Ein Theaterprojekt in Halle war der Auslöser, der die Theaterautorin Dagrun Hintze, 1971 in Lübeck geboren, dazu animierte, dieses Buch zu schreiben, eins der wenigen Bücher, das die deutsch-deutsche Sprachlosigkeit thematisiert – und zwar aus westdeutscher Sicht. Zwei Tage vor dem Theaterworkshop in Halle war erst der Anschlag auf die Synagoge in Halle erfolgt. Die Stadt war in Schockstarre.

Dass der Osten nicht das war, was westdeutsche Medien darüber in der Regel meinen und erzählen, das wusste sie schon vorher. Ein Theaterprojekt hatte sie vorher auch schon nach Dresden geführt, just in jener Zeit, als dort die PEGIDA-Demonstrationen begannen und das Klima in der Stadt sich beim Zusehen veränderte. Das war dann wohl auch die Zeit, als ein Theaterkollege sie dort eine „professionelle Westschnepfe“ nannte.

Was sie natürlich traf, auch weil sie – wie so viele – gedacht hatte, dass sich das deutsch-deutsche Missverstehen nach 25 Jahren doch eigentlich ausgewachsen haben müsste. Aber dem ist nicht so. Im Gegenteil: Vieles von dem, was sich da im Osten Deutschlands artikuliert, kann man auch als einen Akt der Selbstbehauptung betrachten, mit dem ein ganzer Landesteil, in dem sich die Bewohner bevormundet und kleingemacht fühlen, die Deutung über das eigene So-Sein zurückerobert. Und manchmal auch brüllend auf die Straße trägt.

Kleinmachen als mediale Dominanzwahrung

Denn das hatte auch Dagrun Hintze früh gemerkt, dass die in westdeutschen Medien (und wohl auch großenteils im Westen) dominierende Sicht auf die „Ossis“ tatsächlich genau das war: Die Sicht einer sich als Maßstab betrachtenden Mehrheitsgesellschaft auf eine Minderheit, die man bis heute nicht als Teil des großen Ganzen sehen und akzeptieren möchte.

„Othering“ nennt man das, wenn es um migrantische Mitmenschen geht. Aber dieses Othering erleben Ostdeutsche seit über 30 Jahren ebenso. Schon im (von der „Bild“-Zeitung geprägten) „Ossi“ steckt die Verkleinerung, die Marginalisierung jener Menschen, die aus dominierender westdeutscher Sicht als nicht dazugehörig empfunden werden.

Oder als solche definiert. Denn wenn man den so Markierten etwas „Besonderes“ attestiert, gar noch eine besondere Schuldbeladenheit, sind sie ja wohl selbst schuld daran, dass sie noch immer hinten in der Schlange stehen und sowieso nicht infrage kommen, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht.

„Die Negativ-Erzählungen über die Ostdeutschen (ungeachtet der Frage, ob sie nun der Wahrheit entsprachen oder nicht) hatten wohl auch eine psychologische Funktion – entschuldigten sie doch zumindest ein wenig die Unanständigkeit des Westens“, schreibt Hintze. „Denn kaum war der euphorische Mauerfall-Moment vergangen, zeigte der Kapitalismus auch schon sein zynischstes Gesicht …“

Entwertete Qualifikationen

Es kam da so einiges zusammen, was Hintze dann in Interviews mit Ostdeutschen auch als Lebenserzählung zu hören bekam, denn die meisten erlebten quasi über Nacht, wie das ist, wenn Berufsqualifikationen völlig entwertet werden, AMB-Stellen, die wie Gnadenbrot verteilt wurden, und westdeutsche Vorgesetzte, die ihren Dünkel geradezu heraushängen ließen.

Über die drittklassigen Führungskräfte, die man im Westen froh war, sie loszuwerden, und die dann im Osten Karriere machten, ist ja genug geschrieben worden, genauso wie über die Praktiken der Treuhand, die faulen Hinterzimmerdeals, die neuen westdeutschen Seilschaften und auch die Ignoranz, mit der ostdeutsche „Errungenschaften“ für obsolet erklärt wurden – bis man auch im Westen kapierte, dass Kinderkrippen und Polikliniken überhaupt keine dumme Erfindung waren.

Und das alles hat natürlich mit einem Denken zu tun, dessen sich auch Dagrun Hintze erst nach und nach bewusst wurde, obwohl sie in ihrem Leben selbst Erfahrungen gemacht hat, wie man als Großelternkind, Kunstschaffende und Ich-AGlerin Ausgrenzungserfahrungen machen musste.

Doch es ist wie bei Rassismus: Die Mehrheitsgesellschaft, die ihr eigenes So-Sein als verbindlichen Maßstab begreift, wird sich ihrer Diskriminierung und Abwertung von Minderheiten einfach nicht bewusst. Und auch nicht der Borniertheit und Schmalspurigkeit ihres Denkens.

Und ebenso wenig der Wirkung, die diese Haltung auf jene hat, die das durchaus mit Befremden wahrnehmen. Deswegen war der Begriff der „Westschnepfe“ durchaus wirksam: Er machte selbst der sich so weltoffen und kollegial fühlenden Künstlerin klar, dass sie sich anders verhielt als die Kollegen aus dem Osten. Was durchaus mit Prägung zu tun hat.

Denn natürlich ist etwas daran, dass Ostdeutsche anders sozialisiert wurden – und werden. Das verblüfft erst, weil ja nun einmal Margot Honeckers Bildungssystem vor über 30 Jahren abgeschafft wurde und der Sozialismus in seiner realexistierenden Prägung sowieso.

Aber augenscheinlich haben es ostdeutsche Eltern bis heute verinnerlicht, ihre Kinder eben nicht als kleine Egoisten zu erziehen, die davon ausgehen, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen und sich nach vorn drängeln müssen, wenn sie was werden wollen.

Selbstverwirklicher und Kollektivkinder

Im Kapitel „Über sieben Brücken“ macht es Hintze gerade an ihren Erfahrungen mit Schauspielerkollegen aus Ost und West deutlich und auch an einem Kunstprojekt an der innerdeutschen Grenze, das die teilnehmenden Macher aus dem Westen als ideale Gelegenheit zur Selbstverwirklichung sahen, während sich der ostdeutsche Agenturinhaber zurücknahm, sich eben nicht in den Vordergrund spielte – und auch nicht seine eigenen Erfahrungen mit der Mauer.

So richtig untersucht hat das noch keiner. Lieber wertet man das aus Westsicht ab, um es nicht näher beleuchten zu müssen – man denke nur an die dämliche Töpfchenthese eines westdeutschen Kriminologen, der in der Kindergartenerziehung die Wurzel für autoritäres Verhalten sehen wollte.

Aber was verändert das wirklich an einer Gesellschaft, wenn ganze Generationen so erzogen werden, dass sie der Gemeinschaft, dem Kollektiv, wie das hieß, die größte Bedeutung zumessen und auch lernen, dass Gesellschaft gestaltbar ist und verändert werden kann?

Genau das, was ja 1989/1990 passierte, dem Jahr, für das es in Wirklichkeit keine passenden Worte gibt, denn das von Egon Krenz stammende „Wende“ ist kontaminiert, Friedliche Revolution beschreibt einen Prozess, der weit über den Herbst 1989 hinausgeht, und „Anschluss“ ist natürlich zutiefst ironisch gemeint, weil es die deutsch-deutschen Verhandlungspartner ja wirklich nicht auf die Reihe bekamen, ein Zusammengehen auf Augenhöhe zu organisieren. Ergebnis: ein Beitritt zu den Konditionen des Stärkeren.

Volle Packung Neoliberalismus

Nicht zu vergessen, dass die alte Bundesrepublik selbst gerade in einer veritablen Krise steckte und der Kapitalismus, den die Ostdeutschen kennenlernten, nichts mehr mit der gemütlichen sozialen Marktwirtschaft zu tun hatte, die einst das „Wirtschaftswunder“ prägte.

Im Gegenteil: Sie bekamen sofort die volle Packung Neoliberalismus. Und das auch noch mit einer Metaerzählung, die ausgerechnet diese Wirtschaftsform für alternativlos erklärte. Erschreckend genug, dass später die ostdeutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel genau diese Phrase übernahm – und auch so meinte.

Und durchaus zu Recht stellt Hintze fest, was für eine Ignoranz darin steckte, ihre Generation, die der um 1970 Geborenen – ausgerechnet als „Generation Golf“ zu bezeichnen, womit ostdeutsche Jugendliche natürlich nichts anfangen konnten. Das hatte mit ihren Kindheitserfahrungen überhaupt nichts zu tun.

Und noch verblüffender findet Hintze bei ihrer Beobachtung der Westdeutschen ihre „absolute Unfähigkeit, eine Alternative zum Kapitalismus in Wahrheit auch nur denken zu können, und zwar trotz aller möglichen Sympathien für linke bzw. kapitalismuskritische Positionen“.

Es waren dann durchaus auch Lieder und Texte ostdeutscher Autoren, die sie in ihrer alten westdeutschen Selbstgewissheit erschütterten – von Hans-Eckart Wenzels „Klassentreffen“ (Youtube) bis zu Holger Witzels „Schnauze, Wessi“-Texten im „Stern“.

Nicht zu vergessen die selbstbewussten ostdeutschen Frauen aus ihrem Freundeskreis, deren Durchsetzungskraft sie verblüffte. Noch so etwas, was ja im Osten gelernt worden sein musste. Und was ja auch so war. Frauen wurden tatsächlich ernst genommen. Und ihnen wurde was zugetraut – auch die Dreifachbelastung von Beruf, Familie und Haushalt.

Aber: Es wurde nicht abgewertet. Im Gegenteil. Sie hatten schon in Zeiten von „Guten Morgen, Du Schöne“ gelernt, sich Respekt zu verschaffen und sich auch als Alleinerziehende durchzuschlagen, ohne herrschsüchtigen Männern gegenüber ein schlechtes Gewissen zu haben. Das ließen sich auch die Töchter und Enkelinnen nach der „Wende“ nicht nehmen.

Leben mit Stereotypen

Ein Moment, in dem Dagrun Hintze merkte, dass der westdeutsche Blick auf die Ostdeutschen vielleicht doch nur borniert und voller Vorurteile war. Und dann war da noch dieser eigenartige Moment, als sich ein österreichischer Politiker im Radio öffentlich entschuldigt hatte für eine Bemerkung über Ostdeutsche.

Denn die waren (und sind) zwar in der österreichischen Gastronomie bis heute präsent als Gastarbeiter/-innen der besonderen Art. Aber in Österreich wie der Schweiz würde ein Großteil der Gastronomie wohl schließen müssen ohne diese fleißigen Servicekräfte. Die es ja auch in der westdeutschen Wirtschaft gab. „Eine solche Entschuldigung hätte ich gern mal aus Westdeutschland gehört“, zitiert sie einen Workshop-Teilnehmer.

Aber ostdeutsche Arbeitskräfte tun ja bekanntlich alles, um nicht aufzufallen in der westdeutschen Gesellschaft. Denn viele von ihnen haben erlebt, wie schnell man dort für Herkunft und Sprache diskriminiert wird und die öffentlich gepflegten Stereotype über die „Ossis“ wie selbstverständlich praktiziert werden.

Natürlich zitiert sie auch Ingo Schulze, der 2021 in der „Süddeutschen Zeitung“ die Westdeutschen auch mal zu kritischer Selbstreflexion aufgefordert hat. Denn wer seine eigene Weltsicht nicht infrage stellt und deren Folgen fürs eigene Verhalten, der begreift natürlich nichts. Der versteht nicht einmal, wie er fortwährend Kränkungen und Verletzungen erzeugt. Nicht nur bei Ostdeutschen. Dass es Menschen mit Migrationshintergrund genauso geht, verschweigt Dagrun Hintze auch nicht.

Alle Kameras auf Nazis

Die Lösung? Könnte ein endlich beginnendes deutsch-deutsches Gespräch sein, findet Dagrun Hintze. Wobei ihr Essay ja zeigt, dass es durchaus möglich ist, die eigene Sichtweise zu hinterfragen und zu verändern. Und die Sorgen und Nöte der Anderen wahrzunehmen und zu verstehen.

Denn eines ist Fakt, auch wenn es die Kommentatoren großer konservativer Medien immer wieder anders behaupten: Den Ostdeutschen wurde nichts geschenkt. Und sie haben sich auch nichts geschenkt. Und mit dem brüllenden Nazitum der „Baseballschlägerjahre“ wurden sie insbesondere von westdeutschen Politikern sträflichst allein gelassen, eigentlich bis heute.

Bei den Ereignissen in Chemnitz, wo ost- und westdeutsche Nazis arrogante Verbrüderung feierten, wurde das nur zu deutlich. Von der blamablen Aufarbeitung des NSU mal ganz zu schweigen.

Chemnitz machte aber eben auch sichtbar, dass es auch das andere Ostdeutschland gibt, eigentlich die Mehrheitsgesellschaft, die man aber nicht sieht, wenn die Kameras immer nur auf die brüllenden Menschenfeinde halten, die sich hier tummeln und mittlerweile ganze Regionen einschüchtern.

Auch das Thema schneidet Hintze an.

Es ist ein kluges, sehr aufmerksames Buch geworden, das sie da geschrieben hat. Ob das Gespräch freilich je in Gang kommt? Eine völlig offene Frage, die sehr viel damit zu tun hat, wer das Sprechen über die anderen dominiert oder zwanghaft dominieren will, weil alles andere bedeuten würde, die eigene Sichtweise auf die Welt infrage zu stellen.

Dagrun Hintze Ostkontakt, Mairisch Verlag, Hamburg, 12 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Sie haben recht. Vielen Dank für den Hinweis. Wir haben es geändert.

“Outering”? – Ist “othering” gemeint?

Ergänzen würde ich aus eigenen Beobachtungen und Erlebnissen der Jahre, wie viel Selbstverachtung Ostdeutsche / DDR-BürgerÏnnen in der Wendezeit produziert haben, dass sie sich selbst klein gemacht und wie den letzten Dreck behandelt haben. Ich habe fast geweint als ich miterleben musste, wie sich Dresdner und Dresdnerinnen 1990 auf der Prager Straße in Dresden für ein paar abgelaufene Tafeln Ritter-Sport, die dort vom LKW verteilt wurden, dressieren ließen.

All die Negativ-Erzählungen der bösen Westmedien hätte auf dem Boden dieser Selbstverachtung gar nicht blühen können. Die Frage wäre dann, wo die Selbstverachtung herkam…

Und diese Selbstverachtung anzuerkennen wäre ein wichtiger Schritt, der wegführt von der Opfer-Erzählung.

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