Diesen Autor, das gebe ich zu, habe ich ein bisschen unterschätzt. Vielleicht, weil seine Bücher so zurückhaltend eingeschlagen sind, eher wie Jahrbücher aussehen, Sammelbände von Dokumenten, die eher für Wissenschaftler interessant sind. Dabei macht Ewald König etwas, was man in dieser Art von deutschen Journalisten zu Recht vermisst. Denn Journalisten sind Zeitzeugen. Und das ist eine verdammte Pflicht.

Eine Pflicht, eben nicht nur tolle Revolutions- und Heldengeschichten zu erzählen oder gar eifrigst auf die erwünschte, politisch opportune Haupterzählung einzuschwenken und dann nichts anderes mehr zu erzählen. Was nicht bedeutet, dass die Haupterzählung nicht ihre Berechtigung hätte. Aber Geschichte besteht nicht nur aus einem Strang, einer „richtigen“ Erzählung, sondern aus vielen Erzählungen, die sich ergänzen, durchdringen, manchmal aber auch völlig konträr sind, weil die einen etwas völlig anderes erlebt haben als die Anderen, die dann versuchen qua Mehrheit ihre Erzählung zur allein gültigen zu machen.

Das wurde schon im Frühjahr 2018 deutlich, als Olaf Jacobs seinen Band mit Interviews mit den Mitgliedern der letzten DDR-Regierung herausgab, jener Regierung, die wir im März 1990 gewählt hatten und die dann unter enormem Zeitdruck die Deutsche Einheit vorbereitete. Und wer diese Äußerungen las, merkte schnell, wie wenig von all dem damals in der öffentlichen Medienberichterstattung vorkam – und wie wenig heute davon überhaupt noch präsent ist.

Bis hin zu dem fatalen Eindruck (den auch Ewald König an einer Stelle moniert), dass die Deutsche Einheit von der Kohl-Regierung in Bonn gemacht wurde. Die Rolle des Ostens in diesem Prozess wird nicht nur marginalisiert, sie wird völlig verfälscht. Die Dominanz westdeutscher Medien ab 1990 sorgte dafür, dass sich auch eine falsche Perspektive auf den spannendsten Abschnitt der jüngeren deutsche Geschichte in die Köpfe geschlichen hat.

Ewald König geht natürlich noch weiter, denn er hat die jüngere deutsch-deutsche Geschichte als österreichischer Korrespondent in Bonn genauso miterlebt wie in Ostberlin. Er hat die herrliche Gnade des unbeteiligten Beobachters, der sich nicht dafür rechtfertigen muss, dass er an der falschen Hochschule studiert haben könnte und dem falschen Staat gedient haben könnte. Er musste nichts verklären und nichts verdammen.

Drei Bücher hat er aus seiner Korrespondentenzeit im Mitteldeutschen Verlag schon veröffentlicht: „Kohls Einheit unter drei“, „Menschen, Mauer, Mythen“ (beide 2014) und „Merkels Welt zur Wendezeit“ (2015). Alle drei – wie man schon an den Titeln erkennt – journalistische Korrekturen zu den Haupterzählsträngen, wie die Deutsche Einheit bitteschön in Geschichtsbüchern zu lesen sein sollte.

Korrekturen, die übrigens parallel gehen zum von Jacobs herausgegebenen Interviewband zur letzten DDR-Regierung: Erst wenn Journalisten auch die verschiedenen Sichtweisen der Akteure beginnen deutlich zu machen, wird erkennbar, dass Geschichte kein logischer Prozess ist und wie unterschiedlichste Kräfte und Interessen immerzu an den Ereignissen zerren, die Akteure selbst oft nur Getriebene sind.

Und das trifft eben nicht nur auf die de-Maizière-Regierung zu, sondern auch auf ihre Vorgänger, die Mächtigen und Ohnmächtigen in jenem Land, das sich nicht erst in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 in Luft auflöste, von der Landkarte verschwand und aus dem Geschichtsbüchern getilgt wurde. Und das in den Medien zu etwas vergoren wurde, was es tatsächlich niemals war, etwas geradezu Lächerlichem, Nicht-Lebensfähigen, Nicht-dazu-Gehörigen. Zu jenem plakativen Konstrukt, in dem sich die meisten Ostdeutschen einfach nicht mehr wiederfanden. Und das ihnen heute noch das Gefühl gibt, ihr Leben in einem verbotenen Gebilde zugebracht zu haben, einem falschen Land.

Auch das ein Akt der Entwertung, der Folgen hat bis heute.

Folgen, die eben auch dazu führen, dass die DDR nicht nur delegitimiert wird, sondern in der bundesdeutschen Geschichtsbetrachtung geradezu eliminiert. Motto: Es darf nur eine geben, eine richtige deutsche Geschichte.

Und dass das schon ab 1990 eine kaltherzige und unbarmherzige Herangehensweise war, kann Ewald König in seinem Buch sehr detailliert erzählen. Denn er hat sich auch nach 1990 nicht die Chancen entgehen lassen, mit den Protagonisten der Ereignisse zu sprechen und die markanten Ereignisse der Zeit eben nicht nur durch die übliche deutsche Mythenbrille zu betrachten. Gerade weil ihn wirklich interessierte, wie die DDR nicht nur in die EU flutschte und in die Deutsche Einheit, sondern auch, wie das alles wirklich begann. Und so erzählt er in seinem Buch so detailreich über die Botschaftsbesetzung in Prag 1989, wie man es in anderen Schriften zur Zeit einfach nicht findet. Was er nur deshalb kann, weil er auch mit den damals Verantwortlichen in der Botschaft, beim Roten Kreuz und im Auswärtigen Amt sprach.

Diese Herangehensweise taucht immer wieder auf. Er gibt sich nicht mit dem einmal erstarrten Medien-Ereignis zufrieden, sondern nutzt all die Kontakte, die er sich über Jahrzehnte als Korrespondent aufgebaut hat, um immer mehr Einzelheiten zu hinterfragen, die Hintergründe für Entscheidungen, die Sichtweisen selbst der scheinbar unbeteiligten Dritten zu erkunden. Auf einmal wird deutlich, wie dünn die normale Mythenerzählung ist, dass es es nicht nur den einen Zug gab, der die Botschaftsflüchtlinge über das Territorium der DDR in den Westen brachte, sondern mehrere.

Und wie sich die Botschaft immer wieder füllte, weil sich Ostberlin genauso stur stellte wie das nach wie vor von Hardlinern regierte Prag. Und auf einmal erfährt man, dass es solche Botschaftsbesetzungen auch schon 1984/1985 gegeben hat, damals noch ohne große Schlagzeilen. Aber auch diese schon fester Teil der zunehmenden Ausreisewelle aus der DDR. Und während sich heute immer noch alles auf Prag und den berühmten Genscher-Halbsatz konzentriert, geht die parallele Botschaftsbesetzung in Warschau geradezu unter.

Aber selbst die Geschichte von der Öffnung des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich ging etwas anders vonstatten, als für gewöhnlich erzählt. Was Ewald König auch deshalb erzählen kann, weil er weiß, wer der Fotograf jenes Fotos war, das die Fluchtbewegung Richtung Ungarn erst so richtig in Gang gebracht hat.

König hat sich all die Fragen gestellt, die sich die vom Tagesgeschäft gejagten Journalisten fast nie stellen. Sie geben sich mit der ersten knackigen Schlagzeile zufrieden, schieben ihr Misstrauen in die schöne Erzählung beiseite und rennen zum nächsten Ereignis, über das sie dann auch alle wieder nach dem selben Muster berichten. Wie ging eigentlich die NATO damit um, dass die DDR quasi über Nacht vom Feind zum – ja, was eigentlich? – wurde?

Wie kam Mitterands Gesinnungswandel zustande, der doch eben noch jede deutsche Vereinigung abgelehnt hatte? Wann und wo fiel eigentlich die Entscheidung, dass Gorbatschow die Deutsche Einheit unterstützen und die NATO-Mitgliedschaft akzeptieren würde? Und wie dachten und agierten eigentlich die Kommandanten der Westgruppe der Roten Armee, als sie quasi auf einmal mit 500.000 Mann und den besten Waffen der Sowjetunion mitten in einem Land standen, das zur NATO gehörte?

Und was machten die Russen eigentlich an jenem 9. November, als die Ostberliner die Mauer durchlöcherten?

Und: War die DDR eigentlich so ein abgeschottetes Land, wie es in den heutigen Erzählungen immer dargestellt wird? Was wurde aus den 60.000 vietnamesischen und den 20.000 mosambikanischen Gastarbeitern? Wie wurde mit ihnen 1990 umgegangen? Was wurde aus den 89 Botschaften der DDR und den Diplomaten? Die Hans-Dietrich Genscher nicht übernehmen wollte, weil er ihnen zu große Staats- und Parteitreue vorwarf. Ein Vorgang, der Ewald König zu der berechtigten Frage führt: Kann es sein, dass Genscher damit genau jene Kompetenzen über Bord geworfen hat, die bis heute dazu führen, dass die Bundesrepublik zu praktisch allen osteuropäischen Ländern komplizierte bis katastrophale Beziehungen unterhält?

Und Beziehungen laufen nun einmal über persönliche Kontakte, über Jahre aufgebautes Vertrauen und vor allem Verständnis für die Sichtweisen und Verletzungen der jeweils anderen. Kann es sein, dass das Auswärtige Amt diese Löcher bis heute nicht flicken konnte?

Natürlich beleuchtet Ewald König auch die speziellen österreichischen Beziehungen zur DDR. In vielem war Österreich ja die Drehscheibe, über die die DDR auch ihre wirtschaftlichen Verbindungen in den Westen aufbaute, denn nicht nur die Hallstein-Doktrin sorgte jahrelang dafür, dass die DDR politisch isoliert blieb, die Embargopolitik sorgte ebenso dafür, dass die DDR von wichtigen Waren, insbesondere Hochtechnologie aus dem Westen abgeschnitten wurde.

Und wie war das eigentlich mit Erich Honeckers Irrfahrt – erst nach Moskau, dann doch wieder nach Deutschland, wo man dem 80-Jährigen am Ende doch keinen Prozess machte – aber das wohl nicht nur wegen seiner Krebserkrankung und der Tatsache, dass er das Ende des Prozesses nie erlebt hätte. Besonders ausgiebig beschäftigt sich König mit den Diplomaten der DDR und dem letztlich beschämenden Ende ihrer Arbeit.

Das eben doch sehr viel aussagt über die Gefühllosigkeit Bonner Politik, die den Osten dann eben doch behandelte wie ein übernommenes Pleiteunternehmen, dem man erst mal das Wirtschaften beibringen musste und die Demokratie ja erst recht. Was gerade beim Auswärtigen Amt durchaus widersprüchliche Züge annahm, selbstgerechte Züge.

Mit Ewald König erlebt man, wie diese kleine DDR tatsächlich sehr professionell versuchte, ein Plätzchen auf der internationalen Bühne zu besetzen und ein bisschen eigene Politik zu machen – auch in vielen Ländern, in die sich die bundesdeutsche Diplomatie nie gewagt hätte. Und wie dieser Wunsch, als Gleicher und Gleichen anerkannt zu werden, augenscheinlich die DDR-Spitze bis zuletzt belebte, während im Land selbst schon die Ressourcen verfrühstückt wurden und die wirtschaftliche Misere immer sichtbarer wurde.

Mit den Militärmissionen der vier Besatzungsmächte beleuchtet König auch noch ein Kapitel, dass kaum je journalistisch bearbeitet wurde. Er erzählt von schwedischen, japanischen und österreichischen Firmen und Arbeitern, die in der DDR tätig waren, aber auch vom Knirschen im Ostblock, das im Grunde schon mit dem Aufkommen von Solidarnosc 1980 in Polen sichtbar wurde.

Politik der Annäherung

Als die DDR-Führung 1989 in Nöte geriet, steckte sie nicht nur in einem tiefgehenden Widerspruch zu Gorbatschow und seiner Perestroika, längst gingen Polen und Ungarn eigene Wege und hatten nicht mehr allzu viel Lust, der DDR-Regierung beim Einsperren ihrer Bevölkerung zu helfen. Auf einmal öffnet sich der Fokus, sieht man viel mehr von den Kräften, die diese Etappe der deutsch-deutschen Geschichte ebenfalls beeinflussten.

Und man sieht das Ende der deutsch-deutschen Teilung auch im Spiegel zweier geteilter Länder, die durchaus mit eigenen Augen auf die DDR und die Deutsche Einheit schauten – und bis heute schauen: Korea und Irland. Beide freilich mit der Einsicht, dass man zwar was draus lernen kann, dass aber jede Teilung eine eigene Lösung braucht. Und diese Lösung wohl vor allem eines braucht: den Aufbau von Vertrauen. Wozu man dann wieder Diplomaten braucht, die nicht immerzu selbstgerecht mit der Keule „Menschenrechte“ wedeln, sondern die kleinen, wichtigen Schritte anbahnen, mit denen eine friedliche Verständigung erst möglich wird.

Und so betrachtet, regt das Buch auch wieder an, über Willy Brandts Politik der Annäherung nachzudenken, die nicht nur DDR wie BRD die Mitgliedschaft in der UNO ermöglichte, sondern auch vieles von dem anregte, was am Ende die Deutsche Einheit möglich gemacht hat. Denn Geschichte ist immer auch Ergebnis dessen, was oft schon Jahre zuvor in Gang gebracht wurde.

Und da Ewald König in diesem Band vor allem die Außenbeziehungen von Ost und West näher beleuchtet, erfährt man auch ein wenig über Ostberlin als diplomatische Drehscheibe und die DDR als Türöffner für viele Staaten des Südens, die über den Osten ihre Kontakte in den Westen aufbauten, wozu sich die geteilte Stadt Berlin augenscheinlich am besten eignete.

Und selbst der Akt der Grenzöffnung wird auf einmal in einem anderen Licht gezeigt, wird besser begreifbar, wenn man den tschechischen Teil der Geschichte von Ewald König wesentlich ausführlicher erzählt bekommt. Gerade das eine Geschichte, die einem zeigt, wie viel oft in der Tagesberichterstattung fehlt, um wichtige Schlüsselereignisse wirklich verstehen zu können. Aber davon war damals die westliche Presse wohl genauso überfordert wie die reglementierte Presse im der DDR. Manches erfährt man erst hinterher. Und das oft auch nur, wenn man – wie Ewald König – beharrlich nachfragt, wenn man die beteiligten Leute trifft.

Ewald König Die DDR und der Rest der Welt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 20 Euro.

Die DDR (3): Abkehr von Utopia – Erich Honecker und die siebziger Jahre

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Zu treuen Händen: Interview mit dem Treuhand-Forscher Marcus Böick (Uni Bochum)

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