Alles fließt. Alles ist permanent in Bewegung. Städte kennen keine Ruhe. Und die Natur auch nicht. Wer einmal innehält und die Dinge um sich herum einfach geschehen lässt, merkt, wie es immerfort rinnt, rieselt, quillt und eilt, krabbelt und fährt. Da kann einem schon einmal so werden wie beim Betrachten von Godfrey Reggios Film „Koyaanisqatsi“. Unsere Welt ist tatsächlich so. Und wir selbst sind Teil dieses unermüdlichen Hin und Her. Und auf einmal steht ein Leipziger Dichter am Straßenrand und beschreibt das mit Worten. Der Bursche heißt Olav Amende.
Aber kann man das überhaupt? Können Wörter dasselbe beschreiben, was Filmbilder zeigen? Natürlich. Auch wenn das selbst vielen Autoren und Autorinnen nicht einmal bewusst ist. Leser wissen das. Einige Autoren können es einfach, weil sie gelernt haben, die Dinge so zu zeigen, wie sie sind. Nüchtern. Intensiv. Konzentriert auf das, was zu sehen ist. Nicht mehr. Und nicht weniger. In guten Büchern entfaltet sich so ein Panorama.
Jeder kennt die Bücher, die einem solche Bilder geschenkt haben. Die einem etwas gezeigt haben, was wir alle jeden Tag sehen. Aber wir sehen nicht mehr hin, betrachten die Welt durch Brille und Raster. In Gedanken bei den Geschäftigkeiten unseres Tages. Sodass die Wimmelbilder der Welt vielleicht noch ganz am Rand unsere Aufmerksamkeit erreichen. Oder gar nicht mehr, wenn wir selbst unterwegs nur noch auf die winzigen Bildschirme unserer Telefone starren. Als wenn da mit bunten Bildern die Welt passieren würde.
Was für ein Quatsch.
Die Welt passiert hier. Dazu muss man nicht einmal über Wolken fliegen oder in exotische Länder reisen. Dasselbe passiert direkt vor unserer Nase. Und wer es ausprobieren möchte, kann mit Olav Amende eintauchen in dieses Leipzig, wie es jetzt gerade ist. Eine Momentaufnahme natürlich. Auch diese Stadt verändert sich. Vor unseren Augen.
Wir selbst sorgen dafür, dass sie sich verändert. Gestalt gewinnt oder Gestalt verliert. Denn unser menschliches Mühen und Eilen hat immer auch einen Gegenspieler: die ganz gewöhnliche Erosion. Alles geht kaputt. Mit Sicherheit, früher oder später.
Kneipen schließen zum letzten Mal, Insekten sterben aus, Fichten verlieren ihren Kampf gegen den Borkenkäfer. Und die Leipziger zieht es des Abends auf die Sachsenbrücke, wo eifrige Maler lauter farbige Rechtecke aufs Pflaster gemalt haben. In immer dunkleren und röteren Farben. Man erkennt die „Warming Stripes“, ohne dass Amende sie benennen muss.
Panta rhei
Denn seine Welt ist nicht statisch. Alles fließt. In Autos, Lkw, mit Fahrrädern, Straßenbahnen eilen die Menschen durch die Stadt. Irgendwohin. Immer in Eile. Darin unterscheidet sich Leipzig in nichts von den anderen großen Städten der Welt. Nur dass die einen lässiger unterwegs sind. Und die anderen immer im Stress.
Drücken sich im letzten Moment noch durch die schließende Tür der Straßenbahn, versuchen sie aufzuhalten, dreschen mit der Faust gegen das Glas. Auch das passiert: Eine Stadt gerät aus ihrer Gemütsruhe, wird eiliger, stressiger, wütender. Als wären wir alle getrieben, immer schneller und sofort irgendwo hinzukommen.
Während alles zerbröselt unter unseren Füßen. Erst unmerklich. Während die Eile selbst in die Parks eingezogen ist, mit Rennrädern, Lastenrädern. Mountainbikes, „joggenden Vätern mit ihren Buggys“.
Als müssten wir selbst noch in unserer Freizeit Ziele erreichen und Punkte sammeln. Manchmal von Regen und Hagel erwischt. Manchmal der letzte Gast in der Kneipe, der am Spielautomaten hängt und seine letzten Münzen verdaddelt. Als käme irgendwann noch der große Gewinn.
Die Bilder verflechten sich. Alles geschieht gleichzeitig und es geschieht ja alles gleichzeitig. Das Leben im Erdboden, in den Teichen, den Wäldern. Werden und Vergehen. Das Leben einer Blume auf dem Fensterbrett. Das Schieben und Drängeln auf den Straßen. Man hat sofort die Bilder vor Augen.
Und natürlich eignet sich die deutsche Sprache genau dafür besonders: Die Dinge in ihrem Fluss zu schildern, das fortwährende Wachsen, Verfallen, die Geschäftigkeit in den Supermärkten mit sich leerenden und füllenden Regalfächern, ein Treiben, das unvermutet in das geschäftige Dasein der Stare, Honigbienen, Mohnbienen, Mörtelbienen wechselt … und das stille Treiben des Entomologen, der schon mal vorsichtig mit Bleistift eine seltene Fliegenart aus der Liste streicht, weil er sie bei all seinem Suchen nicht mehr gefunden hat.
Der Dichter am Straßenrand
Und gleichzeitig frisst sich eine Baggerschaufel in Schotter, Torf, Tuff, Schutt „und der mähroboter er / zerhäckselt er zerstückelt er zerschnipselt die / und das geschiebe …“
Die Brüche im Text sind Absicht. Denn auch so sehen wir ja die Welt, abgelenkt, unaufmerksam, vom nächsten auffälligen Treiben angezogen oder von Vorstellungen, inneren Bildern, die sich aufbauen, wenn wir den Bagger wühlen sehen und ganze Geschiebe schon driften sehen, den Hang hinab, unaufhaltsam.
Während sich gleich wieder die eiligen Renn-, City- und Motorräder in die Aufmerksamkeit schieben. Unser immerfort hastigen Treiben. Als hielten wir es nicht aus, einfach mal innezuhalten, zur Ruhe zu kommen und die Welt um uns herum wahrzunehmen.
Wie dieser Dichter am Straßenrand, der alles registriert. Oder auch nur dran denkt, weil eine Assoziation zur nächsten überleitet. Und eines unübersehbar ist: Dass nicht einfach nichts geschieht. Seien es Kinder, die einen Böller in die Tonne schmeißen, Leute, die ihren Müll in der Gegend verteilen, überlaufende Müllcontainer, Porzellanblumen … „bis sich / ein riss / bildet / es knackt / es zieht und / noch ein riss und …“
Doch es ist hier nur die Blume, die das Material zum Ächzen bringt. Ein Vorgang unter Millionen, die alle gerade geschehen. Manche ganz langsam, aber beharrlich. Ein Dichter kann das Tempo selbst bestimmen. Er weiß ja, was passiert. Und welches Tempo gilt schon? Etwa für den Obstgarten, in dem die Früchte regelrecht explodieren. „dampfend und zischend / landen sie im / brennenden Gras“.
Denn nicht nur im Fichtenwald zeigen sich die Folgen des Klimawandels. Nicht ohne Grund tauchen die Felder der „Warming Stripes“ im Text auf, auch wenn sie am Ende kaum mehr zu sehen sind, weil das Partyvolk alle Farben besetzt hat, das Leben feiert, als wäre das große Gefüge nicht längst aus dem Lot.
Wenn die Worte erodieren
Und am Ende gerät es aus dem Lot, macht Amende auch mit der Erodierung der Worte deutlich, wie das Gewebe der Welt aus den Fugen geht, verschleißt, zerreißt. Während die gedankenlosen Menschen über ihre kleinen Bildschirme wischen, die Automaten ticken. Wischen und Tippen. Bis in den Buchstabensalat, in das nicht mehr Formulierbare einer Abwesenheit, die verlernt hat, sich um die Welt zu kümmern und ihre Vergänglichkeit noch wahrzunehmen.
Erosion also im mehrdeutigen Sinn. Bis in den erodierenden Text hinein, der freilich sein Tempo nicht verliert bis zuletzt. Gensauso wie in „Koyaanisqatsi“. Die automatenhafte Musik von Phil Glas gibt das Tempo vor, lässt die Bilder in einem Höllentempo an uns vorüberrauschen.
Und irgendwie schafft es auch Amende, so eine Musik zu erzeugen, während er die natürlichen Vorgänge mit den teilweise sinnlosen Tätigkeiten der Menschen verflechtet – etwa den seitenweise Stechschritt übenden Soldaten in der Kaserne, während der Stechschritt sich mit Sägelärm vermischt, dem Rattern von Häckslern, den Fällarbeiten der Waldarbeiter, die den sterbenden Fichtenwald abholzen. Stamm um Stamm rot markiert.
Es ist nicht wirklich nur ein einziges Gedicht. Sondern eine ganze Reihe von Gedichten, die das tägliche Treiben auf diesem Fleckchen Erde in atemlosen Versen einfangen, kurz sichtbar machen, bis die drängende Vielzahl der Geschehnisse wieder andere Bilder nach oben drückt.
Den Lärm von Martinshörnern, die Sprengung eines Schornsteins. Leipziger werden die Entstehung des Gedichtes recht genau datieren können. Einige Ereignisse sind zu markant. Aber sie alle erzählen von einer Stadt, die genauso scheinbar planlos und gedankenlos vor sich hin eilt und lärmt und verfällt wie alle Städte der Menschen. Stellvertretend und auch erhellend, weil so noch niemand die scheinbar so gemütliche Stadt Leipzig in Bildern eingefangen hat.
Die auch für ihre Bewohner so gemütlich nicht ist. Denn wenn man sich einmal herausnimmt aus dem wilden und gehetzten Eilen und Treiben, dann hört man das Knistern der Welt. Dann werden einem die Verluste bewusst, die fortwährend entstehen. Und man ahnt, wie die allgegenwärtige Erosion menschliches Tun über die Zeit wieder in Staub verwandelt. Wogegen es anzukämpfen gilt. Zumindest scheint das der Grund zu sein für diese unerbittliche Getriebenheit, die nie wirklich zur Ruhe kommt.
Bis ein erstes Knarren und Kratzen ankündigt, dass wieder etwas beginnt zu zerfallen, zu zersplittern, zu zerbröseln. Während die Straßenbahnen klingeln, Leute an Bahnhöfen nach Taxis rufen, sich die Türen der Hochbahn öffnen und schließen und all die Abwesenden auf ihre Smartphones starren. Und die Erosion in aller Stille und unermüdlich weitergeht.
Bis der Leser atemlos durch die letzten Seiten stürzt und das dumme Gefühl hat: Ja, so ungefähr fühlt sich das Dasein in dieser Stadt an. Und in anderen Städten wohl auch. Bis irgendwas kaputtgeht, endlich erodiert. Und ausscheidet aus der Mühle des fortwährenden Geschehens.
Olav Amende „erosion“, Parasitenpresse, Köln 2025, 14 Euro
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