen, wie Industriearchitektur und neue Kunst sich ineinander fügen.

Und nicht vergessen darf man den Wasseraspekt: Wer in Plagwitz wohnt, hat es nie weit bis ans Wasser, egal, ob Weiße Elster oder Karl-Heine-Kanal, an deren Ufern sich neben einladender Gastronomie auch neue Attraktionen angesiedelt haben – das jüngste ist das Integrationshotel in der Philippuskirche.

Was Brogiato hier gelingt, ist einmal in kompakter Form zu zeigen, wie vielschichtig dieser Stadtteil im Leipziger Westen eigentlich ist. Im Nachhinein wundert es eher, dass er noch 2000 als Problemkandidat behandelt wurde, was eben nur in Bezug auf die (noch) fehlende Bevölkerung gilt. Leipzig hatte in den 1990er Jahren so viel Bevölkerung eingebüßt, dass sich die Stadt tatsächlich nur über Jahre und quartiersweise füllen konnte. Die kreativen Pioniere wussten schon vorher um das bauliche Potenzial des Leipziger Westens, suchten und fanden hier spannende Freiräume. Die Bevölkerungswelle ist ihnen gefolgt. Manchmal hat man heute schon das Gefühl, Plagwitz ist der Prenzlauer Berg von Leipzig – mit denselben Konflikten.

Was freilich nichts daran ändert, dass man bei einem solchen Spaziergang eine Menge Eindrucksvolles zu sehen bekommt, wahrscheinlich schon nach der Hälfte ziemlich fußlahm ist, aber immer weiß, dass man hier auf historischem Grund wandelt. Zumindest, wenn man die Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts schon als Geschichte versteht und nicht unbedingt Schlösser, Burgen und alte Dorfkaten erwartet. Vom ganz alten Dorf Plagwitz ist nichts mehr zu sehen. Die ältesten Zeugnisse stammen aus der Carl-Heine-Zeit. Und weil man auch ein bisschen Orientierung in der lokalen Geschichte braucht, gibt es natürlich auch eine kleine historische Einführung ins Thema. Und im Umschlag des Bändchens natürlich die zugehörige Karte, damit man sich nicht verläuft. Das soll so Manchem schon passiert sein in diesem Stadtteil, in dem Leipzigs große Fabrikanten natürlich auch ganz mächtig und gewaltig dachten. Damals, als Leipzig zur großen Werkstatt wurde.

Heinz Peter Brogiato Leipziger Spaziergänge. Plagwitz, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 4,95 Euro.

In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei

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