Rainer Maria Rilke ist zwar schon 1926 gestorben. Er hat die Machtübernahme des deutschen Faschismus nicht mehr erlebt. Hat sich so gesehen zwar nicht mehr schuldig machen können. Gelebt hat er zuletzt sowieso in der Schweiz. Aber noch im Januar, Februar 1926 hat er drei Briefe an die Mailänderin Aurelia Gallarati Scotti, genannt Lella, geschrieben, in denen er Mussolini als Heilmittel für Italien pries. Und seine Briefpartnerin damit deutlich vor den Kopf stieß. Was die Frage aufwirft: Wie kam Rilke eigentlich dazu? Und: War das ein Ausrutscher?

War es nicht, kann der Germanist Hans-Peter Kunisch am Ende feststellen, nachdem er nicht nur den Briefwechsel von Rilke und Lella unter die Lupe genommen hat. Der ist bis jetzt nur auf Französisch und Italienisch erschienen.

Rilkes deutscher Stammverlag hat es bislang vermieden, den Briefwechsel mit in seine Rilke-Reihe aufzunehmen. Und auch da wollte Kunisch natürlich wissen, warum das so ist. Wollten seine Herausgeber vermeiden, dass das Bild vom weltabgewandten Dichter Kratzer bekommen könnte?

Kunisch will Rilke durchaus Gerechtigkeit widerfahren lassen. Immerhin wusste man 1926 zumindest in Deutschland noch nicht, was es bedeutet, wenn die Faschisten an die Macht kommen. In Italien wusste man es sehr wohl.

Und Aurelia Gallarati Scotti hatte es selbst in ihrem Freundeskreis erlebt, mit welcher Brutalität die Faschisten daran gingen, ihre Gegner und Kritiker zu bekämpfen. Bevor die deutschen Antifaschisten in Paris strandeten, nachdem sie aus Deutschland flüchten mussten, waren es die italienischen. Und Rilke konnte nicht wirklich behaupten, er hätte es nicht gewusst.

Auf die durchaus deutliche Kritik von Lella ging er offensichtlich nicht ein. Und füllte trotzdem ganze Briefseiten mit einem Lob der Methoden des italienischen Nationalismus, Passagen, die an Deutlichkeit nichts zu – na ja – wünschen übrig lassen. Etwa diese: „Ich denke, dass jedes Volk Momente von schroffem Nationalismus durchleben und haben muss, um sich ein Nationalbewusstsein zu schaffen, oder einfach, um sich selbst kennenzulernen.“ Ein Satz, der sich nach den Erfahrungen mit dem Hitlerreich gänzlich anders liest: Wir wissen, was das anrichtet. Aber wusste es Rilke? Und warum ging er nicht auf die Argumente von Lella ein?

Zurück in glorreiche Zeiten …

Das wird eine ganze Ecke klarer, wenn Kunisch sich eingehender mit Rilkes Werk beschäftigt. Er ist nun einmal Germanist. Er weiß, dass es keine weltentfernten Dichter gibt. Dass sich ihr Denken auch in ihren Arbeiten spiegelt, auch in scheinbar dichten, kaum entschlüsselbar, geheimnisvoll klingenden Gedichten, von denen Rilke ja hunderte geschrieben hat.

Denn ein Denken, das sich an rücksichtslosen Führergestalten wie dem Duce berauscht, kommt nicht von ungefähr. Und wer die deutschsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts kennt, weiß, dass es dort überall brodelte.

In allen Facetten, die später den Faschismus ausmachten – vom rabiaten Antisemitismus bis zum blutigen und aufgeblasenen Nationalismus, gepaart mit einer Glorifizierung einer Vergangenheit, die man so idyllisch und märchenhaft ausmalte, dass das bis heute in vielen Köpfen so weiterglüht.

Und genau das findet man auch bei Rilke. Wer viele seine Gedichte genauer liest – gerade die scheinbar mystisch klingenden Stellen vom „Stundenbuch“ bis zu den „Duineser Elegien“ – der findet nicht nur Rilkes Sehnsucht nach einer heileren, innigeren Zeit, die Kunisch sogar zeitlich eingrenzen kann.

Was nicht überrascht. Denn die dichterisch nachempfundene Zeit, die Rilke immer wieder beschwört, ist die Zeit vor der Industrialisierung. Mehrfach findet man in seinem Werk die Absage an das Maschinenzeitalter, das für ihn bar jeder Poesie und jeden Glanzes ist.

Nicht zu vergessen – Kunisch merkt es natürlich an: Rilke war ja nie Deutscher, nur ein deutschsprachiger Dichter aus Prag, damit geborener Bürger der Habsburger Monarchie und später auch mit der Staatsbürgerschaft des jungen tschechoslowakischen Staates ausgestattet.

Doch weder dort noch im preußischen Berlin sah er seine dichterische Heimat, sondern eher in Ländern wie Frankreich, Italien und dem von ihm geradezu glorifizierten Russland mit seiner scheinbar besonderen Seele (die heute ja von einigen Leuten wieder mal beschworen wird) und seiner besonderen Glaubens-Innigkeit.

Bei Rilke kommt ja so ein „tiefer Glanz von innen“, über den sich Generationen von Lesern den Kopf zerbrochen haben, ohne ihn zu enträtseln.

Die Liebe des Dichters zur Gewalt

Weil es da eigentlich nichts zu enträtseln gibt. Es ist die mit genialer Sprachbeherrschung auf die Spitze getriebene Innigkeit der Zeit, die Glanz und Zauber nicht mehr in der – von Maschinen zerstörten – Außenwelt sieht, sondern im romantisierten Innen.

Mit der Romantisierung der Vergangenheit beginnt nun einmal auch die Glorifizierung des modernen Nationalismus. Oder einmal Kunisch zitiert: „Rilkes private Stellungnahme für den Faschismus an der Macht ist keine Laune. Sie hat sich schon viel früher vorbereitet. So wie sein Abschied von Deutschland. So wie sein zuletzt schwieriges, verkrampftes Verhältnis zum Judentum.

Aber auch seine Affinität für Gewaltlösungen, seine Begeisterung für Massenerhebungen des ‚Herzens‘.“ Nachlesbar sowohl in den „Fünf Gesängen“ von 1914 als auch in „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“.

Wobei Kunisch auch an etwas erinnert, was heute fast vergessen ist: Dass auch Rilke in die Kriegsbegeisterung vor dem Ersten Weltkrieg einstimmte, genauso laut und heftig wie z. B. Thomas Mann. Nur im Krieg selbst wandelte er sich (zeitweilig) zum Pazifisten, zeigte später Sympathien für die Münchner Räterepublik. Und ließ doch schon wieder wenig später nationalistische Töne hören oder lesen.

Nietzsches Gedanken geistern die ganze Zeit durch sein Werk. Und da ist man schon mittendrin in dieser ruppigen Unsicherheit auch der deutschen Intellektuellen, wie sie sich eigentlich in einer völlig unromantisch gewordenen Welt mit ihren modernen Nationalstaatsideen platzieren sollten.

Ein Blick in die deutsche Literatur und Kunst dieser Zeit zeigt: Sie flüchteten sich fast alle in eine idyllisch aufgeplusterte Vergangenheit, während die neuen Reichen sich überall romantische Schlösser bauten und ein Mittelalter installierten, das so in Deutschland nie existiert hatte.

Und es ist nun einmal so: Wenn man Rilkes Gedichte und Erzählungen liest, landet man genau in dieser Phantasiewelt – samt der artikulierten Sehnsucht noch neuer Heldenhaftigkeit, die auch durch Nietzsches Aphorismen geistert.

„Nietzsche ist keineswegs nur ein untief verborgener Hinweis auf die Herkunft von Rilkes geschichtsphilosophisch-politischem Denken, das ihn in die Nähe autoritärer, demokratiefeindlicher Regime rückt“, schreibt Kunisch. Auch Mussolini teilte diese Nietzsche-Begeisterung. Und eine „Weltanschauung, die auf Sichtbarkeiten Wert legt“.

Die glorreiche Inszenierung von Macht

Das ist ein ganz zentrales Element der faschistischen Inszenierung von Macht. Auch deshalb konnten so viele vom Nationalismus berauschte „Dichter und Denker“ mit der Demokratie und ihren oft genug zähen Aushandlungsprozessen nichts anfangen. Ihnen fehlte der Pomp, der Glanz, das wirkmächtige Ritual, mit dem Faschisten (und ihre Moskauer Brüder im Geiste) ihre Macht immer zelebriert haben.

Mit Kunischs Worten: „Rilke wie Mussolini kritisieren den Verlust von Heiligen und Helden, die der schäbigen Gegenwart gegenübergestellt werden können, klagen entschwundene Zeiten der Größe ein.“

Treffender kann man es kaum sagen. Es durchzieht Rilkes ganzes Werk, selbst an Stellen, an denen man es nicht vermutet. Und oft sind es gerade die kryptischen Stellen, die genau diese Sehnsucht nach einer vergangenen alten Zeit, in der alles besser, inniger und lebendiger war, umraunen.

Und er war damit nicht allein. Auch und gerade weil er trotzdem Teil einer modernen Strömung in der deutschen Literatur war, die gerade in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch den Mystizismus zelebrierte. Man denke nur an den Kreis um Stefan George.

Die Liebäugelei mit dem Faschismus (an einer Stelle benutzt Kunisch sogar das deutliche Wort vom Salonfaschisten) baute direkt auf dieser Mystifizierung der Welt auf. Und bediente auch immer eine Sehnsucht der Menschen nach Inszenierung, großem Theater, dem „großen Glanz“ auf der Bühne. Und so steckt auch die Literatur voller Theorien über eine grandiosere Welt.

Und gerade die „Mailänder Briefe“ zeigen, dass Rilke das durchaus ernst meinte. „Dabei zeugt die innere Kohärenz aller in den Briefen an Lella geäußerten Gedanken – vom anfänglich nur so dahingeworfenen, saloppen Mussolini-Lob bis in die Untiefen der politisch-geschichtsphilosophischen Argumentation in den zwei folgenden Briefen – es auch hier an: Seine politischen Ideen mögen Rilke nicht wirklich unwichtig sein – es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass er von ihnen nicht überzeugt ist.“

Rilkes Verachtung für Abstraktionen

Man gewinnt so nach und nach das Bild eines Dichters, der im privaten Gespräch und in Briefen sehr wohl ein sehr von Nietzsche inspiriertes Weltbild vertrat und die Vorstellung herausgehobener Führer ganz im Sinne imaginierter mittelalterlicher Fürsten für eine reale Lösung der Machtfrage in einer scheinbar chaotischen, glanzlosen und von Maschinen dominierten Welt sah.

Was wiederum gar nicht verblüfft, weil heute wieder jede Menge von Sonnenanbetern herumlaufen, die sich nach derlei gewalttätiger Führung sehnen. Mit derselben Verachtung für das, was auch Rilke in einem Brief an Lella benennt: „Vergessen Sie nicht, meine liebe Gräfin, dass unser armes Europa beinahe zusammengebrochen wäre, weil es sich von nichts als Abstraktionen ernährt hat. Eine solche ist nämlich das ‚Internationale‘ und eine weitere die ‚Humanität‘.“

Kunisch vermutet wohl zu Recht, dass die Adressatin nach solchen Briefen wochenlang lieber nicht antwortete, weil ihr das viel zu starker Tobak war und sie diesem zartbesaiteten Dichter nicht wirklich die Antwort schreiben wollte, die er nach so einem verbalisierten Blödsinn verdient hätte.

Es folgte sogar eine Einladung des Dichters nach Mailand, wahrscheinlich, um dann im direkten Gespräch diesen Knoten zu lösen. Doch dazu kam es nicht mehr. So dass wir nicht wissen, ob dieser Rilke sich dann von den italienischen Tatsachen doch noch hätte überzeugen lassen.

Dass Europa nicht an den von Rilke behaupteten Abstraktionen beinah zugrunde gegangen wäre, hätte auch Rilke selbst wissen können. Er hat ja eifrig mitgetutet, als es um die Kriegsbegeisterung der Deutschen und Österreicher ging. Aber natürlich drängt sich da die Frage auf: Sahen die Zeitgenossen nicht, dass es der entfesselte Nationalismus war, der die Staaten Europas damals in den Krieg führte?

Oder waren einfach die romantischen Bilder einer verklärten „guten, alten Zeit“ stärker, so, wie das auch heute wieder zu sein scheint. Sehnsucht in eine als heroisch ausgemalte Vergangenheit, mit der man vermeidet, sich mit den tatsächlichen Problemen der Gegenwart herumzuschlagen? Auch das gehört in dieses Denken: Faschismus als Weltflucht.

Als glorreich ausgemalte „Alternative“ im Salon, wo man sich höflich und einnehmend darüber austauscht, wie herrlich das wäre, gäbe es nur wieder eiserne Haudegen wie früher, die die großen Gedanken der Denker und Dichter blutige Wirklichkeit werden lassen.

Im Plauderton

Das ist eine Sehnsucht, die man auch in Rilkes Gedichten findet. Und wahrscheinlich ist es genau jetzt an der Zeit, diese ganz und gar nicht freundliche Seite des Dichters sichtbar zu machen.

So, wie es Hans-Peter Kunisch hier tut – bis in berühmte Gedicht-Zyklen des Mannes hinein, der in seinem Turm in Muzot eigentlich weitab vom Geschehen lebte und geradezu dreist argumentierte, als er der in Mailand lebenden Briefpartnerin erklärte, wie schroff und rücksichtslos der Nationalismus agieren müsse. Da kommen Gewaltphantasien durch, die man dem eigentlich zarten Dichter Rilke gar nicht zutraut.

Vielleicht hat sich Aurelia Gallarati Scotti auch deshalb lieber zurückgehalten. Erstaunlich zurückgehalten. Auch wenn ihr „Nein“ zu Rilkes Ansichten deutlich formuliert war. Er hätte das eigentlich nicht überlesen können. Aber er tat dann so, als spiele das keine Rolle, packte seine radikalen Ansichten in freundliches Geplänkel und tat dann so, als wäre gar nichts passiert.

Als hätte er eben nur ein bisschen darüber theoretisiert, wie ein Staat nach seiner Vorstellung funktionieren solle. Eingerahmt in unverfängliche Konversation, als wäre das wirklich alles nur Geplauder.

Doch dass es Rilke ernst gemeint hat damit und dass dieses Denken wesentlicher Teil seiner Dichtung ist, das zeigt Kunisch recht genau. Man liest dann viele von Rilkes bekannten und als unentschlüsselbar gedachten Dichtungen mit anderen Augen. Mit einem Blick dafür, dass dahinter immer ein ganzes Weltbild steht, in dem es nicht nur innig und romantisch zugeht.

Hans-Peter Kunisch Das Flimmern der Raubtierfelle

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