Seit Dienstag, 4. Juni, ist im Stadtgeschichtlichen Museum die Ausstellung mit Fotografien von Sighard Gille „Camera Obscura. Leipzig“ zu sehen. Großformatig aufgezogen zeigt sie Aufnahmen, die der bekannte Maler mit einer Kameratechnik aufgenommen hat, die gerade durch ihre archaische Herangehensweise faszinierende Bilder ergibt. Zumindest bei jedem dritten Bild. Doch diese Bilder werden dann auch zu einem eindrucksvollen Bildband.

Den gibt es gleich in der Ausstellung, für alle, die sich von den Bildern der Ausstellung haben begeistern lassen. Oder einfangen lassen, was dem Effekt dieser Aufnahmen wohl am nächsten kommt. Denn die Fotos, die Sighard Gille mit seinen selbst aus klassischen Kameras gebauten Lochkameras herstellt, wirken nicht – wie moderne Higtech-Fotos – durch Detailschärfe, bunte Farben und professionelle Ausleuchtung, sondern durch das Licht. Im Grunde kehrt Gille ja mit der Aufnahmetechnik an den Ursprung des Sehens zurück. Seine Kameras haben keine Linse. Die ersetzt er komplett durch ein schwarzes Stück Papier, in das er ein winziges Loch bohrt, durch das das Licht fallen und den Rollfilm in der Kamera belichten kann.

Das dauert seine Zeit – mindestens ein paar Sekunden, oft auch mehrere Minuten. Gille muss die Zeit, die es braucht, selbst abschätzen. Aber da er mit diesen selbst gebauten Lochkameras nun schon seit über 30 Jahren arbeitet, hat er mittlerweile ein Händchen dafür. Die Kameras kommen auf ein Stativ oder einen festen Untergrund. Schärfe einstellen kann man nicht, braucht man auch nicht, betont der Maler, den gerade dieser Effekt des unfokussierten Fotografierens begeistert. Denn dadurch gewinnen Gebäude und Landschaften eine dichte Präsenz im Bild, ausgeformt durch das Licht, das den fotografierten Räumen jedes Mal eine fast träumerische Atmosphäre gibt. Bewegte Gebilde wie Autos, Wolken oder Menschen „verschwinden“ dabei. Sie sind zu kurz im Bild, um mit „eingefangen“ zu werden.

Was für einen Effekt sorgt, den Gille besonders mag: Selbst menschenreiche Orte wie New York, wo man praktisch nicht fotografieren kann, ohne ein Gewimmel von Menschen mit ins Bild zu bekommen, werden auf einmal menschenleer. Leere Straßen und Plätze – auch in Hamburg, Jerusalem und Rom, wo Gille seine Lochkameras ebenfalls zum Einsatz brachte. Auch um vorzubeugen. Man kommt ja nicht so schnell wieder hin. Aber das Malerauge ist hungrig. Und so fotografierte Gille bei seinen Reisen alles, was ihm wichtig war festzuhalten, mit seiner Lochkamera.

Was für eindrucksvolle Architekturaufnahmen ihm dabei gelangen, ist in der Ausstellung zu sehen. Manches erinnert auffällig an die frühe Fotografie, als die Kameras wenig mehr konnten als Gilles Lochkamera. Aber gerade weil das so war, sind die alten Aufnahmen so plastisch, sind von der Stimmung des Tages erfüllt. Und sie erinnern daran, dass wir natürlich nicht so in die Welt schauen, wie es uns die modernen Digitalkameras suggerieren.

Auch unsere Augen arbeiten ja ganz ähnlich wie Lochkameras. Das, was wir „sehen“, wird erst im Gehirn (re-)konstruiert aus all den Signalen, die unsere Sehnerven aufnehmen. Und wir „sehen“ im Grunde auch fast alles ganz ähnlich unscharf wie die Lochkamera. Die auf plastische Konturen reduzierte Welt ist unsere eigentliche Wahrnehmung – speicherplatzsparend, wie es die Kognitionsforscher gern nennen. Wir nehmen wahr, was wesentlich ist. Das aber, was wir „bewusst“ wahrnehmen, wird von unserem Gehirn angereichert, hier wird der Datensatz ergänzt und verdichtet, wird „scharf gestellt“.

Was die Lochkamera, die auf dem schon von Renaissance-Künstlern benutzten Prinzip der Camera obscura beruht, natürlich nicht kann. Sie bildet die Details nicht ab, sie vereinfacht – und macht deshalb etwas sichtbar, was Künstler wie Gille suchen und auch sehen können. Denn zum Studium der Malerei kam Gille ja nach seiner Ausbildung zum Fotografen. Nur gab ihm die Fotografie damals nicht das, was er zum Ausdruck bringen wollte. Das schaffte erst die Malerei. Worauf er in diesem großformatigen Bildband im Gespräch mit Kuratorin Nadja Staab eingeht, die natürlich wissen wollte: Wie kommt ein Maler dazu, nun ausgerechnet mit einer Lochkamera die Welt ablichten zu wollen? Was bewegte ihn dazu?

Und es war nicht nur der eigenwillige Protest gegen die Übertechnisierung in der Kameratechnik, der Gille schon in den 1980er Jahren dazu animierte, mit Lochkameras zu experimentieren. Es war auch dieser Wunsch, mehr sehen zu wollen. Wissend, dass man auch als Maler mit dem genialen Instrumentarium unseres Sehapparates meist zu viel sieht, abgelenkt wird durch Details, Nebensächlichkeiten, Glanzpunkte. Selbst beim Malen von Akten verwendet er gern Lochkameras. Denn deren Bilder zeigen ihm dann auch das, was in der realen Situation oft nicht zu sehen ist: die wirkliche Präsenz des Körpers im Licht. Das, was gute Maler unterschwellig natürlich „sehen“, manchmal auch mehr ahnen. Sie wissen, dass es da ist.

Manche Fotografen wissen es auch. Sie „spüren“, wann eine Szene oder ein Raum beginnen, lebendig und präsent zu sein. Wo der richtige Standort und der richtige Blickwinkel sind. Und wie das Fotografierte im Ensemble des Bildes auftauchen muss. Sie wissen, wie man das Wesentliche sichtbar machen kann. Selbst bei tausendfach schon fotografierten Motiven.

Und darum geht es bei der Auswahl für diesen Band, denn im Grunde sind die ausgewählten Leipzig-Motive auch eine Wunscherfüllung für das Stadtgeschichtliche Museum. Dass Gille seit Jahren mit seinen Lochkameras auf Reisen geht, war schon bekannt. Samt seinen Buchveröffentlichungen mit Lochkamera-Bildern – 1994 zum Beispiel erschien schon „Pinholecamera“. Aber das Museum wollte neben die eindrucksvollen Bilder aus New York, Hamburg, Jerusalem und Rom unbedingt auch Leipzig-Bilder hängen, als Ergänzung und als Korrespondenz.

Denn natürlich verwandelt sich auch Leipzig, wenn man es mit einer Lochkamera aufnimmt, ändert sich der Blick auf Völkerschlachtdenkmal, Kleinmesse, Sachsenbrücke und selbst die Bäume in den Parks. Jedes Motiv ist eine Einladung, sich mit den abgebildeten Orten neu zu beschäftigen, anders wahrzunehmen, was es dort zu sehen gibt. Und Gilles Fotos helfen dabei, denn sie laden ja ein, all diese Orte aus ungewohnter Perspektive zu betrachten und damit ein Stück weit auch in die Haut des Künstlers zu schlüpfen.

Das so gesehene Leipzig hat etwas Traumhaftes, nicht nur durch die weitgehende Abwesenheit der Menschen, sondern auch durch den nivellierenden Charakter der Aufnahmen, die gerade deshalb, weil sie das zentrale Motiv nicht schärfer darstellen als die Umgebung, dazu einladen loszulassen, das Gesehene im Ganzen auf sich wirken zu lassen. Und dabei ein wenig aus der Zeit zu fallen, aus der ganzen Eile, die von der Lochkamera nicht mehr eingefangen wird. Man landet in einer Welt, in der man wieder Zeit hat und langsamer gehen kann, im Grunde wie der Maler selbst, der sich das Recht zurückerobert, die Welt in Ruhe betrachten zu dürfen.

Seitengroß sind die Leipziger Motive aufgezogen. Dazu gibt es auch noch drei Bilder, die Gille malerisch verfremdet hat. Eine Einführung von Ina Gille und das von Nadja Staab geführte Interview ergänzen den Band. Ein Band, der den Gille-Kennern nun auch ein Stück weit etwas über die Sehweise des Malers verrät. Und ein Leipzig zeigt, wie es in der heutigen Hektik oft kaum noch zu erkennen ist.

Sighard Gille „Camera Obscura. Leipzig“, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Hrsg: Anselm Hartinger, Leipzig 2019, ISBN 78-9100034-82-2, 12,50 Euro

Stadtmuseum zeigt ab heute beeindruckende Camera-obscura-Fotografien von Sighard Gille

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