Man kann Amerika lieben und trotzdem seine eigene Sicht auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten haben. Beobachter bleiben, Gast, Passant in einem großen Gewimmel. Und alle Stimmungen und Eindrücke wirken lassen. O ja, auch ganz kritische. Ob das diese narzisstischen Amerika-Versteher verstehen? Und die Amerikaner? Für die gibt’s die Extras natürlich auf Amerikanisch.

Dutzende Gedichte und kurze Prosatexte hat der Leipziger Lyriker Ralph Grüneberger auf seinen diversen Reisen in die USA seit 1997 verfasst. Einige sind auch schon in eigenen Bänden veröffentlicht worden – 1999 in „The mystery is You are and you are not“ und 2016 im Künstlerbuch „Bienen über Brooklyn“. Aber Hörbücher liebt der Dichter fast noch mehr. Sie geben den Texten eine weitere Dimension, bringen den Zuhörer zum Innehalten. Denn wann liest man eigentlich Gedichte? Wann lässt man sich wirklich mal drauf ein und lässt sich auch Zeit dabei?

So eine CD, die kann man auch beim Autofahren einlegen oder – wenn man noch einen Walkman besitzt – beim Wandern oder Zugfahren anhören. Dann verwandeln sich die Texte. Und es fällt natürlich auf, dass Grüneberger mit seinen Amerika-Erlebnissen anders umgeht als mit der heimischen Textmaterie, wo er oft genug Geschichten erzählt, regelrechte Parabeln oder Moritaten, weil er die Figuren gut kennt, die Bühne und die Vorgeschichte.

Amerika aber ist ja für jeden, der nicht dauerhaft da lebt, eine Art großes Disneyland. Durch zahlreiche Filme und Nachrichten hat man ein Bild, weiß, wie sich die Amerikaner selber sehen wollen, kennt Reiseberichte von anderen. Und dann fährt man hin und sieht so Vieles bestätigt. Hunderten Bild-und-Text-Reisenden ging es so. Manche mussten sich regelrecht zwingen, die Faszination zu dämpfen und das Gesehene nicht durch die Erwartungen verstellen zu lassen. Ganz kann das auch Grüneberger nicht verdrängen. Dieses Land ist viel zu präsent – auch als Ab- und Gegenbild eines als anders empfundenen Europas.

Auch als stets gepriesenes Vor-Bild. Zu dem auch die entsprechende Substanzkritik gehört. Wer hinüber fliegt, weiß, dass er Amerika immer auch schon mit der europäischen Diskussion über diesen „american way of life“ im Kopf sieht – und dass er das Land mit völlig anderen Prämissen sieht als die Amerikaner selbst.

Was Grüneberger zugute kommt, ist seine Aufmerksamkeit für die alltäglichen Details, für Bilder, Eindrücke, Einsichten, Momente. Das ist überwältigend genug. Egal, ob er den „High Noon in New York“ erlebt oder gar das Christmas Shopping, was bei ihm schnell zum Name-Dropping wird. Es gibt ja ganze Bildbände, die nur Neonreklame aus New York zeigen. Die Stadt ist voller leuchtender Botschaften und Aufforderungen zum Hereinspazieren und Kaufen. Man läuft durch lauter Texte. Und durch Bildikonen. Nicht nur die Freiheit taucht aller drei Sekunden am Horizont auf, auch der 11. September 2001 ist überall präsent. Aber für Grüneberger ist es der Tag danach, der 12. September, als die verzweifelten Suchanfragen der Angehörigen die Nachrichten füllten.

Man reist heutzutage nicht mehr unbefangen um die Welt. Man bringt die Bilder schon mit. Die gesehenen Landschaften haben schon einen Kontext. Was wahrscheinlich sogar sehr europäisch ist. Und für Grüneberger auch typisch: Er hat gelernt, dass es keinen Ort ohne Geschichte gibt, dass Geschichte uns prägt. Es ist egal, ob die europäische Geschichte länger ist und andere Katastrophen hat. Die amerikanische Geschichte gehört zum Grundrepertoire unserer Gegenwartssicht auf die Welt. Und einer wie Grüneberger reist auch nach Virginia mit dem Wissen darum, wie sich deutsche und amerikanische Geschichte verzahnten vor 70 Jahren. Da wird aus diesem Virginia ein etwas anderes „Old Virginia“.

Auch wenn Grüneberger die Texte selbst nicht eingelesen hat. Dazu haben sich begabte Sprecher wie Steffi Böttger, Johannes Gabriel und Axel Thielmann gefunden. Die englischen Texte liest Graham Welsh, denn 12 der Gedichte wurden von Ronald Horwege ins Amerikanische übersetzt. Da bekommt man dann auch ein Gefühl dafür, wie Grüneberger klingen könnte, wenn er ein Amerikaner wäre. Nur: Man weiß die ganze Zeit auch, dass er dann solche Gedichte nicht schreiben würde. Nicht über die Bienenfarmen in New York und die Schafe im Central Park, nicht über den Schautag im “Heidelberg Pastry Shop”.

Ein Ort, der ihn magisch anzog. Denn die Amerikaner haben ja ebenfalls ihr seltsames Vexierbild von Old Europe. Das den aus Sachsen Kommenden zuweilen an Märchenland und Biedermeier erinnert. Wie geht eine Großmacht aber mit einem Land um, das sie mit Heidelberger Bäckerkunst, „Black Forest Clocks“ und Piko-Eisenbahnen aus China assoziiert?

Eine Großmacht, die längst in einer veritablen Krise steckt, die am eigenen Selbstverständnis nagt. Deswegen kommt auch Detroit vor, diese einstige Autostadt, die heute zum Rustbelt, dem Rostgürtel, gehört, wo sich möglicherweise die Präsidentschaftswahlen entscheiden. Die großen Zeiten der Fordschen Fließbandproduktion – vorbei.

Vorbei auch die große Zeit der Indianer. Denkt der reisende Dichter, sieht die braven Angestellten in ihren prächtigen Tänzerkostümen. Und dann – dann ist doch auf einmal der uralte, beeindruckende Sang des Lebens da. Die Botschaft aus einem Land, das eigentlich keine Geschichte haben möchte und immerfort einem Traum nachjagt. Aber welchem, wenn selbst die Träume rosten und die „Königinnen in Kalifornien“ aussterben, weil die hochtechnisierte Landwirtschaft die Äcker mit Tonnen von Chemie besprüht?

Aber genau deshalb liebt man wohl so ein Land, mit „kritischer Zuneigung“, wie Grüneberger betont: Weil es wehtut, wenn man mit den Augen des Dichters sieht, dass der große Traum oft nur noch Fassade ist und darunter die Brüche sichtbar werden, die man auch aus dem eigenen Land kennt. Da aber vier unterschiedliche Sprecher die Texte lesen, entsteht auch eine Art Gespräch, als plauderten vier Menschen im Café an der Interstate mit einer unglaublichen Ruhe über das, was sie erlebt haben. Denn diesen Moment fängt Grüneberger unverkennbar ein: Die USA sind kein rasendes Land wie Deutschland, die Menschen haben spürbar mehr Zeit, die Dinge zu tun. Und sei es, ein schaumloses Bier zu trinken oder einen Kaffee umzurühren in aller Ruhe. Grüneberger selber eilt ja auch nicht, er bewegt sich fort. Und schafft es sogar, in den Dumbarton Oak Gardens zu verweilen, ganz Reisender zu sein, der sich herausnimmt, die Orte in sich einzusaugen, die er findet unterwegs. Und auch mal an die Liebste zu Hause zu denken unterm fremden Halbmond. Die andere Hälfte ist ja bei ihr.

Was ja auch ein Bild für Amerika ist: Wir sehen immer nur die eine Hälfte. Und egal, welche gerade unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, die andere ist immer da. Reisende Dichter tragen sie im Kopf mit sich herum. Und bringen sie wieder mit, frisch bebildert, neu einsortiert. Eine Hör-CD wie ein Bilderbuch, in dem Fort-Bewegung immer nur der Übergang ist von einem Bild ins nächste. Reisen als Kunstform des Innehaltens. Oder eben, wie Grüneberger es ja sichtlich genießt: des Verweilens. Denn wer nie verweilt, der ist auch nie da. Und kommt auch nie an. Oder begegnet sich nie – wie die Liebenden in dem französischen Film, den der Dichter im Flugzeug sah, als er losflog. Die beiden Hälften des Mondes, leicht variiert in stillen Momenten des Innehaltens. Nur das komische Bier braucht wohl wirklich einen Lackmustest.

Ralph Grüneberger „Bienen über Brooklyn. Texte zu Amerika 1997 – 2016“, Hoerwerk Leipzig, Leipzig 2016, 9,95 Euro

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