Einige der großartigen Kinderbücher aus den 1920er Jahren werden noch heute immer wieder aufgelegt und mit Begeisterung gelesen: Erich Kästners „Emil und die Detektive“ von 1929 zum Beispiel oder Wolf Durians „Kai aus der Kiste“ von 1926. Aber manche Kinderbücher sind auch in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, wie die Germanistin Gina Weinkauff zu diesem Buch von Tami Oelfken feststellt, das ein Klassiker hätte werden können.

Erschienen ist das Buch 1931 im Müller & Kiepenheuer Verlag in Potsdam. Anfang 1933 landete es auf der schwarzen Liste der Nazis, denen der Ton dieses Buches nicht gefiel. Und nicht nur der. Ein anonymer Beurteiler der Vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse monierte das „Frühreife“ an der Heldin und ließ damit das ganze piefige alte Menschenbild der neuen Machthaber durchblicken, die Kinder vor allem als Erziehungsmaterial betrachteten, das zu parieren hatte. Von „frühreifen Berliner Kindern“ schreibt der Beurteiler, den Gina Weinkauff zitiert. Und die „ironie-erfüllte Sprache“ gefiel ihm erst recht nicht.

Obwohl von Ironie im ganzen Buch nichts zu finden ist. Vergrämte Patrioten verfehlen in der Regel immer die richtige Kategorie, weil ihnen 99 Prozent aller menschlichen Regungen völlig fremd sind. Oder sie kennen sie und haben gerade deshalb Angst davor – weil sie das enge Korsett der Selbstgerechten zu sprengen drohen.

Genauso, wie sie sich vor kleinen, selbstbewussten Menschen fürchten, die sich von Erwachsenen schon mal gar nicht alles sagen lassen. Denn da lauert die Emanzipation. Mit emanzipierten Menschen aber lässt sich keine Diktatur machen. Die parieren nicht. Lassen sich auch ungern uniformieren, mundtot und hörig machen. Und sie werben auch mit all ihrem Können für Dinge wie den Frieden – was Tami Oelfken im Westen 1951 wieder zur Unperson machte. Ihre Pläne, wieder Kinderbücher zu veröffentlichen, scheiterten. Selbst die Manuskripte gingen verloren.

Der Ton, in dem sie „Nickelmann“ schrieb, erinnert übrigens weniger an Kästner oder Durian als an Tucholskys zwei unverwüstliche Romane „Rheinsberg“ und „Gripsholm“, in denen er wie kein anderer den schnippischen, mit Liebe und Augenzwinkern gesättigten Berliner Ton traf, diese faszinierende Fähigkeit, sich selbst auf den Arm nehmen zu können, die Welt mit Hintersinn zu betrachten und dabei trotzdem sein Staunen über das Allerunmöglichste nicht zu verlieren.

In Nickelmann darf man durchaus eine kleine Claire sehen, ein Mädchen, das keine Angst hat, den verbiesterten Vorstellungen der Erziehungsberechtigten nicht zu genügen. Was auch mit der Autorin zu tun hat, denn Tami Oelfken war Reformschullehrerin und gründete in Berlin auch eine eigene Reformschule. Aus dieser Reformschulbewegung resultiert alles, was heute am deutschen Bildungssystem als vorbildlich gelten kann – auch der andere Blick auf Kinder und ihr Recht auf eine eigene Persönlichkeit.

Man ahnt sehr schnell, warum diese Nickelmann, die eigentlich Gertrude heißt, dem Wachhabenden über das deutsche Jugendschrifttum so sauer aufstieß. In solchen Kindern sehen solche Ausgewachsene all das, was sie sich in ihrem Leben nie getraut haben zu sein: angstlos, neugierig, kess, empathisch, zuversichtlich und vertrauensvoll.

Was natürlich – wie Gina Weinkauff zu Recht betont – viel mit der Absicht der Autorin zu tun hat, ein exemplarisches Beispiel für Reformerziehung zu erzählen. Was auf den ersten Blick verblüfft, denn Nickelmanns alleinerziehende und erwerbstätige Mutter erscheint ganz und gar nicht als Erzieherin, was ja diktatorische Gemüter in der Regel als Vollstreckerin verstehen. In deren Sichtweise sind Erziehungsberechtigte ja nur Stellvertreter des Staates, die die vom Staat befohlenen Erziehungsmethoden an den Kindern vollstrecken.

Tut mir leid, wenn ich jetzt etwas emotionaler werde als die fleißige Germanistin, die ja in ihrem Nachwort erst einmal aufarbeitet, was wir zu Tami Oelfken und „Nickelmann“ alles nicht gewusst haben. Auch nicht wissen konnten, weil von den damals gedruckten 6.000 Exemplaren wohl nur wenige in heutigen Bibliotheken überdauert haben. Auch Bücher verschwinden, auch dann, wenn sie nicht von Nazis auf Scheiterhaufen verbrannt werden.

Aber Tami Oelfken war nur zu bewusst, dass man Kinder nicht mit dem Prügel erzieht (die prügelnde Erziehungsmethode wird in der Geschichte mit dem aus einem Heim geflüchteten Kalli freilich auch thematisiert), sondern durch Zuwendung, Vorbild und Aufmerksamkeit. Denn dafür steht Nickelmann exemplarisch: ein Mädchen, das vor Neugier geradezu platzt und wirklich wissen will, warum alles so eingerichtet ist in ihrer Welt. Eine Welt, die tatsächlich das Berlin der späten 1930er Jahre ist, wenn auch in diesem Fall die bürgerliche Welt von Wilmersdorf, wo es noch Hauswarte gibt, gepflegte Rasen bis an die Häuser, Dienstbotenaufgänge und Straßenkehrer, die sich als Vertreter von Recht und Ordnung verstehen.

Und auch wenn Tami und ihre Freundin Marianne nur ein kleines Taschengeld bekommen, können sie sich trotzdem einen Sonderrabatt-Einkauf nach Weihnachten im „Kaufhaus des Westens“ nicht leisten, wo sie verblüfft zuschauen, wie wild gewordene Erwachsene sich auf die verbilligten Reste des Weihnachtsgeschäfts stürzen. Es steckt also auch noch eine deftige Prise Verblüffung über die chaotischen Auswüchse von Werbung und Marktwirtschaft in dieser Geschichte, erzählt wie ein echtes Mädchenabenteuer.

Die Kinder lernen eine Menge über die seltsame Welt der Erwachsenen. Die sich freilich auch etwas anders verhalten als die üblichen um ihre Autorität stets besorgten Ausgewachsenen. Was auch daran liegt, dass Tamis Mutter anders handelt – auf ihre Weise auch angstlos: Sie zittert nicht in Furcht vor Vorgesetzten, sondern ruft sie beherzt an, als es um Hilfe für Kalli geht.

Wenn Amtswalter merken, dass die ihnen anvertrauten Schützlinge auch selbstbewusste Fürsprecher/-innen haben, hören sie auch leichter auf, sich hinter Paragraphen, Vorschriften und anderen bürokratischen Albernheiten zu verstecken. Das Buch ist auch ein freundlicher Appell an Hilfsbereitschaft und Offenheit der Menschen.

Und Tami Oelfken wusste nur zu gut, dass die längst wieder am Schwinden waren. Denn die Drohkulisse der Nationalsozialisten war längst aufgebaut. In der Schule erfährt Nickelmann selbst, wie laut die Judenfeindlichkeit schon ist, wie ganz normale Kinder vom Irrsinn ihrer Eltern schon angefeuert sind, jetzt auch noch über ihre jüdischen Mitschüler/-innen herzufallen. In diesem Fall geht es gut, weil die Schreihälse in der Minderzahl sind. Aber mit dem Wissen der Nachgeborenen kann man über diese Szene nicht hinweglesen ohne zu erschrecken: So schnell ergreift der systematisch betriebene Hass eine Gesellschaft.

Und die Kinder, denen das von ihren Eltern so beigebracht wird, merken nicht einmal, wie sie missbraucht werden und wie ihnen mit diesen falschen Bildern der offene Blick auf ihre Welt und ihr eigenes Leben genommen wird. Ein hochaktuelles Thema, wie wir alle wissen. Es funktioniert jedes Mal auf dieselbe Weise.

Und Menschen, die mit der Angst vor Autoritäten aufgewachsen sind, sind nun einmal auch leichter verführbar für alle möglichen Spukgebilde und Bedrohungsszenarien. Lieber unterlassen sie jeden auch nur leicht „ketzerischen“ Gedanken, als die Missbilligung ihrer Netzwerke zu riskieren, die ebenso seit 100 Jahren stets auf dieselbe Weise reagieren. In dieser Floskel hier ziemlich genau auf den Punkt gebracht: „So einer bist du also?!“

Schon mal gehört?

Dann wissen Sie, worum es die ganze Zeit geht: die ganz gezielte Angst, als „So einer“ oder „So eine“ nicht mehr zum gleichgeschalteten Haufen gehören zu dürfen. Als wäre das eine Gnade, ein Zeichen von Auserwähltheit. Obwohl sie dafür alles verschenken müssen – zuallererst diese unbändige Freude am Neugierigsein und Staunen, die Nickelmann als Kind so besonders macht. Obwohl es eigentlich nichts Besonderes ist, sondern die einfachste und ehrlichste Haltung zum Leben.

Wie es weitergeht mit Nickelmann, erahnt man im Buch nicht mehr. 1933 plante Tami Oelfken wohl noch einen Fortsetzungsband. Das Mädchen, das Vorbild stand für Nickelmann, gab es wohl auch. Tami Oelfken habe es wohl noch selbst zum Zug gebracht, als es Deutschland verlassen musste, liest man. Und irgendwie scheint gerade dieses Wissen dazuzugehören zu diesem Buch. Denn wie anders sollte es ausgehen für quicklebendige und durch nichts einzuschüchternde Mädchen in diesem heraufziehenden Reich der Opportunisten und Lebensfeinde?

Der verbissene Jugendschriftenwart hat durchaus begriffen, dass diese so leicht und freundlich geschriebene Geschichte ins Herz der Ideologie traf, in deren Namen er urteilte: Es ist ein einfühlsames Plädoyer für den lebendigen, nicht durch Prügel und Verbote kleingemachten menschlichen Lebensmut.

Der Verlag Hentrich & Hentrich hat das Buch ganz in der Anmutung der Erstausgabe nachgedruckt und auch die von der Malerin Fe Spemann geschaffenen Collagen übernommen, die natürlich auch noch einmal die Moderne dieser Zeit aufnehmen, die durchaus das Zeug zu einem menschlichen und offenen Deutschland in sich trug. Ein Aspekt, den man meistens übersieht, wenn man die späte Weimarer Republik zu verstehen versucht.

Tami Oelfken; Gina Weinkauff Nickelmann erlebt Berlin, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, 14,90 Euro.

Der Katze ist es ganz egal: Die Geschichte, in der aus Leo Jennifer wird

Der Katze ist es ganz egal: Die Geschichte, in der aus Leo Jennifer wird

Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir

Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar