Vor fünf Jahren haben sie sich zusammengetan, um gemeinsam jedes Jahr eine handfeste Publikation zur Leipziger Geschichte vorzulegen: der Leipziger Geschichtsverein, das Stadtarchiv und das Stadtgeschichtliche Museum. Stoff gibt es in einer tausend Jahre alten Stadt wie Leipzig mehr als genug. Oft merkt man erst, dass es etwas zu finden gibt, wenn neugierige Historikerinnen und Historiker sich ein paar alte Akten genauer anschauen oder hartnäckige Fragen stellen.
Zum Beispiel: Woher bekam die Anatomie der Uni Leipzig eigentlich früher ihre Leichen? Und welche Chancen hatte ein Frankfurter Jude, in Leipzig sein gestohlenes Eigentum wiederzuerlangen?
Es sind Fragen, die bis in die Gegenwart hineinleuchten. Denn ganz offensichtlich leben wir in Zeiten, in denen wieder eine Menge Leute der Meinung sind, Recht und Gesetz würden nicht für alle gelten. Und das Entrechten von anderen Menschen sei ganz normal. Mit dem Beitrag „Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand und Leipzig 1614 – 1617“ nimmt Jörg Ludwig die Leser mit in eine Zeit, in der Juden in Deutschland nach wie vor weniger Rechte hatten, in Leipzig auch nicht siedeln durften.
Weshalb ein Ort wie das Ghetto in Frankfurt für sie so wichtig war. Nur dass auch das sie nicht vor Überfällen schützte wie dem vom August 1614, als aufgeputschte Bürger die Judengasse stürmten und plünderten.
Dass Leipzig dabei ins Spiel kam, hat damit zu tun, dass wenig später einige kostbare Kleidungsstücke, die dem Juden Joseph und der jüdischen Witwe Judith gehörten, in Leipzig auftauchten und beschlagnahmt wurden. Beide forderten ihr Eigentum zurück und der Leipziger Rat behandelte den Fall auch irgendwie ganz rechtmäßig. Nur: Die Kleidungsstücke wurden über Jahre nicht zurückgegeben.
Nicht einmal die Interventionen des sächsischen Kurfürsten änderten etwas. Die Akten verraten natürlich nicht alles, auch nicht, warum der Leipziger Rat die Hinweise des Kurfürsten ignorierte. Es mutet zwar an, als würde man hier den seltsamen Gepflogenheiten einer längst vergangenen Justizepoche zuschauen. Aber die Erfahrungen der Gegenwart sagen einem: So seltsam geht es auch heute noch zu. Die Vergangenheit hält uns nur den Spiegel vor.
So ist es auch mit Marcel Korges Beitrag, in dem er erkundet, wo die Anatomie der Uni Leipzig eigentlich vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ihre Leichen herbekam. Von Seiten der Uni gibt es dazu keine vollständigen Belege. Aber die Ratsleichenbücher geben Hinweise. Die Stadtgeschichtsforschung seit der Erarbeitung der vierbändigen großen Stadtgeschichte für das Jahr 2015 hat lauter neue Wege sichtbar werden lassen, auf denen neugierige Historiker ihre Funde machen können. Und die Ratsleichenbücher gehören dazu.
Da und dort verzeichnen sie eben auch, wessen Leiche eben nicht direkt auf den Friedhof gebracht wurde (was auch damals schon nicht billig war), sondern erst einmal in die Anatomie der Universität. Selbst die Professoren, die sich die Leichen bestellten, sind namhaft zu machen. Und natürlich wird der Stand der Verstorbenen deutlich, die da auf dem Seziertisch landeten.
Und da ging es nicht nur um Hingerichtete, die durch ihre Taten ein christliches Begräbnis sowieso verwirkt hatten und deren Körper gleich nach der Hinrichtung in die Anatomie wanderte. Denn die Zahl dieser Leichen hätte den Bedarf der Professoren für Forschungs- und Vorführungszwecke nicht gedeckt.
Und so kamen eben auch dutzende Verstorbene in die Anatomie, die vor ihrem Tod Kostgänger der Stadt waren, also letztlich schon durch ihre Bedürftigkeit eine Art „Gefälligkeit“ erzeugten, indem die Stadt davon ausging, dass sie die jahrelange Fürsorge eben dadurch „bezahlten“, dass ihre Leichen der Anatomie zur Verfügung gestellt wurden.
Sodass es letztlich die meist jung verstorbenen Armen der Stadt waren, die auf dem Seziertisch der Universität landeten.
Forschung im Fluss
Armsein hatte auch in der Frühen Neuzeit seinen Preis. Und die Betroffenen hatten kaum eine Chance, sich zu wehren. Aber wir wissen ja aus gegenwärtigen politischen Diskussionen: Das Denken hinter dieser Praxis ist noch immer da. Es äußert sich nur anders, vorwurfsvoller, verächtlicher. Es sind diese nur zu menschlichen Momente in den „Jahrbüchern für Leipziger Stadtgeschichte“, die vieles, was scheinbar uralter Aktenkram ist, auf einmal sehr aktuell anmuten lassen.
Bei anderen Themen wird deutlich, dass die Forschung auch zu großen Themen immer noch im Fluss ist – so wie in Steffen Helds Beitrag zur Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig bis 1933. Oder in Carmen Laux’ Text zur Verlagsstadt Leipzig im Jahr 1945 und zum ganz konkreten Verhalten von Ernst Reclam, der – anders als andere Leipziger Verlagschefs damals – nicht der Einladung der Amerikaner folgte, ihnen in ihre Besatzungszone zu folgen.
Er wollte in der Buchstadt Leipzig bleiben, auch wenn er noch nicht ahnte, wie schwer es dann die sowjetischen Besatzer machen würden, dass Reclam wieder eine Lizenz bekam und seine Bücher drucken konnte.
Ein Beitrag, der direkt korrespondiert mit Helge-Heinz Heinkers Beitrag zur Reparationsgeschichte Leipzigs nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem der gestandene Wirtschaftsjournalist sogar sehr kritische Töne anschlägt – nicht nur zur Rekrutierungspraxis der Sowjetarmee, die wesentlich dazu beitrug, dass der Osten 1945 noch viel schlechtere Startbedingungen bekam als der Westen.
Es dauerte durchaus eine Weile, bis die verantwortlichen Kommandeure begriffen, dass ihnen eine demontierte Besatzungszone überhaupt nichts nützte, und sie stattdessen begannen, Sowjetische Aktiengenossenschaften zu gründen und wenigstens noch einen holprigen Neustart ermöglichten. Mittendrin immer wieder die so geliebten SED-Genossen, die von Pontius zu Pilatus tingelten, um die schlimmsten Demontagen zu verhindern.
Die Widersprüchlichkeit von Geschichte
Etwas, was auch in Martin Baumerts Beitrag zum Braunkohle-Industriekomplex Böhlen-Espenhain thematisiert wird. Da hatte zwar Leipzig – anders als andere ostdeutsche Großstädte – die Braunkohle direkt vor der Nase, hätte also locker seine Öfen auch in den eiskalten Nachkriegswintern befüllen können. Doch genau das gelang nicht wirklich. Oder eben nur mit Ach und Krach.
Es sind solche Einblicke in längst zurückliegende historische Perioden, die nachfühlbar machen, wie hart und kalt Geschichte auch sein konnte. Und welche Folgen dummes menschliches Handeln haben kann. Was ja heute eine Menge Leute wieder vergessen zu haben scheinen.
Um dieses oft dissonante menschliche Handeln geht es auch in einem Beitrag von Peer Pasternack, der sich einfach mal durch die verfügbare Belletristik gearbeitet hat, in der Autoren wie Christoph Hein die Universität Leipzig nach 1945 zum Thema gemacht haben. Und ganz offensichtlich wurde keine andere ostdeutsche Universität so oft zum Handlungsort eines Romans wie die Leipziger.
Was auch an Professoren wie Hans Mayer und Ernst Bloch liegt, die hier in den 1950er Jahren wirkten und ganze Generationen von Studierenden beeindruckten und prägten. Aber gerade Hein steht ja für eine jahrzehntelange Begleitung „seiner“ Universität – kritisch auch in den Phasen, in denen der Geist des Aufbruchs längst verloren war und sich die Helden seiner Romane in einem wilden Raum zwischen Anpassung, Verweigerung und Verrat verorten lassen mussten.
Die Löcher der Geschichte
So wird nun auch dieser fünfte Band des Jahrbuchs zu einer kleinen Entdeckungsreise in völlig verschiedene Teile der Leipziger Geschichte. Ergänzt noch um einen ganzen Packen von Beiträgen zur Forschungsdiskussion, in dem es unter anderem um das Nachlassverzeichnis des Leipziger Gelehrten Andreas Lanther geht, um den Ring der Katharina von Bora, das Bildnis des Juristen Karl Ferdinand Hommel, zwei neu erworbene Säbel fürs Völkerschlachtmuseum oder die Nutzung des Hauses „Zum Arabischen Coffe Baum“ in der DDR -Zeit.
Da gab es im Haus noch Mieter. Und bekanntlich startete das Schauspiel Leipzig einen großen Aufruf, um vor der Neueröffnung noch Kontakt zu ehemaligen Mietern oder ihren Nachfahren zu finden. Aber wie Torsten Buss feststellen muss, meldete sich auf den Aufruf niemand. Die Geschichte der Wohnungen im Haus „Zum Arabischen Coffe Baum“ bleibt also skizzenhaft. Auch das passiert: Geschichte behält ihre Löcher.
Aber gerade deshalb zeigt das Jahrbuch eben auch, wie kleinteilig und mühsam die Arbeit von Historikern oft ist. Aktenbestände sind lückenhaft, Zeitzeugen fehlen, Dokumente erzählen nur die Hälfte. Und oft genug kommen die Forscher einfach zu spät, weil manche Themen zu ihrer Zeit politisch nicht gewollt waren. Das betrifft selbst jüngere Geschichte – und nicht nur die der DDR.
Denn wie wichtig manche Themen eigentlich sind, erfassen oft erst die Nachgeborenen, die dann sehr hartnäckig fragen müssen: Wie war es denn nun wirklich? Wohl wissend, dass die Jubelmeldungen in den Zeitungen trügen und die eigentlichen Profiteure der Geschichte meist schweigen wie ein Grab.
Und trotzdem werden alle Geschichtsinteressierten wieder beschenkt, lernen dutzende neuer Aspekte der Leipziger Stadtgeschichte kennen. Und bekommen am Ende auch noch Lesetipps, weil manche Forschungen zur Stadtgeschichte irgendwann eben auch zu eigenen Publikationen werden, die dann von den Mitstreitern des Jahrbuchs in der Regel wohlwollend besprochen werden.
Markus Cottin, Uwe John (Hrsg.) „Jahrbuch für Leipziger Stadtgeschichte 5/2025“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2025, 30 Euro.
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