Vielleicht hat Claas Cordes in seinem Vorwort zu diesem Buch ja Recht, wenn er die „Verdruckstheit der Kritik“ beklagt, die den außergewöhnlichen Leipziger Fotografen Olaf Martens in lauter verschrobene Schubkästen steckt. Und die Einordnung nach Himmelsrichtungen sei dabei nicht einmal der größte Fauxpas. Manche Kritiker können nicht anders. Sie brauchen ihre Schubkästen. Ist eben fatal, wenn man nur ein kleines Spezialgebiet hat.

Denn Olaf Martens, der 1963 in Halle geboren wurde und 1985 sein Studium an der HGB in Leipzig aufnahm, ist nun einmal ein Künstler. Ein richtiger. Einer, der seine eigenen Maßstäbe definiert und sich einen feuchten Kehricht um die Einordnungsversuche der Kritiker kümmert. Das wissen die besten Magazine des Landes genauso zu würdigen wie die solventen Auftraggeber aus der Wirtschaft, die genau wissen, dass sie von diesem akribischen Arbeiter mit Licht und Farbe Bilder bekommen werden, die sonst niemand anders erschaffen würde.

Kein Helmut Newton oder wen immer die Kritiker zum Vergleich heranziehen. Wenn sie denn überhaupt vergleichen und die Herkunft aus dem östlichen Landesteil nicht gleich als Begründung dafür nehmen, den Künstler abzuwerten und aus dem Fokus zu schieben. Denn Kunstkritik in Deutschland ist auch heute noch fast ausschließlich westliche Kritik. Selbst dann, wenn ostdeutsche Regional-Gazetten mal wahrnehmen, was so passiert im Land. Dann werden sie noch westlicher als die Päpste in Frankfurt oder München. Das sitzt tief. Das hat so 1990 begonnen und nicht wieder aufgehört.

Und so bestärken die lokalen Schubladenbestücker die alten, längst betonierten Vorurteile, die die Welt nur aus westdeutscher Sicht einordnen und ordnen können. Östlich von Elbe und Harz ist noch immer Sibirien.

Auch das gehört zum großen Thema deutsch-deutscher Missverständnisse. Selbst wer nach 1990 geboren wurde, muss sich die „zweite deutsche Diktatur“ unter die Nase reiben lassen. Oder bekommt – verschämt durch die Blume – die Zweitklassigkeit verliehen.

Das erspart ernsthafte Beschäftigung miteinander. Und mit diesen Bildern, in denen Olaf Martens alles ist – Beleuchter, Regisseur, Geschichtenerzähler, Fotograf und Maler. In dem Sinn, in dem ein Dali Maler war oder ein Neo Rauch Maler ist. Denn dort findet man die stärkste Nähe: Olaf Martens inszeniert seine Fotos wie große, opulente Gemälde. Er lässt die Farben leuchten und setzt die Beleuchtung so raffiniert, dass man das Gefühl bekommt, gleich drängen seine Heldinnen aus dem Bild – oder sie schweben. Er liebt die Irritation des Sehens, spielt mit Masken, Kostümen, Spiegeln. Deswegen Dali als Vergleich: Olaf Martens ist der wohl perfekteste Surrealist, der jemals fotografiert hat.

Nichts überlässt er dem Zufall. Und er hat den Blick, den viele Fotografen gar nicht haben – für das Bizarre eines Ortes, in dem er seine Models arrangiert, egal, ob das der Montageplatz eines Tagebaus im Leipziger Süden ist, ein altes Hotel kurz vor der Kernsanierung, eine alte russische Kirche, in der die russische Marine trainiert, abgebrannte Datschen, alte Barockschlösser oder ein Trödelhändler in Chemnitz.

Die langbeinigen jungen Frauen, die seine Fotos beleben, sind längst ein Markenzeichen. Bereitwillig lassen sie sich verkleiden – mal mit Tauchanzügen, mal mit Gasmasken, mal im Ballettkostüm oder in schwarzen Dessous. Gerade ihre Schönheit wird bei Martens zum Motiv der Verfremdung. Er drapiert sie in eindrucksvollen Interieurs – oft genug halb entkleidet. Und dennoch werden es keine erotischen Bilder. Dazu wird das Ergebnis viel zu sehr zur Inszenierung, zur verspielten Aneignung des Raumes, jedes Foto ein kleines Schauspiel, in das Martens auch nur zu gern allerlei Beobachter einbezieht.

Es ist ein wildes Spiel mit dem Sehen und Zuschauen. Gerade in den Bildern, in denen er Frauen mitten in Nahrungsmitteln platziert, wird ein zentrales Motiv besonders deutlich: Dass Schauen und Schmausen verwandte Lüste sind; dass Schauen auch Appetit machen darf und Bilder opulent sein dürfen.

Der Band vereint Bilder aus den frühen 1990er Jahren, als Martens seine Art, Fotos zu erschaffen, entwickelte – bis hin zu den großen Inszenierungen der letzten Jahre. Die einzelnen Bilderstrecken werden von tagebuchartigen Aufzeichnungen unterbrochen, in denen Sabine Reinhardt-Martens quasi für den Künstler einige der Entstehungsgeschichten der Bilder sichtbar werden lässt – vom Fototermin in Istanbul bis hin zu den fast traumhaften Aufnahmen aus der Lausitz, in denen er die Mädchen in den Kostümen ihrer Heimat regelrecht schweben lässt. „Wunder geschehen“ könnte fast so etwas wie sein Arbeitsanspruch sein.

Er sieht, was an Atmosphäre in Räumen steckt, er weiß, wie er Farben zum Leuchten bringen kann und wie er Räume und Models ausleuchten muss, damit die Bilder zum „Kairos des Augenblicks“ werden, zum sichtbar gemachten „Reich der Phantasie“. Und da wird nichts retuschiert oder am Computer gebastelt. Martens weiß, wie er seine Technik vor Ort einsetzen muss, um diese halb-luziden Momente zu schaffen, die irgendwie zwischen Traum und lukullischer Schaulust angesiedelt sind.

„Mein Lebenselixier ist die große Truppe mit mir lustvoll im Reich der Phantasie.“

Wer seine Kamera so beherrscht, dass er das immer wieder in neue, opulente „Gemälde“ umzusetzen versteht, der ist etwas Besonderes. Erst recht, weil er auch die Freude am Dasein und am Sinnlichen sichtbar macht, sich nicht in abstrakte Welten flüchtet, wie das heute nur zu oft üblich ist. Da werden selbst Hausabrisse, leer geräumte Verlagsgebäude und TV-Geschäfte zum Ort der schönen Inszenierung. Schön im ganz nüchternen Sinn: Diese jungen Frauen haben sichtlich Spaß an der verrücktesten Verkleidung und am Schau-Spiel.

In einem Essay versucht Claas Cordes dann auch noch die befremdende Exotik des Ostens kurz vorm Abzug der Sowjettruppen zu erfassen und dabei mit dem Bild der ungeliebten Melone zu spielen – ein Martens-Foto einer so herzhaft ergriffenen Melone gehört dazu. Aber man merkt gerade an diesem Essay, wie schnell einen Bilder verführen können – auch in benachbarte und trotzdem völlig andere Bildwelten.

Aber damit verstärkt Cordes ja die Martenssche Arbeitssicht: Man muss nur genug Phantasie haben, um in Menschen, Orten und Landschaften das Faszinierende zu erspüren, das sie zum Bild werden lässt. Martens zeigt – mit sehr östlicher Freude am Bilderschaffen, dass auch Fotografie von Geschichten lebt. Skurrilen und subversiven Geschichten zuweilen. Man muss nur hinschauen und muss aufpassen, dass man nicht hineingesogen wird in diese Geschichten.

Jetzt hab ich doch geschrieben, dass das sehr östlich ist – aber eben in einem viel größeren Sinn, einem, der an Gogol und Tschechow erinnert und die spröden Schönen bei Tolstoi. Sehr vertraut, so wie der Kiefernwald, in dem die Sorbenmädchen zu irrlichtern scheinen, als wären sie Märchengestalten, die einen necken, und dann sind sie weg.

Und dass Martens seine Märchen und Mythen kennt, lassen auch die Texte durchblicken. Samt dem Newton-Mythos um das – inzwischen verschwundene – Hotel Bogotá in Berlin, zu dem Martens auch die ganze Vorgeschichte erzählt. Da bekommt man so eine Ahnung, wie überlegt dieser Surrealist unter den Fotografen seine Bilder vorbereitet und durchdenkt. Eigentlich sind sie schon lange fertig, bevor er auf den Auslöser drückt. Das fertige Foto macht sie nur sichtbar für uns Laien der Fotoknipserei, die dann staunend davor stehen und sich natürlich auch fragen: Wie hat er das nur wieder gemacht?

Ein surrealistischer Perfektionist ist das. Oder ein perfekter Surrealist. Der auch immer fertigbringt, was nur den großen Märchenerzählern aus dem Osten gelingt – mit herrlichem Humor zu zeigen, wie grandios sich Schönheit und Ironie verbinden können. So wie bei Neo Rauch, der so ein bisschen etwas Verwandtes treibt in der Malerei. Und auf was für Geschichten einer dann kommt, das kann man in diesem Band jetzt freudenvoll erblättern.

Olaf Martens; Claas Cordes Heimat und Tapeten, Passage Verlag, Leipzig 2018, 25 Euro.

1813 – Geschichte leben: Olaf Martens eindrucksvolle Bilderschau zu den Darstellern der napoleonischen Schlachten

1813 – Geschichte leben: Olaf Martens eindrucksvolle Bilderschau zu den Darstellern der napoleonischen Schlachten

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