Es gibt Bücher, die müssen unbedingt übersetzt werden, auch wenn sich kein großer Verlag dafür erwärmt, weil es irgendwie nicht ins Programm passt oder zu ernst ist, zu aufwühlend. 2021 erschien Gwen Strauss’ Buch „The Nine“, die Geschichte von neun Zwangsarbeiterinnen aus Frankreich, den Niederlanden und Spanien, die bei der HASAG in Leipzig unter erbärmlichen Bedingungen arbeiten mussten und im April 1945 mit hunderten Leidensgenossinnen auf einen Todesmarsch geschickt wurden. Sie überlebten, weil sie zusammenhielten.

Und auch, weil sie eines verband: ihr Widerstand gegen die Deutschen. Denn die kamen direkt aus den Widerstandsgruppen, waren Teil jener weiblichen Seele der Résistance, die gerade da weiterkämpfte, wo nach dem Überfall der Wehrmacht auf Frankreich auf einmal die Männer fehlten. Und trotzdem erzählt Strauss eine Geschichte, die in unserem Gedächtnis fast nicht vorkommt und auch in Frankreich jahrzehntelang nicht präsent war, weil man Widerstand immer wieder nur mit Männern assoziierte.

Die Männer bekamen Orden und Ruhm. Die Frauen verschwanden geradezu aus dem Blick, auch weil die Zurückkehrenden auf ein Land trafen, das mit seinen eigenen Schuldkomplexen zu kämpfen hatte. Denn auch in Frankreich konnten Wehrmacht und SS nur deshalb ihre Macht ausüben, weil viele Franzosen mit ihnen kollaborierten, teilweise sogar zu direkten Handlangern bei der Jagd auf Widerstandsgruppen wurden und in den Gefängnissen Folter und Tyrannei unterstützten.

Während Frauen nach dem Krieg oft genug mit den falschen Vorwürfen leben mussten, sie seien ja wohl nicht ohne Grund von den Deutschen verhaftet worden. Das lange Schweigen nach dem Krieg hat also Gründe. Dazu kam das tief sitzende Trauma dessen, was diese Frauen bei Verhaftung, Folter und Verschickung in die Lager der Nazis erlebt haben. Ein Trauma, das erst viele Jahre nach dem Krieg überhaupt erst begriffen wurde und auch die Kinder und Enkel noch prägte.

Mit Hélène fing alles an

Dass Gwen Strauss die Geschichte überhaupt zu recherchieren begann, hat mit ihrer Großtante Hélène Podliasky zu tun, die zu der Gruppe der Neun gehörte, im Alter von 24 Jahren während ihrer Arbeit für die Résistance verhaftet wurde und für die neun Frauen so etwas wie die Anführerin wurde. Mt ihr konnte Gwen Strauss noch lange Gespräche führen, die in dieses Buch eingeflossen sind.

Gespräche, die der hochbetagten Frau ganz offensichtlich auch guttaten. Denn das jahrelange Schweigen war oft auch Selbstschutz. Selbstschutz auch in eine Gesellschaft, die diese Geschichten nicht hören wollte, die das tatsächliche Grauen nie wirklich wahrhaben wollte. Aber die Gespräche mit ihrer Großtante waren für Gwen Strauss erst der Anfang, denn als sie vom Schicksal der neun Frauen erfuhr, begann sie nachzuforschen, suchte nach den anderen acht Frauen, von denen sie meist nur die Decknamen kannte.

Ihre Suche nach den Frauen und ihren Erinnerungen hat sie eingeflochten in diese dokumentarische Erzählung, in der sie versucht, gerade die Flucht der Neun vom Todesmarsch über die Mulde bis zu den Amerikanern in Colditz zu schildern.

Geholfen hat ihr dabei, dass auch einige der anderen Frauen ihre Erinnerungen aufgeschrieben und veröffentlicht haben, die beiden Holländerinnen auch Thema eines Dokumentarfilms waren. So entstanden nach und nach die Verknüpfungen, konnte Strauss den Frauen ihr Namen und ihre Lebensgeschichte zuordnen. Und die Erinnerungen boten den Stoff für die lebendigen Schilderungen dessen, was die Frauen in Ravensbrück, im Zwangsarbeitslager der HASAG und auf dem Todesmarsch erlebten.

Flucht durch Feindesland

Es ist eine intensive Geschichte vom Stolz, sich vom mörderischen System der Nazis nicht unterkriegen zu lassen, nicht aufzugeben trotz Hunger und Krankheiten. Und dann auf dem Todesmarsch die Chance für die Flucht zu ergreifen, diese unwiederbringliche Gelegenheit, das eigene Überleben zu sichern mitten im Feindesland, nicht wissend, wie die Deutschen entlang ihrer Fluchtroute reagieren würden.

Denn es war ja nicht ausgemacht, dass die Menschen, denen sie begegneten, mit ihnen nicht genauso umspringen würden wie die SS, sie einfach töten würden oder zurückschicken ins Lager. Doch ihre Fluchtgeschichte ist auch eine Geschichte von jenem Deutschland am Ende des Krieges, als auch die hartgesottenen Mitläufer der Nazis begriffen, dass dieser Krieg verloren war.

Aber nicht nur den Mitläufern des scheiternden Regimes begegneten die Neun, sondern auch den Deutschen, die innerhalb dieses Systems versuchten, sich ihre Menschlichkeit und ihr Mitgefühl zu bewahren.

Indem Gwen Strauss jede der neun Frauen mit ihrem biografischen Hintergrund wieder lebendig werden lässt und ihre Rolle innerhalb der Gruppe schildert, in der all ihre verschiedene Talente und Begabungen gebraucht wurden, wird ihr Buch zu einer Erzählung echter menschlicher Solidarität, vom Einstehen füreinander trotz blutender Füße und zerschlissener Kleidung und dem unbedingten Willen, so kurz vor der Rettung nicht aufzugeben.

Denn tatsächlich waren sie alle schon nach dem Stück Todesmarsch von Leipzig bis Oschatz ausgemergelt, ausgehungert, seit Tagen ohne Verpflegung, vorangetrieben von ihren Wärtern, die nicht zögerten, jede Frau zu erschießen, die aus der Kolonne ausscherte.

Ungewisse Heimkehr

In so einer Situation die Kraft und den Mut zu finden, es trotzdem zu versuchen, erzählt von einem unbändigen Stolz und Überlebenswillen, die diese neun Frauen zusammenschweißten und gemeinsam durchhalten ließen, bis sie bei Colditz tatsächlich auf die Amerikaner trafen und ihre Rückkehr nach Frankreich und in die Niederlande realisieren zu konnten.

Eine Stelle, an der Gwen Strauss nicht aufhört zu erzählen, denn auch die Rückkehr war nicht einfach – die Frauen hatten ihre Krankheiten und Entbehrungen aus dem HASAG-Lager und vom Todesmarsch mitgebracht. Und sie kehrten in ein Land zurück, das schon im Vorjahr befreit worden war und wo man nicht wirklich wusste, wie man mit den Rückkehrern aus den Lagern der Nazis umgehen sollte.

Und dazu kamen die ganz persönlichen, manchmal scheiternden Versuche, an die Vorkriegsträume von Liebe und Familie anzuknüpfen. Auch das schildert Gwen Strauss ausführlich. Und sie hat damit ein Buch geschrieben, das im Grunde in lebendige Bilder übersetzt, was sonst nur in trockenen Akten verzeichnet ist, wo die Menschen auf simple Nummern degradiert wurden.

Nummern, die nichts darüber verraten, wie mit den Menschen dann in den Lagern und in der Zwangsarbeit tatsächlich umgegangen wurde. Und genau das lässt Gwen Strauss eben nicht weg, schildert es mit den Emotionen der Frauen, die es erlebten und die jeden Tag damit rechnen mussten, aussortiert und in die Todeslager verschickt zu werden.

Ein Buch, das nicht nur berührt, sondern aufwühlt. Und das eben auch davon erzählt, welchen Preis die Menschen zahlen mussten, die gegen das Nazi-Regime aufbegehrten und in die Mühlen der NS-Lager gerieten, wo alles darauf angelegt war, ihren Willen zum Leben zu brechen.

14 junge Übersetzer/-innen

Und das Erscheinen des Buches hat noch eine weiterte sehr menschliche Seite, denn es waren 14 Jugendliche aus Wurzen, die sich 2023 zusammentaten, um dieses zuerst auf Englisch erschienene Buch gemeinsam mit der Englischübersetzerin Ina Adler ins Deutsche zu übertragen. Und das ist ihnen auf berührende Weise gelungen. Und als sie dann für das übersetzte Buch auch noch einen Verlag suchten, stießen sie im Sax-Verlag auf offene Türen.

Mit der Folge, dass jetzt ein Buch auf Deutsch vorliegt, das die Schicksale von neun jungen Frauen erzählt, die gemeinsam nicht nur die Haftzeit im HASAG-Lager Leipzig überlebten, sondern auch den Todesmarsch und die gemeinsame Flucht bewältigten, weil sie zusammenhielten und vor allem in einem einig waren: Sie wollten das richtige Leben nach dem Krieg erleben, das Leben in einem Frieden, in dem sie wieder liebende, lebendige Frauen sein konnten.

Auch die Tage der Heimkehr erzählt Gwen Strauss und wie sich die Neun schon in den ersten Tagen aus den Augen verloren. Sodass es erst Strauss’ Recherchen waren, die die Lebensfäden der Neun wieder verknüpften, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon fast alle gestorben waren. Was Strauss natürlich die Frage stellen lässt: Hätte man nicht viel früher fragen müssen? Die Überlebenden viel früher zum Sprechen bringen müssen?

Denn was nicht erzählt und aufgeschrieben ist, geht nicht nur verloren. Es ist, als wäre es nie geschehen und all jene deuten dann die Geschichte, die das Leid, das den Deportierten angetan wurde, einfach negieren. Und eben nicht nur das Leid, sondern – wie in diesem Fall – auch die Rolle der jungen Frauen im Widerstand, als es in Frankreich längst an Männern fehlte, die alle diese Aufgaben hätten übernehmen können.

Die Freiheit zum Greifen nah

All das macht Gwen Strauss wieder lebendig. Und man merkt, wie berechtigt ihre Bewunderung für die damals blutjungen Frauen ist, die sich ganz selbstverständlich den diversen Gruppierungen anschlossen, die den Widerstand gegen die deutsche Besatzung organisierten. Und die dann in den letzten Tagen vor der Befreiung Frankreichs noch von der Gestapo verhaftet wurden, weil ihre Gruppen und Netzwerke verraten worden waren.

Die Freiheit war zum Greifen nah, als die Amerikaner an der französischen Küste landeten. Doch für diese Frauen begann erst ihr langes Leiden in den Zwangssystemen des NS. Doch auch deshalb behielten sie ihre tiefe Sehnsucht nach Freiheit und verloren bis zuletzt nicht den Mut, ihr Schicksal bei der ersten Gelegenheit wieder in die eigenen Hände zu nehmen.

Und so wurde es eben auch die Geschichte einer glühenden Sehnsucht nach Freiheit, die in diesen Frauen glühte und sie auch dann nicht aufgeben ließ, als ihre Kraft zu schwinden drohte und die Situation aussichtslos schien. So wurde es auch ein Buch über das Leben und seine unbedingte Kraft. Während man neun faszinierende junge Frauen kennenlernt, die sich ihre Würde auch in den schlimmsten Situationen nicht nehmen ließen.

Gwen Strauss „Sie waren neun“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2025, 24,80 Euro

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