Eine Stadtgeschichte ist unerschöpflich und nie zu Ende erzählt. Auch wenn Leipzig zum 1.000. Jahrestag seiner Ersterwähnung mit der vierbändigen „Stadtgeschichte“ etwas geschafft hat, was in dieser Form nur wenige deutsche Städte vorweisen können. Und nicht zu Unrecht schreibt sich das der Leipziger Geschichtsverein auf seine Fahnen, der dieses besondere Jubiläum auch als Ansporn sah, riesige Löcher in der Stadtgeschichtsforschung zu stopfen.

Was gar nicht erst mit dem 2015 erschienenen ersten Band begann, sondern schon weit vorher mit der Veröffentlichung einzelner Forschungsergebnisse in den „Quellen und Forschungen zur Leipziger Stadtgeschichte“, die im Leipziger Universitätsverlag erscheinen, und auch in den Jahrbüchern des Geschichtsvereins selbst, die sich besonders eignen, neue Forschungsergebnisse in einzelnen Beiträgen zu veröffentlichen. So wie in diesem Band etwa der Beitrag von Almuth Reuther, die versucht hat, alle aktenkundigen Fakten zum Leben des Ratsherrn und Kaufmanns Wolfgang Jöcher zusammenzutragen.

Übrigens ein Beitrag, der sehr schön kommuniziert mit dem Beitrag von Mark Lehmstedt, der inzwischen nicht nur Verleger und Dozent ist, sondern auch Vorsitzender des Leipziger Geschichtsvereins. Er eröffnet in seinem Text die faszinierenden Möglichkeiten, die sich für die Forschung ergeben würden, wenn man alle verfügbaren kirchlichen und städtischen Personenakten von 1500 bis 1850 digitalisieren würde.

Das wäre wohl eine Heidenarbeit. Immerhin geht es um mindestens 1 Million Datensätze, die zu digitalisieren wären. Aber ein Wolfgang Jöcher käme natürlich auch drin vor. Auch wenn die Kundigen beim Namen Jöcher eher an seinen Neffen denken, Christian Gottlieb Jöcher, dessen „Allgemeines Gelehrten-Lexicon“ bis heute eine der wichtigsten Quellen zu den forschenden und schreibenden Berühmtheiten des 18. Jahrhunderts ist.

An Wolfgang Jöcher erinnert, so Reuther, heute nur noch die einst in seinem Auftrag neu gebaute Gautzscher Kirche. Vielleicht sogar die Büste eines perücketragenden Mannes in der Kirche. Aber sowohl das einst von ihm gekaufte und umgebaute Gut ist nicht mehr erhalten, noch sein prachtvolles Wohnhaus am Leipziger Markt, das sein Sohn verkaufen musste, um einige der nachgelassenen Schulden des Vaters zu bezahlen, der sich zwar mit seinem Gut in Gautzsch finanziell übernommen hat. Aber der Hauptgrund für seine Überschuldung war am Ende die Tatsache, dass ein Fürstenhaus, dem er großzügig Kredit gegeben hatte, das Geld nie vollständig zurückzahlte.

Reuther macht also sichtbar, was alles zu finden ist, wenn man weiß, wonach man sucht und wo es in den vielen papierenen Aktenbeständen steht.

Das Jöchersche Haus wurde übrigens erst im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Wie sehr selbst jüngere Ereignisse zum Stoff der Geschichte werden, macht Katrin Löffler deutlich in ihrem Beitrag über Alfred Glaser, dem es 1938 als einzigem aus seiner Familie gelang, Deutschland zu verlassen, bevor die Mordmaschinerie der Nazis anlief. Auch wenn seine Flucht in den Niederlanden endete, wo er mit Glück das Kriegsende erlebte.

In den 1980er Jahren nahmen Susanne Kucharski und Bernd-Lutz Lange mit ihm Kontakt auf – Lange in Vorarbeit seiner vielen Veröffentlichungen, mit denen er an die von den Nazis vertriebenen und ermordeten jüdischen Leipziger erinnerte. Mit einem Beitrag in den „Leipziger Blättern“ hatte er das lange unbeachtete Thema endlich öffentlich gemacht.

Und Glaser meldete sich mit einem hochemotionalen Brief aus Israel zurück, den Katrin Löffler als zeitgeschichtliches Dokument in diesem Band mitveröffentlicht. Denn auch Langes Bemühen, die Geschichte der jüdischen Leipziger/-innen wieder präsent zu machen, ist längst wieder Teil der Geschichte.

Und selbst die „von oben“ angewiesene Gründung des „Büros des Chefarchitekten der Stadt Leipzig“ im Jahr 1967 ist zum historischen Datum geworden – nicht nur weil sie eine Zäsur in der Leipziger Stadtplanung darstellt, sondern weil das Büro praktisch nie aufgelöst wurde und heute als Stadtplanungsamt weiterwirkt. Wobei sich Anett Müller sehr auf die damals öffentlichen Dokumente bezieht und eher nicht beleuchtet, wie die Arbeit dieses Büros den Stadtumbau tatsächlich beeinflusst hat.

Der von Arne Böttger gleich im Anschluss geschilderte Entstehungsprozess der drei Plattenbauten am Georgiring, der tatsächlich schon einen deutlichen Richtungswechsel in der Leipziger Wiederaufbaupolitik darstellte, fand noch vor Gründung des Büros statt, zeigt aber exemplarisch, wie zeit-, nerven- und materialverschlingend der sozialistische Versuch war, alles, aber auch wirklich alles, was im Land geplant wurde, zentral aus Berlin zu steuern. Das Ergebnis waren konkurrierende Kompetenzebenen, Fehlentscheidungen und völlig unsinnige Eingriffe des Parteichefs Walter Ulbrich, die am Ende fast den Baubeginn nach fünf Jahren Vorarbeit gefährdet hätten.

Und auch nicht unwichtig ist Uwe Johns Beitrag zum Tag der Stadtgeschichte 2019, in dem er resümiert, was eigentlich die von so vielen Autor/-innen geleistete Arbeit zur vierbändigen Stadtgeschichte gebracht hat – und wie viele noch unbearbeitete Forschungsfelder dadurch erst sichtbar wurden. Und als Historiker weiß er, dass man mit dicken textlastigen Büchern kaum interessierte Bürger und schon gar nicht die Schüler/-innen im Geschichtsunterricht erreicht.

Er plädiert in seinem Beitrag dafür, dass sich Leipzig am europäischen Projekt der Städteatlanten beteiligt. Denn kaum etwas macht historische Entwicklungen so schön fassbar wie thematisch gestaltete Karten, egal, ob als Buch gedruckt oder in moderner, interaktiver Form im Internet.

Wie üblich beschließen Rezensionen zu einigen der jüngsten historischen Veröffentlichungen zu Leipzig den Band, der nicht nur für Mitglieder des Geschichtsvereins wieder eine schöne Sammlung neuer historischer Erkundungen in Leipzig ist, sondern auch Nichtmitgliedern zeigt, wie spannend es sein kann, sich einfach mal in ein scheinbar marginales Thema zu vertiefen oder systematisch durch Ratsakten und Kirchenbücher zu arbeiten, wie es ja Mark Lehmstedt für sein Biografisches Lexikon zur frühen „Buchstadt Leipzi“ schon getan hat.

Er weiß, was das für Arbeit macht. Aber er kennt auch die Freudensprünge des Forschers, der in solchen alten Listen auf einmal Dinge entdeckt, die er so nie im Leben erwartet hätte. Über eine dieser Entdeckungen berichtet er beiläufig: den wohl ältesten aktenkundig gewordenen Kaiserschnitt in Deutschland. Und das in Leipzig.

Uwe John hat recht, dass man auf viele Themen erst aufmerksam wird, wenn man sich beim Erforschen anderer Themenfelder überhaupt erst einmal ihrer Existenz bewusst wird. Da merkt man erst so richtig, was man alles noch nicht wusste. Und es sind oft nicht die unwichtigsten Dinge. Und das beginnt schon mit der Frühen Neuzeit, wie John betont. Denn mit dem Zeitalter der Reformation begann auch eine umfassende Verschriftlichung städtischer Vorgänge.

Aber wer in all diesen alten Rats- und Kirchenakten suchen will, muss sich erst einmal wochenlang in die Archive knien, wie Mark Lehmstedt es schildert. Und sitzt dann über den alten Büchern und staunt, weil sie oft das pralle, leid- und freudgeprägte Leben der ganz normalen Leipziger/-innen zeigen, die nie berühmt waren, von denen es auch kein Bild gibt und meist auch keine Prozessakte, weil sie nie vor dem Leipziger Gericht prozessierten.

Da liegt Forschungsarbeit für Jahrzehnte. Darum, dass der Geschichtsverein irgendwann kein Futter mehr finden könnte, braucht man sich eher nicht zu sorgen. Eher darum, dass es an Zeit und Geld fehlen könnte, all den einladenden Forschungsansätzen auch zu folgen und sie irgendwann als spannende Lektüre zu veröffentlichen.

Markus Cottin; Beate Kusche; Katrin Löffler Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2019, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2020, 15 Euro.

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