Eine Stadt steckt voller Geschichte. Aber man sieht sie nur, wenn man hinter die Fassaden schaut und auch zulässt, dass manches ganz und gar nicht so berauschend war. Oder human. Der gefühllose Umgang mit Mitmenschen war (und ist) nicht immer nur Sache der finsteren Mächte. Davon erzählen auch die Orte von Verwahrung und Ausgrenzung, zu denen in Leipzig auch die einstige Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 63 gehört.

In gewisser Weise war sie die Fortsetzung dessen, was Leipzig zuvor im Georgenhaus am Brühl praktiziert hatte. Wo „Fürsorge und Strafe“ Hand in Hand gingen, wie Dörthe Schimke in ihrem Buch zum Georgenhaus beschrieb. Ein „Experimentierfeld sozialpolitischer Maßnahmen“, das 200 Jahre lang mehr schlecht als recht betrieben wurde. Um dann von neuen Experimentalanordnungen abgelöst zu werden.

Denn anders kann man all das nicht beschreiben, was Regierungen und Magistrate seit Beginn der Neuzeit alles ausprobiert haben, um Menschen zu erziehen und zu maßregeln, die nicht richtig funktionierten. Die entweder straffällig geworden waren, alt und gebrechlich oder schlicht obdach- und arbeitslos.

Bis heute herrscht dieses obrigkeitliche Denken vor, dass Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, selbst schuld sind an ihrer Misere. Sie seien einfach nur widerborstig, arbeitsscheu, faul oder – die sanftere Variante dieses Denkens – würden sich nur nicht genug anstrengen. Das zieht sich bis in die moderne „Hartz IV“-Gesetzgebung.

Gerade darin wird aber deutlicher, wie sehr in sogenannten bürgerlichen Parteien noch immer die alten Vorurteile leben, wie man im Grunde noch genauso ausgrenzend und abwertend denkt wie Ratsherren des 17. Jahrhunderts, denen man zumindest zugute halten kann, dass sie mit dem Problem der zahlenmäßig ansteigenden Obdachlosigkeit und dem „Bettelwesen“, wie es damals hieß, erstmals derart konfrontiert waren und dafür Lösungen finden mussten.

Dass dahinter nicht nur der zurückliegende Krieg, sondern auch das aufkommende Zeitalter der „modernen“, kapitalgetriebenen Wirtschaftsweise steckte, konnte sie noch nicht sehen. Und damit auch nicht ahnen, dass erste Provisorien sich zu jahrhundertelangen Dauerexperimenten ausweiten würden.

Und natürlich zu fest verankerten Stereotypen im Denken der ganzen Gesellschaft, die wir heute immer noch für normal halten, obwohl es sie in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Denn die Verachtung für Menschen, die nicht reich sind, ihr Obdach verlieren, ihre Arbeit und damit alle existenzielle Sicherheit, die ist mittlerweile fest implementiert in unserem Denken. In zwei zurückliegende Diktaturen wurde diese Verachtung sogar regelrecht zur Staatsdoktrin.

Und das konnte sie auch werden, weil das späte 19. Jahrhundert noch lange nicht bereit war, dieses Denken zu hinterfragen. Das wird an der Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße recht deutlich, deren bedrückende Geschichte auf einem Symposium im Frühjahr 2019 erst einmal in größerem Rahmen thematisiert wurde.

Im Jahr zuvor hatte der Stadtrat einen Antrag der Grünen-Fraktion befürwortet, in der Riebeckstraße einen Gedenkort einzurichten, der nicht nur an die frühen Jahre der Anstalt erinnerte, als hier vor allem Obdachlose „verwahrt“ wurden und sich mit Arbeit den Aufenthalt „verdienen“ konnten. Womit Leipzig keine Ausnahme bildete unter deutschen Städten.

Auch anderswo – wie im westfälischen Benninghausen – dienten solche Arbeitshäuser dazu, die dort untergebrachten Menschen abzusondern, zu disziplinieren und zu verwalten. Und das in der Regel unter Bedingungen, die nicht nur an Gefängnisse erinnerten, sondern oft sogar einem viel strengeren Reglement unterworfen waren.

Es ist zwar noch keine ausführliche Geschichte der Riebeckstraße 63, die hier vorliegt, sondern im wesentlichen eine Zusammenstellung der Beiträge vom Symposium im März 2019. Was auch daran liegt, dass wichtige Aktenbestände entweder Kriegsverlust sind oder noch nicht aufgearbeitet wurden. Einige wenige Zeitungsbeiträge von damals geben heute noch ein Bild von den bedrückenden Zuständen in der Anstalt, von den hygienischen Bedingungen und dem entmündigenden System der Verwaltung der Bedürftigen.

Auch die zuständigen Leipziger Ämter definierten Fürsorge zuallererst als Verwahrung und Reglementierung. Und das Denken war so verinnerlicht, dass das zuständige Wohlfahrtsamt in der Nazizeit keine Probleme damit hatte, sich zum Handlanger der NS-Tötungsmaschinerie zu machen.

In dieser Zeit war die Anstalt auch schon zum Ort der Unterbringung von Menschen mit geistigen Behinderungen geworden, Menschen, die dann – auch mit Zuarbeit Leipziger Ärzte – Opfer des NS-Euthanasieprogramms wurden. Ein Thema das bislang vor allem mit der Heilanstalt Dösen in Verbindung gebracht wurde. Aber auch aus der Riebeckstraße gerieten nachweislich Dutzende Menschen in die Tötungsmaschinerie des Euthanasieprogramms.

Und da die Riebeckstraße ein abgeschlossener Komplex war, wurde sie in der NS-Zeit auch zur Durchgangsstation für Zwangsarbeiter/-innen, die in Leipziger Fabriken zum Einsatz kamen, aber auch für Sinti und Roma, die in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis gerieten.

Schon dieser Abschnitt ist im Grunde ein exemplarisches Beispiel dafür, wie sehr moderne Gesellschaften auf einem Untergrund beruhen, wo Überwachen und Strafen geradezu als Disziplinierungsinstrument für eine ganze Gesellschaft dienen, die sich an „Freiheit“ geradezu berauschen kann. Wer aber wirklich frei ist, muss nicht immerzu die Freiheit besingen.

Freiheit ist so eine Art Schnaps für die armen Seelen, die die ganze Zeit trotzdem von der Angst gezähmt werden, einmal „zu denen da“ zu gehören. Ohne Arbeit dazustehen und um Almosen betteln zu müssen. Oder in einer jener Randgruppen zu landen, derer sich eine auf Effizienz und volle Leistungsbereitschaft setzende Arbeitsgesellschaft zu entledigen versucht. Wozu eben auch Menschen mit Behinderungen gehören.

Oder solche, die sich nicht in das puritanische Modell der „sauberen“ Gesellschaft fügen. Eine Denkweise, die in der DDR ziemlich nahtlos fortgesetzt wurde, auch wenn jetzt keine Obdachlosen in der Riebeckstraße untergebracht wurden, sondern Männer und Frauen mit Geschlechtskrankheiten – wobei Maximilian Schochow und Steffi Brüning in ihren Beiträgen sehr anschaulich zeigen können, dass es den Ordnungsbehörden der DDR darum bald gar nicht mehr ging.

Die Einrichtung blieb auch dann bestehen, als die kriegsbedingte Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zurückging. Und auch die Prostitution in der Stadt taucht in den Belegungsstatistiken nur marginal auf. Dafür scheint die Riebeckstraße über Jahrzehnte als Kontroll- und Bestrafungsinstrument für junge Frauen gedient zu haben, die aus Sicht der Ordnungshüter einen „unsteten“ Lebenswandel hatten. „Herumtreiberinnen“ im Jargon der Überwacher. Auch hier wird deutlich, wie so eine Einrichtung vor allem dazu dient, Menschen zu disziplinieren und alle Formen von Widerspenstigkeit auszumerzen.

Mit oft schweren psychischen Verletzungen für die Betroffenen. Denn auch wenn in diesem verschwundenen Land so gern von der „Erziehung zum neuen Menschen“ die Rede war, ging es letztlich um das Brechen von Stolz und Selbstbewusstsein. Und nicht viel anders funktionierte das Wegsperren psychisch kranker Menschen, die in den Wohnhäusern der Riebeckstraße 63 oft in großen Gemeinschaftssälen eingepfercht wurden. Von wirklich fürsorglicher Betreuung konnte da schon aufgrund der fehlenden materiellen Ausstattung und des fehlenden Pflegepersonals keine Rede sein.

Es gab zwar auch in der DDR Ansätze zu einer reformierten und offenen Psychiatrie. Aber um sie umzusetzen, fehlten sichtlich die Ressourcen. Und augenscheinlich hielt auch das alte „Pflegepersonal“ in Anstalten wie der in der Riebeckstraße noch Jahrzehnte lang an den einmal verinnerlichten Denkweisen fest. Sodass dieser Gebäudekomplex auch zu einem anschaulichen Beispiel dafür wird, wie schwer es ist, die Denkverkrustungen vergangener Jahrhunderte auch nur aufzubrechen.

Wirklich geöffnet wurde die Einrichtung dann tatsächlich erst nach 1990. Die so lange Eingesperrten zogen um in offene Betreuung oder gar in eigene Wohnungen, wurden also endlich wieder ganz selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft. Und zwei Fallbeispiele, die erzählt werden, zeigen recht deutlich, wie sehr die geschlossene Psychiatrie in der DDR auch Menschen betraf, die durchaus in der Lage waren, ein eigenständiges Leben zu führen – die aber geradezu entmündigt und weggesperrt wurden.

Es ist also ein ziemlich komplexes Stück Geschichte, das am Gedenkort in irgendeiner Form sichtbar gemacht werden soll. Wobei eben allein schon durch die Beiträge in diesem Buch deutlich wird, dass es hier nicht einfach um ein Gedenken für die vielen hier einst Eingesperrten gehen kann, sondern auch um unser heutiges Verständnis von Ausgrenzung, falscher Fürsorge und Bestrafung gehen muss.

Heute ist der Gebäudekomplex schon sichtbar geöffnet – befinden sich hier ein integrativer Kindergarten, eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete und ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche. Man sieht den gelben Klinkerbauten nicht unbedingt mehr an, was hier alles seit 1892 untergebracht gewesen war. Umso wichtiger ist das Erinnern und eine möglichst umfassende Aufarbeitung dieser Geschichte, die eben sehr symptomatisch davon erzählt, wie tief durchdrungen unsere Gesellschaft von einem Denken der Disziplinierung und Überwachung ist. Es wäre fahrlässig, so zu tun, als wäre das alles mit 1989 überwunden.

Zwei Beiträge in diesem Buch beleuchten das Thema übrigens aus Sicht zweier westdeutscher Initiativen, die sich mit dortigen einstigen Verwahranstalten und der Erarbeitung eines fundierten Gedenkens beschäftigen.

Ann Katrin Düben Die ehemalige Leipziger Arbeitsanstalt Riebeckstraße 63, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, 17,90 Euro.

Wie Leipzig im Georgenhaus versuchte, seine armen Sünder zu korrigieren

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