Den kennst du doch, sagte da so ein BauchgefĂŒhl. Und schnappte sich das Buch. Und siehe da: Man darf ĂŒberrascht sein. Weil selbst so eine einfache, nicht mal sensationell aufgemachte Biografie zeigt, dass der Osten sehr wohl Persönlichkeiten und ein eigenes Profil hatte. Nur geht das im deutsch-deutschen Gezeter völlig unter. Als hĂ€tte es Menschen wie Axel Noack nie gegeben.

Und man muss nicht lange lesen um mitzukriegen, warum das so ist, wie deutsch-deutsche Kolportagen ĂŒber das, was geschehene Geschichte zu sein hat, funktionieren. Es passiert ganz in der Stille, ganz automatisch. Es ist wie ein großes AufrĂ€umen, Vergessen und Wegkehren – und dann wundern sich alle: Na so was, wie konnte das denn passieren? Keine oder nur handverlesene Ostdeutsche in FĂŒhrungspositionen in Wirtschaft, Forschung, Justiz, wichtigen LehrstĂŒhlen – und das wohlgemerkt im Osten und in gesamtdeutschen Gremien. Selbst in der EKD, wie Bettina Röder feststellen kann: „Heute ist ĂŒbrigens ĂŒberhaupt kein Ostdeutscher mehr im höchsten Leitungsgremium der Evangelischen Kirche in Deutschland.“ Na so was.

Axel Noack war dort 1991. Denn er war eine zentrale Gestalt bei der Wiedervereinigung der Evangelischen Kirche in Deutschland, nachdem die acht ostdeutschen Landeskirchen 1969 einen Sonderweg eingeschlagen hatten, um sich von der SED nicht weiter gegeneinander ausspielen zu lassen. Ein Sonderweg mit Folgen, denn er stĂ€rkte nicht nur das Bewusstsein der Evangelischen Kirche dafĂŒr, dass sie eine eigene, unabhĂ€ngige Position zum StaatsverstĂ€ndnis der SED finden musste, sondern auch ihr ostdeutsches Profil schĂ€rfen musste, um sich eine auch von den eigenen Mitgliedern wahrgenommene EigenstĂ€ndigkeit gegenĂŒber dem kontrollsĂŒchtigen Staat zu bewahren.

Und dazu gehörte auch eine eigene Kirchenarbeit, die sich direkt mit den Sorgen der eigenen Mitglieder beschĂ€ftigte, die sich deutlich von den Sorgen der westdeutschen Protestanten unterschieden. Was auch Noack verblĂŒffte, wie stark diese Unterschiede waren und wie sehr sich beide Kirchenteile ĂŒber Jahre gegenseitig in TrugschlĂŒssen bewegt hatten. TrugschlĂŒsse, die schon 1991 fatale Folgen zeitigten.

„Moment mal, das ist doch unser Leben gewesen“

Was Bettina Röder, die dieses Buch quasi zum 70. Geburtstag des Pfarrers, Bischofs und Hochschulprofessors zusammengetragen hat, so beschreibt: „Der Tenor der Beratungen der Teilnehmer aus dem Westen habe ihn damals ,ein bisschen aufgeregt‘. Die hatten die Ost-Teilnehmer vor dem Hintergrund des Mauerfalls und der neu geschenkten Freiheit nach vierzig DDR-Jahren mit den Worten begrĂŒĂŸt: ,Freut euch, BrĂŒder, ihr habt es hinter euch.‘ Da habe er sich als Teilnehmer aus dem Osten nur verwundert gedacht: ,Moment mal, das ist doch unser Leben gewesen!‘“

KĂŒrzer kann man es nicht auf den Punkt bringen. Und wer die aktuellen Diskussionen verfolgt, sieht: Es hat sich nichts geĂ€ndert. Wie der Osten gesehen wird, das wird noch immer in von Westdeutschen besetzten Gremien bestimmt. Sie können mit diesem seltsamen und eigenwilligen Landesteil nichts anfangen. Und sie gehen damit um wie ostdeutsche Provinzler mit AuslĂ€ndern: voller Misstrauen, VerdĂ€chtigung und UnverstĂ€ndnis. Unvorstellbar, dass in einer ĂŒber 40 Jahre verteufelten („zweiten deutschen“) Diktatur selbstbewusste und selberdenkende Menschen herangewachsen sein könnten.

Wobei gerade Axel Noack dafĂŒr exemplarisch ist, der in seiner Jugend in Halle zwar schon in intensiven Kontakt mit der Kirche gekommen ist, der aber eigentlich nicht vorhatte, Theologe zu werden. Eigentlich wollte er Mathematik studieren. Sein Abitur war blendend. Aber er erlebte selbst, wie die ostdeutschen Machthaber tickten, denn gleichzeitig verweigerte er den „Dienst an der Waffe“, war schon als junger Mensch ĂŒberzeugt, dass es in Armeen keinen Friedensdienst geben könnte, egal, was die MĂ€chtigen erzĂ€hlen. Aber wenn es um einen Studienplatz in der DDR der 1960er Jahre ging, war die Verpflichtung zum (lĂ€ngeren) Wehrdienst praktisch das Zulassungskriterium Nummer 1. Noacks Bewerbung um einen Mathematikstudienplatz in Halle wurde abgelehnt.

Es gibt immer Alternativen

Nur dass sich der junge Mann davon nicht entmutigen ließ, denn von seinen Eltern hatte er gelernt, dass es immer Alternativen gibt. In diesem Fall auch Alternativen, die dem jungen Mann bei der Betreuung von behinderten Menschen in Lobetal die Freude erleben ließen, die es mit sich bringt, wenn man wirklich mit Menschen arbeitet und erfĂ€hrt, wie die eigene Arbeit andere bereichert. Und da in der DDR an ein Mathematikstudium fĂŒr ihn nicht zu denken war, bewarb sich Noack 1969 kurzerhand fĂŒr ein Theologiestudium am Katechetischen Oberseminar Naumburg, schlug also den Weg so vieler anderer ein, die mit ihrer Unangepasstheit an den „sozialistischen Hochschulen“ keine Chance bekamen und deshalb eine der kirchlichen AusbildungsstĂ€tten besuchten.

Was die eigentliche Ursache dafĂŒr ist, dass so viele Pfarrer dann zu wichtigen Akteuren der Friedlichen Revolution wurden und auch so viele Pfarrer zu den GrĂŒndungsmitgliedern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR gehörten. Sie vereinte nicht nur derselbe rebellische Geist und die gleiche Sorge um eine gerechte und humane Gesellschaft. Sie bauten auch intensive persönliche Beziehungen auf, die in den entscheidenden Jahren wichtig wurden.

Eine zentrale Gestalt war zum Beispiel der Menschenrechtler Wolfgang Ullmann, den Noack in Naumburg als Lehrer hatte – ein begnadeter Lehrer, wie er feststellt, der ihm auch die Faszination der Kirchengeschichte erschloss. Denn kurzzeitig war Noack ja davor, die auf den ersten Blick weltfremde Ausbildung in Naumburg gleich wieder hinzuschmeißen. Wie kann man in einer Zeit, in der das ganze Land noch im Schockzustand des niedergeschlagenen Prager FrĂŒhlings steckt, ĂŒber die Adressaten der Galater-Briefe des Paulus diskutieren?

Aber er merkte dann ziemlich bald, dass auch die Bibeldiskussion mit Leuten wie Ullmann zu Grundsatzdiskussionen ĂŒber Gesellschaft, menschliche Werte und Handlungsoptionen eines aufrechten (Christen-)Menschen wurden. Wahrscheinlich war in Ullmanns Seminaren wirklich mehr los als in allen Marxismus-Leninismus-Vorlesungen der DDR-UniversitĂ€ten. Ganz zu schweigen davon, das Ullmann seine Studenten dazu animierte, die Originaltexte zu lesen – nicht nur die lateinischen der Bibel, sondern auch (sozialistische) Grundlagenwerke wie die BĂŒcher von Friedrich Engels. Das regt die Diskussion an. Und es öffnet logischerweise den ĂŒblichen Raum biblischer SelbstbeschĂ€ftigung, der vielen Atheisten das Gebaren der Kirchen in Deutschland oft so kryptisch macht.

Was ja ab den 1980er Jahren in der DDR einmal anders war, eine Zeit, die Axel Noack dann schon als Studentenpfarrer in Merseburg (als Nachfolger Friedrich Schorlemmers) und dann als Pfarrer in Wolfen (der „dreckigsten Stadt der DDR“) selbst mitgestaltete, besonders aktiv dann in der Synode der evangelischen Kirche in der DDR, die sich durch Leute seiner Generation zur ersten wirklichen Plattform in der DDR verwandelte, in der Demokratie gelebt wurde. Und zwar lebendige Demokratie, die auch die vielen Themen auf die Tagesordnung setze, die die SED-FĂŒhrung nur allzu gern mit Zensur belegte – von den Menschenrechten ĂŒber die Umweltverschmutzung bis hin zur Friedenspolitik.

Friedensbewegung in der DDR

„Bewahrung der Schöpfung“ also immer auch im doppelten Sinn. All das, was ab ungefĂ€hr 1980 als Friedensbewegung in der DDR Gestalt annahm, hat hier seine Wurzeln. Auch wenn die SED-FĂŒhrung mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, dass die Inhalte der Synode publik wurden. Da scheute sie auch nicht von der Konfiszierung ganzer Ausgaben kirchlicher Zeitungen zurĂŒck.

Und Axel Noack war stets mittendrin, machte sich als jemand einen Namen, der StreithĂ€hne an einen Tisch bringen und Verhandlungen auch ĂŒber umstrittene Inhalte in Gang und vor allem auch zum Erfolg bringen konnte. Was er in der Wendezeit auch in Wolfen bewies, als es darum ging, auch hier einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu organisieren und danach, die Abwicklung der Industrie irgendwie menschlich abzufedern. Denn das Ende der DDR-Wirtschaft erwischte die Chemieregion Bitterfeld-Wolfen besonders hart.

Die alten, ĂŒber Jahrzehnte heruntergewirtschafteten Chemiebuden hatten keine Chance, auf dem Weltmarkt zu bestehen. Und die vielen arbeitslos gewordenen Chemiearbeiter mussten nun irgendwie aufgefangen werden. Und das, was Treuhand und Staat anzubieten hatten, bot weder Trost noch Zuversicht. Etwas, was Noack sogar in einem sehr deftigen Krippenspiel thematisiert, das auch im Buch mit abgedruckt ist.

Denn Bettina Röder versucht auch mit Originalmaterial, das Denken und FĂŒhlen ihres Helden sichtbar zu machen, den sie zu seinem 70. Geburtstag bei einer Fahrt zu den wichtigsten Orten seines Lebens begleitet hat. Man hat also Noacks persönliche Erinnerungen eng verflochten mit den Erinnerungen von Arbeitskollegen und Mitstreitern vor Augen. Kein heldenhaftes Leben, das ist ja das BerĂŒhrende daran. Eher ein Leben, das auf seine Weise typisch war fĂŒr unangepasste Menschen in der DDR, die oft geradezu gezwungen waren, den Weg in die Kirche zu nehmen, weil das die einzige Instanz in der DDR war, die sich noch eine UnabhĂ€ngigkeit gegenĂŒber der SED bewahrt hatte.

Und dass Noack BrĂŒcken bauen konnte, das war 1997 nur allzu gut bekannt in seiner Kirche, sodass es ein logischer nĂ€chste Schritt war, den Wolfener Pfarrer 1997 auf den Bischofsposten in Magdeburg zu berufen, wo er bis zu seinem – selbst erklĂ€rten – RĂŒcktritt bis 2009 blieb. Und er schied nicht im Ärger aus dem Amt, im Gegenteil: Eben noch hatte er die Fusion der Landeskirchen von ThĂŒringen und der Provinz Sachsen (also dem heutigen Sachsen-Anhalt) ausgehandelt, die Aufgaben in dieser neu geschaffenen Landeskirche wollte er dann jĂŒngeren Nachfolgern ĂŒberlassen, ging dafĂŒr lieber nach Halle, um dort eine Professur fĂŒr Kirchengeschichte zu ĂŒbernehmen, also quasi in die Fußstapfen seines Naumburger Lehrers Wolfgang Ullmann zu treten.

Wo er dann wieder eine völlig neue Generation von Studenten erlebte, junge Leute, die zwar Religionslehrer werden wollten, aber nicht auf die Idee gekommen waren, dass das irgendetwas mit Kirche zu tun haben könnte. Was natĂŒrlich auch damit zu tun hat, dass Sachsen-Anhalt – wie der komplette deutsche Osten – ein weitgehend sĂ€kularisiertes Land ist, gerade noch 10 Prozent der Menschen kirchlich gebunden sind. Was ja auch der Grund war, die beiden Landeskirchen zu verschmelzen, die mit knappen Mitteln eine ganze Landschaft geschichtstrĂ€chtiger Dome, Kirchen und Klöster verwalten und erhalten mĂŒssen. Lutherland eigentlich, denn fast alle wichtigen LutherstĂ€dte befinden sich hier und wurden ja 2017 zum Schauplatz des großen ReformationsjubilĂ€ums.

Das Buch, das Bettina Röder geschrieben hat, ist zwar so etwas wie die Bilanz eines Lebens, aber man merkt, dass dieser Noack ganz und gar nicht fertig ist. Dass es immer noch genug zu tun gibt fĂŒr ihn. Und dass es immer auf die eigene Haltung ankommt, ob man sich deprimieren lĂ€sst oder frohgemut einfach weitermacht. Und wenn man einen „Liebesbrief an Walter Ulbricht“ schreibt oder – ohne zu wissen, wie es ausgeht am Ende – beginnt, Friedensseminare und Friedenssynoden zu organisieren.

Die Zeit scheint in diesem – mit vielen Privatfotos angereicherten – Buch geradezu zu fliegen, obwohl man eigentlich weiß, wie zĂ€h sich das gerade zum Ende der DDR hin anfĂŒhlte. Aber selbst ein ZeitgefĂŒhl Ă€ndert sich, wenn man die Aufgabe, in die man hineingestellt wurde, als Herausforderung begreift und einfach beginnt die Dinge zu tun, von denen man weiß, dass sie wichtig und richtig sind. Und dabei nicht den Kopf einzieht, sondern wie Luther arbeitet: UnermĂŒdlich und aufrecht. Und ohne sich einschĂŒchtern zu lassen.

Bettina Röder Axel Noack, Wartburg Verlag, Weimar 2019, 18 Euro.

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