So viel Euphorie packt auch die Universität Leipzig selten in ihre Meldungen. Aber das, was sie am Donnerstag, 7. September, zu vermelden hatte, klingt tatsächlich nach einer kleinen Revolution: „Lehrbücher müssen neu geschrieben werden: Ursprung des Nervensystems entdeckt“. Fehlt nur noch das Wörtchen: „gemeinsam“. Denn es geht um den gemeinsamen Ursprung der Nervensysteme von Insekten und zum Beispiel Säugetieren wie dem Menschen.

Fünf Jahre intensiver Forschungsarbeit haben Leipziger Forscher in diese Forschung investiert, um die Herkunft des menschlichen Nervensystems zu ergründen.

Dahinter steckte eine Jahrzehnte alte Frage, die vor allem dem Neurophysiologen Prof. Dr. Andreas Reichenbach regelrecht Kopfschmerzen bereitete: Wurde unser Nervensystem und das Strickleiternervensystem von Insekten und Spinnen zweimal erfunden? Oder haben beide Systeme einen gemeinsamen Ursprung?

„Durch den Nachweis bestimmter Zellen in beiden Nervensystemen konnten wir belegen, dass es nur einmal erfunden wurde“, beschreibt Prof. Dr. Andreas Reichenbach jetzt das Ergebnis der fünf Jahre Forschung. Die Ergebnisse der Untersuchung haben die Forscher nun im renommierten Journal Proceedings of the Royal Society of London B veröffentlicht.

Die meisten kennen es noch aus dem Biologieunterricht: Fast alle Tiere der Erde lassen sich einer von zwei Gruppen zuordnen. Entweder zählen sie zu den Rückenmarktieren wie Säugetiere oder Fische, auch Deuterostomia genannt. Die verfügen über ein röhrenförmiges Nervensystem mit einem Zentralkanal im Rückenmark. Zu denen gehören auch die Menschen.

Oder sie gehören zur Gruppe der Bauchmarktiere wie Insekten, Schnecken oder Ringelwürmer, den Protostomia. Viele segmentierte Vertreter dieser beiden Gruppen sind durch ein Strickleiternervensystem gekennzeichnet. Beide Nervensysteme unterscheiden sich in ihrem Aufbau, was wiederum vermuten lässt, dass sie sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Was auch jahrzehntelang die dominierende Meinung der Wissenschaftler war.

„Diese Frage treibt die Biologen schon seit vielen Jahrzehnten um. Vor etwa 30 Jahren hatte ich in einem Buch einen Hinweis darauf gefunden, dass bei manchen Würmern ein Teil des Nervensystems dem des Menschen sehr ähnlich sieht“, erzählt Prof. Dr. Andreas Reichenbach, der bis 2015 Professor für Neurophysiologie am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Medizinischen Fakultät war, wie lange ihn diese Frage nun schon beschäftigt hat. Oft fehlt einem einfach das richtige Untersuchungs-Equipment, um eine Frage wirklich ernsthaft anzugehen. Manchmal fehlt einem die richtige Idee, wie man das Rätsel lösen könnte.

Von da an ließ ihn diese Frage jedenfalls nicht mehr los. „Ich wollte nachweisen, dass beide Nervensysteme einen gemeinsamen Ursprung haben. Das wurde möglich, da Kollegen vom Institut für Biologie nicht nur ihre Expertise, sondern auch geeignetes Untersuchungsmaterial und viele gute Ideen eingebracht haben. Zusammen mit Dr. Christoph Bleidorn und Dr. Conrad Helm haben wir verschiedene Tiere beider Gruppen über Jahre hinweg untersucht.“

Gelungen ist der Nachweis dann so: Durch die Einfärbung von Zellen mit Antikörpern gegen spezifische Proteine und die Analyse mit dem Elektronenmikroskop konnte das Wissenschaftler-Team die Zelltypen sichtbar machen, die ein Nervensystem bilden. Zunächst nehmen Sinneszellen die Reize aus der Umwelt auf. Große Ganglienzellen leiten diese Informationen von den Sinneszellen im Körper weiter – etwa an Muskelzellen – um eine Bewegung hervorzurufen. Als „Stützgerüst“ für die Nervenzellen dienen Radialgliazellen.

„Diese Zellen kümmern sich im Prinzip um die beiden Nervenzelltypen. Sie stellen ihre Funktion und Versorgung sicher“, erläutert Prof. Dr. Andreas Reichenbach. Und genau diese Radialgliazellen haben die Leipziger Wissenschaftler nun im Nervensystem sowohl von Rücken- als auch von Bauchmarktieren gefunden.

„Die Zellen sehen zwar bei hochspezialisierten Vertretern beider Gruppen etwas anders aus. Sie haben sich im Laufe der Evolution verändert und angepasst. Aber ursprünglich waren es die gleichen Zellen; das Nervensystem wurde also nur einmal erfunden“, resümiert Reichenbach. Aus einer ursprünglichen Lösung sind also zwei unterschiedliche Arten von Nervensystemen entstanden.

Der Wissenschaftler geht davon aus, dass sich das Nervensystem schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren von Deuterostomia und Protostomia entwickelte. Damit, so betont die Universität, konnten die Forscher ein Jahrzehnte altes und in der Fachwelt kontrovers diskutiertes Problem lösen. Nun könne diese Erkenntnis künftig Einzug in die zoologischen Lehrbücher halten. Und in die Biologie-Bücher natürlich auch. Denn da steht ja auch noch die alte Version.

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