Selbst Wikipedia erwähnt es in Einsteins Biografie nur in einem Satz: „Im Januar 1911 wurde er, wie Unterrichtsminister Stürgkh kundmachte, von Kaiser Franz Joseph I. zum ordentlichen Professor der theoretischen Physik an der K.k. deutschen Karl-Ferdinands-Universität Prag ernannt.“ Mehr nicht. Obwohl in diesem Satz jede Menge Brisanz steckt. In diesem Jahr 1911 sowieso. Aber das merkt man nur, wenn man sich wie der New Yorker Cartoonist Ken Krimstein tatsächlich mal intensiver mit diesem Prag-Aufenthalt Einsteins beschäftigt hat, mit Gravitation und einem gewissen Herrn Kafka.
Für einen Cartoonist sind die beiden Männer ein gefundenes Fressen. Was Einstein für die Physik ist, ist Kafka für die Literatur. Beide sind Genies der Relativität. Und für den besonderen Blick, der erst sichtbar macht, in was für einer verrückten Welt wir tatsächlich leben. Was die meisten Menschen gar nicht wissen wollen. Das sei hinzugefügt. Sie leben in ihrer zweidimensionalen Welt und merken nicht einmal, was für einem Mumpitz sie veranstalten. Immer stur drauflos.
Wie funktioniert die Welt?
Als Einstein im April 1911 mit seiner kleinen Familie in Prag ankam, war er noch nicht der berühmte Einstein, den wir heute mit der Relativitätstheorie verbinden. Sie fiel ihm auch nicht in den Schoß, sondern musste hart erarbeitet werden. Auch und gerade gegen die starren Denkgebäude seiner Disziplin. Und der härteste Brocken, der Einstein 1911 auf der Seele lag, war die Gravitation, die er irgendwie nicht in den klassischen Denkgebäuden von Raum und Zeit unterbekommen konnte.
Sie schien einfach nicht zu passen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr Wesen zu begreifen war. Was ist Schwerkraft? Und was hat sie mit Beschleunigung zu tun? Und was richtet sie mit Raum und Zeit an? Oder ist alles ganz anders?
Wer sich tatsächlich einmal bemüht, in die Einsteinschen Denkwelten einzutauchen (und im Anhang gibt Krimstein einen ganzen Berg Lese-Tipps dazu), der landet – wie auf dem Titelbild – in einer Welt, die geradezu kafkaesk anmutet. So, wie sich auch die Schriften Franz Kafkas meist anfühlen, als wäre man in Einsteins verrückter Welt gelandet.
Zufall? Oder war dieser am Ende doch kurze Aufenthalt an der Prager Universität für Einstein tatsächlich wichtig, damit er mit seiner Theorie von der Funktionsweise der Welt endlich den entscheidenden Schritt weiterkam?
Was natürlich auffällt, ist, dass dieses Prag im Jahr 1911 tatsächlich ein besonderer Ort war, eine Stadt, in der das Geistesleben brodelte. Und mindestens einmal kamen die beiden tatsächlich zusammen: Am 24. Mai 1911, als Einstein seine Antrittsvorlesung hielt und Kafka im Publikum saß. Auch Kafka war noch nicht berühmt, nur ein „kleiner Versicherungsangestellter“, der aber schon seine ersten Texte geschrieben hatte.
Nur noch nicht veröffentlicht. Dafür würde erst sein Freund Max Brod sorgen, der ihn im nächsten Jahr – 1912 – nach Leipzig schleppen würde, um ihn dort dem Verleger Ernst Rowohlt vorzustellen.
Die hohe Kunst des Fehlermachens
Aber Krimstein belässt es nicht bei der möglichen Begegnung in Einsteins Antrittsvorlesung. Er lässt die beiden tatsächlich einander begegnen, in Berta Fantas Salon auf die klugen Köpfe Prags stoßen und dann nächtlich durch dieses Prag flanieren, das für Kafka die Kulisse seiner Geschichten wurde.
Zwei noch junge Männer, die alles noch vor sich haben, aber schon mittendrin stecken in ihren verrückten Geschichten, die die Welt ein für alle Mal verändern würden. Einer der Punkte, an denen Einstein sich in sein Neuland wagte, war die am 11. Juni 1911 von ihm verschickte Schrift über die Krümmung von Licht durch Gravitation an die „Annalen der Physik“. Erschienen ist der Aufsatz dann am 1. September.
Ein Aufsatz, mit dem Einstein den Physiker Max Abraham auf den Plan rief, dessen Kritik ihm noch im Folgejahr helfen würde, seine Theorie zu korrigieren. Krimstein lässt auch Abraham auftreten. Immerhin einer der wenigen Männer zu dieser Zeit (man darf hier Einsteins Frau Mileva einfach nicht vergessen), die tatsächlich in der Lage waren zu verstehen, was dieser Einstein da trieb und welche Fehler er machte.
Es ist auch eine große Graphic Novel über das Fehlermachen, die Krimstein hier gezeichnet hat mit wildem Strich. Mit fliegenden Einsteins, einem Skelett von der astronomischen Uhr am Prager Rathaus, das die Moderation der Geschichte übernimmt, Elefanten, die nicht fallen, und eben Physik, die sich wie Zauberei anfühlt.
Aber Dinge erklärt, die weder Newton noch Euklid erklären konnten. Euklid erscheint dann auch noch leibhaftig, als dieser Einstein anfängt, die dreidimensionale Welt Euklids infrage zu stellen, wozu ihn ja Abrahams Kritik animiert hat.
Denn : Was ist, wenn Raum gar nicht existiert? Wenn er gar nicht das ist, was wir Erdbewohner uns immer darunter vorstellen? Wenn Raum und Zeit sogar eins sind? Und Gravitation nicht einfach nur Äpfel „nach unten“ fallen lässt, sondern den Raum sogar krümmt?
Einstein nimmt diesen Abraham jedenfalls ernst – und ficht mit ihm ein richtig schönes Duell aus. Sinnbildlich. Aber Krimstein kann das alles zeichnen. Denn irgendwie muss man das ja auch den ganz gewöhnlichen Sterblichen erzählen und zeigen, wie zwei geniale Köpfe sich um eine solche Theorie prügeln, die am Ende alles auf den Kopf stellt.
Wenn Welten sich durchdringen
Und weil es da noch so einen Burschen gab, der fünfzig Jahre früher auch schon ähnlich schräg dachte, kommen auch Alice, die Grinsekatze und der Märzhase vor in Krimsteins Geschichte. Denn alles hat Vorläufer. Und dass sich das menschliche Denken über die Welt radikal verändern würde, das ahnten als erste die Mathematiker.
Und Lewis Carroll, der Autor von „Alice im Wunderland“ war Mathematiker. Und lässt seine Alice in einer paradoxen Welt landen, in der verrückte Geometrien wirksam werden. Die nicht ganz zufällig vielem ähneln, was dann in Einsteins Raum-Zeit-Gefüge passieren würde.
Und wer „Alice im Wunderland“ kennt, weiß, dass Carroll hier teilweise schon ganz ähnlich erzählt wie Kafka. Ein Kafka, dem Einstein dann als sehr kafkaeskem Mond begegnet, der ihm erklärt, dass auch er einen alten Griechen erst mal umbringen musste, um sich freizuschreiben. Bei Einstein war es Euklid. Bei Kafka war es der strenge Aristoteles mit seiner formalen Logik.
Wer sich in seiner Welt umschaut, weiß, wie sehr die Mitmenschen an formalen Logiken hängen. Und nicht mal merken, wie bekloppt diese Logiken sind. Man nehme nur all diese bedeutungsschwer guckenden Politiker, die immerfort von Bürokratieabbau schwafeln und dann ganze neue Abteilungen schaffen, die den Bürokratieabbau bürokratisch abarbeiten. Ergebnis: Es gibt noch mehr Bürokratie.
Und dann wundert man sich, wie die Menschen an simplen Logiken festhalten, die in der Wirklichkeit einfach nicht funktionieren. Was jeder weiß, der Kafkas Erzählungen und Fragment-Romane gelesen hat, die sein Freund Max Brod zum Glück nicht verbrannt hat, sondern in zwei zerschlissenen Koffern nach Palästina mitgenommen hat.
Noch so ein Bruch der Logik, mit dem Kafka ganz bestimmt gerechnet hat. Und natürlich hat Krimstein recht: Kafka und Einstein passen zusammen. Das waren in diesem Jahr in Prag die beiden Geister, die sich am nächsten waren. Auch wenn Einstein wohl wirklich die meiste Zeit damit zu kämpfen hatte, seine Theorie endlich richtig hinzukriegen.
Und dann wieder wegzukommen aus Prag, denn die Karls-Universität war eben doch nicht nur ein bisschen altbacken, sondern auch ein Exempel ausufernder und nicht zu beseitigender Bürokratie. Die ein Einstein einfach nicht vertragen konnte.
Denn Bürokratie verhindert Veränderung. Auch deshalb wird sie von all jenen, die immerfort Bürokratieabbau fordern, immer weiter gehätschelt und gepampert. Man könnte ja sonst die Kontrolle verlieren über die Welt, die Menschen und das, was passieren könnte. Und dann? Landet man dann in einer Einstein-Welt? Nicht auszudenken!
Ein besonderes Jahr
Obwohl wir alle in einer Einstein-Welt leben, an der Krimstein mit dieser Graphic Novel ganz offensichtlich jede Menge Spaß hat. Auch wenn er im Anhang dann verrät, welche Berge von Literatur er erst einmal verschlungen hat, bevor er sich daran wagte, dieses besondere Jahr 1911 im Leben von Kafka und Einstein zu zeichnen.
Einstein reist ab, zurück Richtung Zürich, als er die Sache mit der Gravitation endlich hinbekommen hat. Und Kafka? Vielleicht saß er genau in diesen Nächten stets in seiner Kammer und feilte an der Erzählung „Das Urteil“, mit der er 1912 in die Welt der Literatur eintreten würde.
Es ist eine faszinierende Geschichte. Aber das meiste, was Krimstein hier in Szene gesetzt hat, ist belegt und tatsächlich passiert. Und wo Wikipedia so lax einfach drüber weggeht, erweist sich das Prager Jahr für Einstein als das Entscheidende bei der Entwicklung der Relativitätstheorie.
Fast möchte man die Geschichte weiterspinnen. Was wäre passiert, hätten die beiden noch mehr miteinander anfangen können? Nicht auszudenken. Aber manchmal ist auch die Abfahrt eines Zuges das richtige Ende für eine Geschichte. Das ist dann der 25. Juli 1912. Zwischenzeitlich wurde die Mona Lisa aus dem Louvre geklaut, die „Titanic“ ist untergegangen und Roald Amundsen hat den Südpol erreicht.
Thomas Edison hat Prag besucht, aber augenscheinlich nicht mal geahnt, dass gleichzeitig Kafka und Einstein in der Stadt waren. Sie waren ja noch nicht berühmt. Wie das oft so ist in den spannendsten Geschichten: Wenn die Leute erst mal berühmt sind, ist der eigentlich spannende Moment schon geschehen. In einer besonderen Stadt zu einer besonderen Zeit.
Es ist eine Graphic Novel, die zwei Welten kollidieren lässt, die tatsächlich zusammengehören. Und die eigentlich unser modernes Denken befeuern könnten, würden die meisten Leute nicht immer noch bei Euklid und Aristoteles herumhängen und die Panik kriegen, wenn Gleichungen mehr als eine Unbekannte aufweisen.
Ken Krimstein Einstein in Kafkaland Kjona Verlag, München 2025, 25 Euro.
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