Über Adolph Freiherr Knigge gibt es ja so einige „landläufige Meinungen“, wie es der Wikipedia-Artikel zu seinem Erfolgsbuch „Über den Umgang mit Menschen“ nennt, nur um dann selbst eine landläufige Meinung hinzuschreiben: Es handele sich eben nicht um ein Benimmbuch. Freilich eingegrenzt durch das ewig zitierte Beispiel mit den Gabeln. Aber es ist eben deshalb ein Benimmbuch. Und dieses hier ist auch eins. Ein dringend nötiges in Zeiten entgleisenden Benehmens unter Menschen.

Denn das menschliche Miteinander ist ein Dschungel. Zumindest dann, wenn sich die meisten nicht an Regeln halten oder jeder seine eigenen Regeln macht, wie er lustig ist. Dass unsere Gesellschaft heute so oft entgleist, hat genau damit zu tun – mit Menschen, die mit voller Absicht die Regeln des Miteinanders verletzen.Auf Ahnungslosigkeit können sie sich alle nicht herausreden. Es gibt seit dem Ersterscheinen von Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ im Jahr 1788 genug Neuauflagen, von Verlagen und Autoren weitergeschriebene und umgeschriebene Varianten des Buches, darunter auch jene oft einfältigen Regelbücher, die Knigges Anliegen auf simple, auswendig zu lernende Regeln reduzierten.

Aber schon wer Knigge im Original liest, merkt, dass es dem Freiherrn immer um mehr ging. Dazu hatte er selbst zu viele negative Erfahrungen gemacht in Gesellschaftskreisen, die ihn ausschlossen und ihn ihre Verachtung spüren ließen, weil er die richtigen Regeln nicht beherrschte. Am Ende des 18. Jahrhunderts keine ungewöhnliche Erscheinung. Die alte Standeswelt war gewaltig in Bewegung gekommen.

Das Bürgertum forderte einen neuen Platz in den alten Hierarchien und stellte sie gleichzeitig infrage. Aber Hierarchien schützen sich durch Regeln, an denen jeder, der drin ist, jederzeit erkennt, ob andere Leute dazugehören und auf welcher gesellschaftlichen Stufe sie tatsächlich stehen. Manchmal wird der Neuling dann gnädig geduldet, wenn er die Regeln beherrscht. Meist aber wird er auf die feine englische Art so lange gemobbt, bis er von selbst verschwindet. Alles 1788?

Nein. Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen zeigen mit ihrem Buch eigentlich, dass sich seit Knigges hilfreichem Wirken nicht wirklich viel geändert hat. Auch wenn es beim ersten Durchblättern gar nicht so scheint. Denn richtig gute Ratschläge, wie man mit der lieben Verwandtschaft umgeht, mit Kollegen, Kindern und Geliebten, helfen jedem und jeder. Gerade wenn es darum geht, das Ungesagte zu klären und den Stress herauszunehmen.

Denn das ist ein Moment, den auch Knigge schon beobachtet hat: Wenn man ein paar simple Verhaltensweisen beherzigt, nimmt man aus all den komplizierten menschlichen Begegnungen, denen man nicht ausweichen kann, den Druck. Und sich selbst natürlich auch. Das ist im Grunde die simpelste aller Regeln: Regeln entlasten. Sie schaffen erst das freundliche Umfeld, in denen Menschen miteinander umgehen können, ohne dass die Begegnung am Ende in eine Schlägerei ausartet.

Und es gibt etliche Kapitel in diesem Buch, die noch einmal vergegenwärtigen, in wie vielen täglichen Begegnungen sich der Mensch der Gegenwart behaupten muss, wo Stress entsteht und all die Panik, mit denen die großen Beruhigungspillenhersteller ihr Geschäft bestreiten. Eine Panik, die nicht nur von den schrägen Onkeln am Familientisch ausgelöst wird, die schon immer alles dafür getan haben, den Familienfrieden zu stören.

Eher ist es manchmal so, dass man das Gefühl einfach nicht loswird, dass immer mehr Leute (vor allem Männer) nie das hatten, was man eine gute Kinderstube nennt. Die man nicht mit schwarzer Pädagogik verwechseln darf. Man muss Kindern keine Regeln einprügeln. Das, was wirklich wichtig ist, lernen sie von ganz allein, wenn es Papa und Mama selbst vorleben und immer wieder auch erklären.

Kinder lernen fast alles durch Vorbildwirkung. Und augenscheinlich sind etliche Erziehungsberechtigte sehr schlechte Vorbilder gewesen. Nachprüfen kann man das ja nicht. Es sei denn, man kennt die Eltern und die Söhne und weiß, woher der arrogante Schneid kommt, die Verachtung Schwächerer, das Großmannsgehabe vom „Leistungsträger“ und das schäbige Verhalten gegenüber Frauen.

Sehr ausführlich gehen die beiden Autorinnen auf die moderne Arbeitswelt ein – oder besser: jenen Teil davon, den sie kennen, die gehobene Geschäftswelt mit einem Meer von Regeln, das einen doch vertrackt an Knigge erinnert. Es ist noch immer eine elitäre Welt, die voller ungeschriebener Verhaltens- und Hierarchieregeln steckt. Bis in den Kleidungsstil hinein, mit dem sich die beiden sehr intensiv beschäftigen. Erstaunlicherweise sogar wohlwollend, als wäre ihnen an der Stelle gar nicht mehr bewusst, dass in unserer Gegenwart noch ganz dieselben Regeln des Ausschließens und Hierarchisierens gelten wie zu Knigges Zeiten.

Nur dass das alles wie Understatement aussieht, so, als könne jeder, der sich nur den richtigen Anzug und die richtigen Umgangsformen zulegt, dazugehören. Immerhin ja auch eine Hoffnung, die Knigge einst hegte. Die Regeln hat er sich mit vielen Blessuren und Niederlagen selbst erarbeitet. Die standen damals nämlich nirgendwo. Und auch heute stehen sie nicht wirklich in den Benimmbüchern.

Deswegen diffundiert das Buch ein wenig. Denn hier würde es sich eigentlich anbieten, die durchaus auffindbaren Regeln genauer zu beleuchten, die heute längst schon wieder dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Schichten wieder so hermetisch voneinander getrennt sind wie zu Knigges Zeiten. Wir sind wieder eine Standesgesellschaft.

Und das hat Folgen, denn das definiert eben auch den Zugang zu sämtlichen höheren Positionen in Wirtschaft, Politik, Verbänden. Und natürlich das Denken über die Gesellschaft. Wer sich darüber wundert, dass die Gesetze in Deutschland fast nur noch für eine gutverdienende Klientel gemacht werden, sieht nicht mehr, wie das noch immer funktioniert – wie die, die dazugehören, durch simple Codes dafür sorgen, dass sie an den entscheidenden Positionen unter sich bleiben.

Aber wie gesagt: Hier täte sich ein ganz anders pointiertes Buch auf.

Dabei wollen Henriette Kuhrt und Sarah Paulsen ihren Leser/-innen ja tatsächlich helfen, mit weniger Stress und Blessuren durchs Leben zu kommen. Gerade im zweiten Teil wird das Buch sehr lebenspraktisch, machen die beiden deutlicher, wie wichtig ein paar Grundverhaltensweisen sind, wenn man sich durch den ganz alltäglichen Dschungel kämpfen muss. Oder besser schlängeln will.

Denn Kampf und Krampf sorgen nur dafür, dass alles nur noch stressiger wird. Dabei sind das sogar sehr lebendige Regeln, die wahrscheinlich schon hunderten Generationen vor uns das Miteinanderleben erleichtert haben. Denn wenn man lernt, gelassener schon im Familienkreis und mit der direkten Nachbarschaft umzugehen, erspart man sich nicht nur Zoff, sondern schafft ganz selbstverständlich eine Basis der Gemeinsamkeit.

Kuhrt und Paulsen ordnen die Problemfelder zwar schon in Kapitel wie Kleiderkauf, Freunde, gemeinsames Essen, Elternschaft und so weiter. Aber letztlich geht es nie um die anderen – außer, dass wir lernen, sie so zu akzeptieren, wie sie sind. Es geht zuallererst um die eigene Einstellung und lauter nützliche Tipps, wie man das Stresslevel senkt, das einen schon zur Verzweiflung bringen kann beim Umgang mit Chefs, bei Betriebsfeiern oder Weihnachten mit der Familie. Alles längst Bereiche, in die das Leistungs(druck)denken von Werbung und Politik längst vorgedrungen sind.

Überall herrscht ja längst ein unerbittlicher Wettbewerb, bei dem ständig bewertet wird und beurteilt wird. Die Schule nicht ausgenommen, die ziemlich wenig dazu beiträgt, Wissenserwerb mit mehr Gelassenheit anzugehen. Und was die Schule an Stress bei den Kindern noch nicht aufgebaut hat, das schaffen heute die Social Media mit ihrem enormen Gruppenzwang. Noch so ein Punkt, an dem man merkt, wie sehr unsere Gesellschaft von ungeschriebenen Regeln des Dazugehörens und Ausgrenzens durchdrungen ist.

Und da kommt man nicht raus, wenn man es den anderen immerfort beweisen will. Da sitzt man längst schon in der Denkfalle, statt sich um sich selbst zu kümmern und das, was einem wirklich wichtig ist. Und das bekommt man nun einmal nicht, wenn man immer nur nach den Regeln der anderen spielt. Das bekommt man nur, wenn man loslässt und sich selbst akzeptieren lernt.

Was eben nicht nur etwas ältere Frauen vorm Spiegel betrifft, sondern alle Geschlechter und alle Altersstufen. Besonders plastisch schildern es die beiden am Beispiel der Kindererziehung und der heute von riesigen gesellschaftlichen Erwartungen überfrachteten Eltern, die längst schon ein Ideal erfüllen müssen, das mit Leistungsport schon drastisch untertrieben benannt wäre. Aber Menschen sind anfällig dafür, die Erwartungen der „Gesellschaft“ anzunehmen.

Wer hinterfragt denn, wer eigentlich hinter dieser „Gesellschaft“ steckt und hinter diesen Erwartungshaltungen? „Die im Dunkeln sieht man nicht“, textete Bert Brecht. Der kannte diese Leute nur zu gut, die feinen Leute, wie sie sich gern nennen, weil sie stets im feinen Zwirn herumlaufen und so elegante Umgangsformen haben, dass man ihren Eigennutz übersieht, ihre Lust daran, Macht auszuüben. Auf die feine Art.

Genug Gründe, diesen feinen Druck wenigstens aus seinen nächsten und persönlichsten Beziehungen rauszuhalten und einfach mehr darauf zu achten, was einem selbst guttut. Und das funktioniert, wenn man damit auch offen umgeht – jedenfalls gegenüber seinen guten Freund/-innen und seiner Familie. Oft schafft das sogar erst die Basis, auf der Verständnis füreinander wächst. Denn auch die anderen sind nicht perfekt und können sich oft erst entspannen, wenn sie wirklich merken, dass sie bei ihren besten Freunden sein dürfen wie sie sind, Schwäche zugeben dürfen und auch, dass sie eben nicht überall perfekt sind.

Vielleicht auch in gar nichts, was ja manche geradezu als Horror empfinden. Denn diese Anspruchshaltung, man müsse in dieser Welt unbedingt Karriere machen und in irgendetwas Weltmeister werden, ist ja auch allgegenwärtig. Und macht schon Kinder und Jugendliche kaputt. Dabei lebt man in der Regel ein viel ausgefüllteres Leben, wenn man einfach nur mittleres Maß ist in den meisten Dingen – also so wie die meisten Menschen um einen herum. Und nur bei manchen Dingen wirklich gut, bei anderen einfach unfertig, wie man nun einmal als Mensch immer unfertig bleibt.

Noch mehr Gründe, sich mit Genuss durch die freundlichen Tipps zu lesen, die die beiden Autorinnen zu manchen Themen recht ausführlich geben. Wohl wissend, dass es da draußen jede Menge auch gedruckter Benimmbücher gibt, die den Lesern geradezu das Gegenteil einreden und den Druck noch erhöhen, sich im Umgang mit den Schönen und Reichen und Überkandidelten zu perfektionieren. Beim Thema Mode und Essen berühren sie ja diese Welt, die nur scheinbar etwas lässiger geworden ist. In Wirklichkeit sind die Zeichen der Abgrenzung nur noch viel subtiler und ausgrenzender geworden. Mithalten kann da nur, wer sich selbst völlig verleugnet.

Will man das? Glücklich wird man damit wirklich nicht. Denn dieses Bemühen frisst endgültig all die wertvolle Zeit, die man eigentlich zu einem entspannten und für andere offenen Leben braucht. Und nicht ganz zufällig beenden die beiden ihre Tour mit dem schlimmsten aller Feste, wo die Erwartungen nicht nur die überforderten Hausfrauen völlig erschlagen: Weihnachten, dem längst schon entchristianisierten Konsumfest der unerfüllbaren Erwartungen, bei dem viele Menschen ins tiefstmögliche Loch fallen.

Dabei lohnt es sich gerade in diesen stillen Tagen darüber nachzudenken, woher diese Erwartungen eigentlich alle kommen, wie sie mit dazu beitragen, eine von Elite besoffene Gesellschaft am Leben zu erhalten, und wie sie ihre Mäuse im Laufrad halten selbst noch an den Tagen, an denen es eigentlich mal nicht um Prestige und Wir-sind-die-Größten gehen sollte.

In diesem Sinne treten die beiden durchaus in die zierlichen Fußstapfen des Freiherrn Knigge und verfolgen wie er das sehr menschenfreundliche Ziel, den Leser/-innen viele gute Tipps mitzugeben, wie sie in einer Welt ihre Integrität bewahren, in der alles auf Trennen und Aussortierten angelegt ist. Woraus natürlich all das lodert, was an Regelverstößen die gesellschaftlichen Grundlagen immer mehr verbrennt und verwüstet.

Henriette Kuhrt; Sarah Paulsen Im Dschungel des menschlichen Miteinanders, Goldmann Verlag, München 2021, 18,00 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar