Auf die Idee, da mal hinzufahren, wären Sie nie gekommen? Dann wird es Zeit. Sparen Sie sich das Gedränge und Schlangestehen an den überlaufenen Küsten, fahren Sie einfach mal dahin, wohin Sie Ihr Geschichtslehrer gelockt hätte, wenn Geschichtslehrer an sächsischen Schulen entscheiden dürften, wohin die Exkursionen führen. Denn um ein Gefühl für die winzige Dimension des eigenen Lebens zu bekommen, muss man Geschichte ganz real erleben. In Speyer geht das.

Ganz ähnlich wie in Aachen, Xanten, Mainz … Alles Orte, die mit dem ganz frühen Beginn dessen zu tun haben, was wir heute als Deutschland begreifen, eng verquickt mit der römischen Geschichte und dem Versuch der Römer, auch am Rhein und darüber hinaus Fuß zu fassen. Und während der Ort am Rhein bei den Römern Noviomagis Nemetum nach dem dort ansässigen Stamm der Nemeter hieß, rätseln die Forscher bis heute, was der später von den Alemannen übernommene Name Spira bedeutet, aus dem dann Speyer wurde. Da geht es der kleinen, hochberühmten Stadt also ganz ähnlich wie Leipzig, wo die forschen Legendenerfinder ja bis heute überzeugt sind, die Linde hätte Pate gestanden für den Namen Libzi.

Speyer erlitt im Pfälzischen Erbfolgekrieg ein noch schlimmeres Schicksal als Heidelberg. Die Soldaten des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. zerstörten die Stadt so systematisch, dass die Bürger von Speyer neun Jahre lang ins Exil ziehen mussten. Sie bauten ihre Stadt dann wieder auf, nun natürlich im barocken Stil, sodass der Stadtflaneur vor allem eine barocke Bürgerstadt bewundern kann, in der freilich die Zeugen der Vergangenheit – wie das Altpörtel, der Judenhof mit Museum SchPIRA und vor allem der Kaiserdom – ein Eintauchen in die große Geschichte der kleinen Stadt ermöglichen, die unter den Salier-Kaisern für 101 Jahre lang auch so etwas wie ein Zentrum des Reiches war.

Aber die Stadt ist auch einer der wichtigsten Orte des deutschen Protestantismus, denn hier verließen 1529 die sechs lutherischen Fürsten und 14 Reichsstädte den Reichstag zu Speyer unter Protest, weil die katholische Mehrheit wieder das Wormser Edikt in Kraft setzen wollten. Es war die Geburtsstunde des Protestantismus.

Die Gedächtniskirche der Protestation erinnert daran. Noch so ein architektonisch beeindruckendes Bauwerk, in dem man den „Geist der Zeit“ einatmen kann, wenn auch diesmal den des späten 19. Jahrhunderts mit seinen historisierenden Bauformen, mit denen man an die sakrale Wucht der mittelalterlichen Baukunst anknüpfen wollte.

Der Geschichtslehrer hätte also so einiges anzubieten. Und wenn er seine Schar mitnimmt ins Historische Museum der Pfalz, kann er auch die Zeugnisse aus der vorrömischen Zeit zeigen mit dem „Goldenen Hut von Schifferstadt“ als Höhepunkt. Da wäre man dann in der Bronzezeit, ungefähr 1.300 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung. So wird ein wenig vom Atem der Geschichte spürbar. 3.000 Jahre Siedlungsgeschichte am selben Ort, stets am so wichtigen Rhein als Wasserstraße, das ist eine Menge mehr als der übliche „Vogelschiss“, den unsere alten Männer mit Kurzzeitgedächtnis immer im Kopf haben.

Und es ist wesentlich größer, erzählt von Völkerwanderungen, untergehenden Reichen, dunklen Zeitaltern und immer neuen Gründungen neuer Herrschaftsrefugien, die sich mit Glanz und/oder Gewalt in die Annalen einschrieben. Und das Ergebnis: Alles fließt, alles ist vergänglich. Und wer allein auf die Macht setzt, schafft keine Dauerhaftigkeit.

Denn Städte bauen nur Menschen (wieder) auf, die an die Zukunft denken, die fleißig sind und sich aufs Handeln und Wirtschaften verstehen. Auch diesen Teil der Geschichte kann man in Speyer besichtigen mit seinen vielen verschiedenen Märkten, die fast alle ihren Bezug zum Rhein hatten und den anlandenden Fischern und Kaufleuten. Der Hasenpfuhl, wo einst die Fischer und Schiffsleute lebten, ist heute die beliebteste Wohngegend von Speyer. So ändern sich die Zeiten.

Und wenn der Geschichtslehrer auch in die Moderne hineindenkt, dann kann er seinen Schülern auch zeigen, wie sich das Wirtschaften veränderte im Zeitalter der Industrialisierung – denn mit Henry Villard begegnet den Neugierigen auch ein Speyerer Sohn der Stadt, der als Eisenbahnmagnat in den USA Erfolg hatte. Und mit dem Technik Museum Speyer endet das Heft mitten in den Kolossen des mobilen Zeitalters – U-Booten, Flugzeugen, Oldtimern.

Da bekommt man die ganze spritschluckende Mobilität noch einmal mit Wucht. Und geht logischerweise mittlerweile mit der drängenden Frage zwischen diesen Originalexponaten hindurch: Geht das noch einmal 3.000 Jahre gut? Ganz bestimmt nicht. In der Gegenwart steckt schon wieder eine neue Geschichte, von der niemand weiß, wie sie ausgehen wird. Und was bleiben wird davon. Kluge Geschichtslehrer stellen auch diese Fragen und machen den Kindern bewusst, dass es keine „Sieger der Geschichte“ gibt. Dass nichts so vergänglich ist wie der Ruhm der Gegenwart.

Verblüffend ist da schon, dass man in Speyer keinen berühmten Philosophen und Dichtern begegnet, auch wenn Goethe natürlich da war, unser umtriebiger Nationalgeist. Er warb hier um die älteste Tochter von Sophie von La Roche, der ersten deutschen Schriftstellerin, die von den Einnahmen ihrer Romane leben konnte.

Goethe bekam das Töchterlein natürlich nicht. Dafür kennt jeder Literaturinteressierte die Enkel der berühmten Salonnière: Bettina von Arnim und Clemens von Brentano. Heute kann man im Hohenfeldeschen Haus, in dem Sophie von La Roche damals lebte, die Arbeiten einheimischer Künstler besichtigen.

Es lohnt sich ja, gerade jetzt, wo die überbezahlten Narren in unserem Land nicht mehr wissen, wo sie ihren Katalogurlaub verbringen sollen. Kluge Leute fahren zum Beispiel nach Speyer und besichtigen all die Kirchen, Museen und Ausstellungen und setzen sich bei Sonnenschein auf die Maximilienstraße und freuen sich, dass Geschichte auch dann passiert, wenn man kein großes Gewese darum macht.

„Mainz an einem Tag“: Mit Narren, Römern und Jakobinern im 2.000-jährigen Mainz

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