Es war im Grunde die erste Veröffentlichung, mit der der sorbische Schriftsteller Jurij Koch 1963 von sich Reden machte – wenn auch erst einmal nur in einem kleinen Gebiet. Denn „Jüdin Hana“ (Židowka Hana) erschien erst einmal nur auf sorbisch im Domowina Verlag. Ein echter Erstling, den Koch eigentlich auch nie ins Deutsche übersetzen wollte. Doch dazu ist die Geschichte viel zu bewegend. Und vergessen ist Hana, die tatsächlich Annemarie hieß, auch nicht.

Zwei Erinnerungstafeln und ein Stolperstein erinnern heute an Annemarie Kreidl in Horka, wo sie bei ihrer Adoptivmutter lebte, katholisch und sorbisch aufgewachsen war. Im Nachwort versucht Hermann Simon aus den wenigen auffindbaren Akten zu rekonstruieren, wie das Leben Annemaries tatsächlich verlief. Denn natürlich ist Jurij Kochs Erzählung eine literarische Rekonstruktion.

Als Annemarie 1943 deportiert wurde, war er selbst gerade sieben Jahre alt. 1960 ging er daran, ihre Geschichte zu erkunden und befragte dazu die Bewohner von Horka. Was durchaus etwas Ungewöhnliches war in der DDR, wo es nicht zur Staatsdoktrin gehörte, sich tatsächlich intensiv mit dem Holocaust und der Verstrickung der Überlebenden zu beschäftigen. Denn die systematische Vernichtung der jüdischen Mitbewohner funktionierte im Hitlerreich nur, weil Behörden, Polizei und Bürgermeister eifrig zuarbeiteten und auch die Volkszählung von 1939 mit bürokratischer Akribie betrieben wurde.

Was freilich in Kochs Erzählung, die er jetzt in der deutschen Übersetzung noch einmal überarbeitet hat, kaum zu spüren ist. Denn im konkreten Leben der Bewohner von Horka wird der zunehmende Druck einer vom Morden besessenen Regierung nur sichtbar über das Handeln der Amtsträger vor Ort – etwa des Ortspolizisten Beier, der die von Amts wegen angewiesenen Diskriminierungen durchsetzen muss. Doch das Motiv Kollaboration kommt bei Koch nur leicht angedeutet vor.

Man merkt seiner Geschichte an, dass das Verschwinden Hanas bei den Bewohnern Horkas eine große Trauer und das Gefühl des Versagens hinterlassen haben muss. Jedenfalls bei vielen. Womit Koch auch etwas gelingt, was ebenso heute meist kaum wahrgenommen wird: zu zeigen, dass jüdische Mitbürger vor dem Triumph der Nazis meist gar nicht als auffällig oder anders wahrgenommen wurden, sondern fest integriert waren in die Gemeinden, in denen sie lebten. Sie liefen nicht in auffälligen Kleidungen herum, wenn man von den orthodoxen Vertretern insbesondere der aus Osteuropa einwandernden Juden absieht. Sie hatten nichts „Gewisses“ an sich.

Gekennzeichnet wurden sie erst durch die Nazis und ihre emsigen Zuarbeiter, die anfingen, von allen Bürgern „Ariernachweise“ zu verlangen und Karteikarten anlegten, in denen die jüdischen Vorfahren der Gemeldeten akribisch verzeichnet und markiert wurden.

Eine solche Karteikarte fand Simon auch zu Annemarie Kreidl – eine Karte, die mehr Rätsel aufgibt als löst, denn wer hat eigentlich alle vier Großeltern von Annemarie als „Volljude“ gekennzeichnet? Wer hat die Fragezeichen daneben geschrieben? Hat man es hier mit einem akribisch sortierenden Sachbearbeiter zu tun? War es Georg Schierz, der Bruder von Annemaries Adoptivmutter, selbst? Glaubte er trotzdem, sie schützen zu können?

Jurij Koch lässt in seiner Erzählung die Sendboten der Macht immer wieder auftreten, so, wie sie wahrscheinlich wirklich auszogen, um die Menschen abzuholen – die Gestapo-Leute, die Überbringer amtlicher Nachrichten, im Fall von Hanas Geliebten Boscij auch noch die Feldjäger der Wehrmacht, die den Staublungenkranken abholen, weil er dem Gestellungsbefehl nicht nachgekommen sein soll.

Fast beiläufig erzählt Koch, wie sich das Misstrauen und die Menschenverachtung der Nazis hineinfressen in die Gemeinschaft der Sorben, die ja selbst eine Minderheit sind, die damit rechnet, demnächst zum Spielball der irren Lebensraum-Vorstellungen der Nazis zu werden.

Was Hermann Simon im Nachwort durchaus zu der Frage bringt: Wie gingen Sorben und Juden eigentlich miteinander um? Gibt es Beispiele dafür, dass sie einander beistanden und beschützten? Einige kann er aufzählen.

Aber seine akribische Suche nach Dokumenten macht auch deutlich, wie gnadenlos deutsche Bürokratie funktioniert, wenn sie sich Mördern andient und „ihre Pflicht erfüllt“. Und wie wenig sich die Bewohner des Dorfes Horka dagegen wehren können, denn wer sich verdächtig macht, den Verfolgten zu helfen, gerät schnell selbst in die Mühlen der Mächtigen, deren „Stolz und Ehre“, wie sie immer so schön sagen, darin besteht, zum gefühllosen Befehlserfüller zu werden und jedes Mitgefühl und jede Mitmenschlichkeit abzutöten.

In Jurij Kochs Erzählung wird das nicht durchdiskutiert, sondern gezeigt. Er lässt seine Figuren in Gewissensnöten handeln – die Steinbrucharbeiter, den Pfarrer, die Menschen im Tanzsaal. Hana wird für die Dorfgemeinschaft zum Prüfstein. An ihr zeigt sich, wer sich bei aller Bevormundung seine Menschlichkeit bewahrt hat.

Und während sonst Geschichten aus der Nazi-Zeit meist damit schockieren, dass sie die uniformierten neuen Machthaber möglichst brutal und mafiös auftreten lassen, geschehen die Veränderungen bei Jurij Koch kaum spürbar, als erste Unsicherheiten und Verhaltensänderungen der Menschen, die eben noch vertrauensvoll miteinander in den Gottesdienst gingen oder in der Kneipe ihre Karten klopften. Auf einmal werden die altvertrauten Kollegen und Nachbarn zur Gefahr, weiß man nicht mehr, wer längst zum Zuträger geworden ist und seine Haut zu retten versucht, indem er seine Mitmenschen anschwärzt.

Der Mord am Steinbrucharbeiter Krawc wird zum Menetekel. Die neuen Machthaber sind nicht daran interessiert, dessen Tod aufzuklären.

Vielleicht war es in der Realität etwas anders, spielte sich nicht so zentral in dem kleinen Lausitz-Dorf Horka ab, sondern möglicherweise in Dresden, wo Annemarie wahrscheinlich in Stellung war. Ein letztes Foto von Annemarie Schierz gibt es von 1942. 1943 ist sie wahrscheinlich in einem der von den Nazis eingerichteten Lager im Osten ums Leben gekommen.

Und trotzdem muss die Erinnerung an die junge Frau auch noch 18 Jahre später lebendig gewesen sein, war sie in Horka nicht vergessen und auch das bekannte Schweigen wurde nicht über diese Tragödie gebreitet. Sodass Jurij Koch mit „Jüdin Hana“ eines der wenigen Bücher in der DDR veröffentlichen konnte, das sich mit dem Schicksal der ermordeten jüdischen Mitmenschen beschäftigte.

Hermann Simons Nachwort ergänzt die nun noch einmal vom Autor überarbeitete Erzählung mit all dem, was die wenigen greifbaren Dokumente noch erzählen können, erweitert den Blick auf die so trostlos agierende deutsche Bürokratie und um die Entstehungsgeschichte von Jurij Kochs Erzählung. Nicht vergessen wird auch die heute sichtbare Erinnerung an Hana. Und ganz bestimmt ist Simons Mahnung heute wieder hochaktuell: Erzählt davon euren Kindern und Kindeskindern.

Und mit der Neufassung von Jurij Kochs Erzählung wird Hanas Geschichte auch für heutige Leser/-innen erlebbar. Eine Geschichte, die auf sehr zurückhaltende Weise die Frage stellt: Wie würdest du dich verhalten?

Die man sich nicht erst stellen darf, wenn neue Chauvinisten wieder nach der Macht greifen.

Jurij Koch Hana, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, 16 Euro.

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