Wer hätte nicht gern einen berühmten Vorfahren in seinem Stammbaum? Irgendein Genie, und seien es auch so ausgeflippte Typen wie Alexander Puschkin oder Ernest Hemingway. Auf den ersten Blick scheint es in diesem Buch darum zu gehen. Alles fängt mit Puschkin an und seinem Aufenthalt im Sommer 1820 in einem kleinen Nest am Dnepr mit dem Namen Zaporoschje, dem Verlust eines Rings und der vagen Vermutung einer intimen Begegnung.

Eigentlich gehörte auch dieses Buch in die Reihe „sonar“, in der der Verlag Voland & Quist immer neue Entdeckungen der grandiosen Literatur Osteuropas präsentiert. Aber Svetlana Lavochkina lebt nicht mehr in der Ostukraine, wo sie aufgewachsen ist, sondern in Leipzig. Und ihren Roman veröffentlichte sie 2015 zuerst auf Englisch unter dem Titel „Zap“, der Abkürzung für Zaporoschje, denn die Stadt ist irgendwie doch die stille Heldin des Romans, der nach dem kurzen, romanesquen Einstiegskapitel mit dem in seine Verbannung im Süden reisenden Puschkin in der Breschnew-Zeit handelt, den späten 1970er Jahren. Die Familie Katz feiert in ihrer doch ziemlich kleinen Wohnung Silvester und aus Moskau reist Alla an, die Pädagogikstudentin, die sich aber nicht mit den ungezähmten Kindern in der Schule abgeben möchte und deswegen ihre Dissertation schreiben will über das Werk Ernest Hemingways.

Zum nächsten Silvester drei Jahre später hockt sie zwar immer noch darüber. Einen Mann hat sie noch immer nicht gefunden. Aber was uns mit diesem ersten Silvester 1976 begegnet, ist schon ein launiger Einblick nicht nur in die knisternden Machtspiele einer jüdischen Familie, die jetzt versucht, die männerscheue Nichte mit dem aus Odessa angereisten Mark zu verkuppeln, wir landen auch mittendrin im sowjetischen Alltag mit all seinen Verrenkungen, dem allgegenwärtigen Mangel, den schlecht bezahlten Lehrern und Krankenschwestern, den Träumen vom großen Glück (und den Wunderwaren der westlichen Welt) und der allgegenwärtigen Korruption, die überall dort blüht, wo die Lüge regiert.

Einstige Bewohner der DDR kennen das ein wenig. Eifrige Leser von Büchern sowjetischer Autoren kennen es noch viel besser: Die in großen Gemeinschaftswohnungen zusammenpferchten Familien, den blühenden Schwarzhandel und die Abgehobenheit der Nomenklatura, die wie ein neuer, gieriger Adel auf der mageren Fischsuppe schwamm und sich Privilegien sicherte, von denen die landläufigen Aljoschas und Sinaidas nur träumen konnten.

Deswegen erinnert vieles in diesem Roman auch an die ganz Großen der sowjetischen Literatur – an Michael Bulkakow, an Ilf und Petrow und Sostschenko … die Letzteren nicht ganz ohne Grund genannt, denn was Svetlana Lavochkina geschrieben hat, ist nicht nur ein burlesker Familienroman, sondern auch eine humorvolle und zutiefst tragische Parodie ganz im Stil der russischen Satire. Gogol wird ja im Buch auch erwähnt. Er gehört zu jenen russischen/ukrainischen Klassikern, die der arme Russischlehrer Josik versucht seinen Schülern nahezubringen, denen aber die ganze Klassik genauso piepegal ist wie der Sieg des Kommunismus.

Von dem in diesem tristen Zaporoschje der späten Breschnew-Zeit sowieso nichts zu sehen ist. Mark aus Odessa handelt mit gefälschten Jeans. Der Frauenarzt, dem Alla (verniedlichend Alka genannt) schon im Fernzug aus Moskau in einer höchst verwirrenden Situation begegnet, entpuppt sich später nicht nur als Schürzenjäger und Wunderheiler. Er ist auch die erste sichtlich bis ins Groteske überzeichnete Gestalt, die von jener russischen Doppelgesichtigkeit erzählt, die einem seit Gogols „Tote Seelen“ so vertraut ist. Die Volksseele erzählt sich regelrechte Schauermärchen über die Großen Tiere und ihre Raubzüge. Und die Wirklichkeit übertrifft die Phantasie des Volkes auf rücksichtsloseste Weise.

Es ist also kein Wunder, dass die zu dieser Silvesterparty Zusammengekommenen eigentlich alle von einem anderen Leben träumen. Der eine von der großen Entdeckung, die endgültig beweist, dass er ein Urenkel des berühmten Puschkin ist, die nächste von einer Partnerschaft, die sie auch sexuell beglückt, der Großvater von einer neuen großen Brücke über den Dnepr und die Großmutter von einer alten Liebe, die sie nie leben konnte. Und was einem scheinbar übersprudelnd von derbem russisch-ukrainischen Humor entgegenschäumt, erweist sich in intimen Szenen als ein rücksichtsloses Fingerhakeln, Sticheln, Beleidigen, als eine latente Aggressivität, die eigentlich nur von einem, erzählt: Hier fühlt sich keine und keiner wirklich glücklich mit seinem Leben und was sie oder er darin erreichen konnte.

Der Kommunismus erweist sich als eine Gesellschaft, die Träumen ihren Boden entzieht und Menschen in stupide Rollen zwingt, in der sich Individualität und Leidenschaft nicht entfalten dürfen.

Woraus dann der hochmütige Frauenarzt Arifon Esaw-Yantz seine Macht bezieht, sein Bruder Tigran die Ideen für seine demaskierenden Bilder und der Streit der Großmütter seine Brisanz. Denn wenn man in so einer postfeudalen Gesellschaft nicht bereit ist, sich mit kriminellen Methoden sein Stück vom Kuchen abzuschneiden, bleibt nur noch der Aufstieg durch Beziehungen oder Heirat. Das ach so glückliche Reich der Utopie entpuppt sich als ein graues Reich der permanenten Enttäuschungen, der stillen Verzweiflung und der ungestillten Träume von einem anderen Leben.

Es wird ein Schelmenroman, in dem die Schelme zu fehlen scheinen, ein Teufelsroman, in dem am Ende tatsächlich der Teufel verbrennt und Alla sich völlig im Nebel ihrer Träume verrennt, letztlich darin verloren geht. Und es fällt einem schwer mitzufühlen, denn ihre Verletzlichkeit verbirgt sie hinter einem angelesenen snobistischen Gehabe, das nur den unerschütterlichen Mark nicht abschreckt.

Mit Tigran lernen wir ein Stück der Moskauer Bohème jener Zeit kennen. Aber im Vorblatt des Buches weist der Verlag – vielleicht aus lauter Verlegenheit – darauf hin, dass einige Begriffe im Text nicht der Haltung des Verlages entsprechen. Was nicht an Diana Feuerbach liegt, die den Roman aus dem Englischen übersetzt hat. L-IZ-Leser kennen sie schon seit ihrem eigenen Odessa-Roman „Das Ende der Reise des Guy Nicholas Green“. Das Odessa in ihrem Roman ähnelt nicht zufällig dem, das auch Svetlana Lavochkina schildert, denn in den Zeiten der Sowjetunion war ja das heruntergekommene Odessa gerade deshalb auch immer ein Sehnsuchtsort, eine Stadt, in der sich das zugemauerte sowjetische Reich mit dem Westen und dem Süden traf.

Aber damit wird auch das Thema Ukraine angeschnitten und der eigentümliche Nationalismus, der auch in der gefeierten Union der Sowjetrepubliken sichtbar wurde, wenn mal ein wenig an der bunten Matrjoschka-Schale gekratzt wurde. Und er ging wohl auch ganz schnell über zum alten russischen Antisemitismus, der auch am Familientisch der Katz angesprochen wird. Denn der Antisemitismus findet in so einer Gesellschaft, in der Karriere und Reichtum ganz offensichtlich nur auf korruptem Weg zu erreichen sind, natürlich seinen Nährboden.

In ihm verstecken sich all die Vorurteile und Gefühle der Benachteiligung, die Menschen mit sich tragen, die sich stets nur als Bürger 2. oder 3. Klasse fühlen. Dass sich auch Ostdeutsche heute noch so fühlen, hat genau damit zu tun. Das vererbt sich, wenn man es immer nur unter die Decke kehrt, so tut, als gäbe es das nicht. Logisch, dass einige der Protagonisten dann auswandern – die einen nach Israel, Mark in die USA, wo er anfangs scheinbar völlig zu scheitern scheint. Am Ende gehört er zu den wenigen, die mit ihrem Leben noch einigermaßen im Reinen sind. Und überlebt haben. Denn eigentlich ist es auch ein zutiefst tragischer Roman. Denn nicht nur der teuflische Bösewicht stirbt, sondern auch der Lehrer und verhinderte Dichter Josik und die so tatendurstig nach Odessa abgereiste Großmutter Manja. Der eine vom Dnepr verschlungen beim Versuch, es seinem großen Vorbild Puschkin nachzumachen, die andere wohl von der Mafia beseitigt. Das erfährt man nicht genauer.

Und auch wenn im Buch jede Menge von Puschkin, Tschechow und Hemingway die Rede ist und nicht nur Alla wilde Konstrukte erfindet, um sich zur begnadeten Nachfahrin eines berühmten Autors zu machen, führen die erzählerischen Spuren bei Lavochkina zu den beiden berühmtesten ukrainischen Autoren und ihren berühmtesten Romanen – zu Gogol und Bulgakow, die natürlich auch den unheilbaren Zwiespalt zwischen Provinz und Moskau thematisierten, genauso wie die Großmannssucht der jeweils mächtigen Beamten und Funktionäre, diese raffgierigen Diener der Macht, die eine ganze Gesellschaft heillos korrumpieren und das alltägliche Leben zu einem fadenscheinigen Theater machen, in dem jeder eine Rolle spielt mit falscher Maske und wo sich die Not, sich in so einer Gesellschaft irgendwie behaupten zu müssen, bis in die Familien hineinfrisst.

Und Alla ist dabei die tragischste Gestalt, so ruppig und eiskalt sie stellenweise erscheint. Auch in der Burleske kann sich tiefste Tragik verbergen. Und in der Groteske die Wahrheit über eine Gesellschaftsutopie, die viel früher gestorben ist, als es ihre Funktionäre jemals zugegeben hätten. Von außen hat diese russische/ukrainische Überschwänglichkeit immer fasziniert, diese wodkagetränkte Großmäuligkeit, aber von innen betrachtet war sie schon immer tragisch und dämonisch. Und nicht nur Alla gerät bei diesem Versuch, irgendwie etwas Besonderes sein zu wollen, in eine Rolle, die sie letztendlich verschlingt.

Am Ende lässt Svetlana Lavochkina gar noch die berühmte Brücke über den Dnepr einstürzen und Puschkins Ring wieder auftauchen. Das lässt sie ein paar fiktive Zeitungen erzählen. Denn die Welt dreht sich weiter. Neue banale oder sensationelle Ereignisse verdrängen die alten aus der Wahrnehmung. Der Tod einzelner Menschen wird zur Randnotiz. Und Josiks Tochter Sonka „schert sich einen Dreck um Gedichte, egal, ob von Puschkin oder von Dir; sie hat die russische Sprache vollkommen vergessen.“

Da ist wieder die derbe Wortwahl, über die man ja nachdenkt nach der Warnung des Verlages. Aber wie will man über den latenten Nationalismus und Antisemitismus schreiben, wenn man deren Wortwahl nicht anführen kann? Das ist der blinde Fleck in der Sprachsäuberung unserer Zeit, die mit den Worten auch gleich die Haltungen dahinter aus der Literatur kehren möchte. Aber genau dann wird Literatur stumpf, weil sie dann nicht mehr von den wirklichen Abgründen erzählen kann, die jederzeit aufreißen können, wenn neue Natschalniks meinen, wieder zündeln und feuern zu müssen.

Es sind diese Worte, die Menschen sortieren nach Dazugehören und Irgendwie-anders-sein. Auch dann, wenn die Menschen in diesem stark überzeichneten Zaporoschje alle unter denselben Bedingungen und Entbehrungen leben. Gerade dann sind sie leicht zu missbrauchen, all ihre Gefühle des Nichtgelebten auf die anderen zu fokussieren und das Misstrauen zu nähren, das sich zu dämonischen Gestalten auswächst.

So kommt man von Gogol in die Gegenwart. Nicht nur die der heutigen Ukraine mit ihren Dämonen, auch die unseres seltsamen Landes, das lieber die Worte zuklebt, als sich den eigenen Dämonen zu stellen.

Termintipp: Am Mittwoch, 23. Oktober, kann man Svetlana Lavochkina im Gespräch mit der Übersetzerin Diana Feuerbach zum Literarischen Herbst im Café „Telegraph“ am Dittrichring erleben, wo sie „Puschkins Erben“ vorstellen. Beginn der Veranstaltung ist 20 Uhr. Eintritt: 8/6 Euro.

Svetlana Lavochkina Puschkins Erben, Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig 2019, 24 Euro.

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