LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 66Jobcenter haben eine Monopolstellung in Deutschland. Und wer sich ihren Anweisungen nicht fügt, muss mit Sanktionen rechnen. Aber ein Drittel aller Bescheide sind falsch – Fehler vom Amt. Zahlreiche Beratungsstellen müssen Leistungsbeziehern bei der „Übersetzung“ der amtlichen Schreiben helfen. Dr. Ulrike Leistner promovierte zu diesem Themenkomplex und kam zu dem Schluss, dass die Jobcenter ihre Sprache vereinfachen und Mitarbeiter besser zu erreichen sein müssen.

Bei Ihrer Forschung hat sie zahlreiche Verständigungsbarrieren zwischen den Arbeitsvermittlern und den Klienten ausgemacht. Ein Gespräch über Missverständnisse, Verwaltungssprache und viele Emotionen.

Frau Dr. Leistner, haben Sie selbst schon schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht oder woher kommt ihr Interesse für dieses Thema?

Das Interesse kam aus einem vorangegangen Forschungsprojekt an der HTWK. Das hieß „Vertrauen im Arbeitsprozess“. In Gruppendiskussionen mit den Leistungsbeziehenden des Sozialamts hieß es immer wieder: „Ich verstehe die ja nicht mal, wie soll ich denen dann vertrauen?“ Dass Verwaltungssprache schwer verständlich ist, wissen wir schon lange. Sprachwissenschaftler forschen dazu seit den 1970er Jahren. Bei meinen Recherchen hierzu habe ich gesehen, dass der Fokus hierbei auf Sprache lag, aber nicht die situativen Bedingungen berücksichtigt worden sind.

Probanden sollten sich Situationen vorstellen: „Stellen Sie sich vor, Sie würden dieses Schreiben kriegen …“ Das ist aber nicht realistisch. Das Jobcenter hat die Besonderheit, dass es bis zur existenziellen Bedrohung sanktionieren kann. Da hat ein schwerverständliches Schreiben eine besondere Relevanz im Gegensatz zu irgendeinem Schreiben: Wenn ich etwas nicht verstehe und ich nicht weiß, wie ich beispielsweise einer Handlungsaufforderung des Jobcenters nachkommen soll, können Leistungskürzungen von 30 bis 100 Prozent drohen.

Es gab schon eine Kampagne zur besseren Verständlichkeit der Jobcenter-Schreiben…

2009 habe ich angefangen, mich ein wenig damit zu beschäftigen. Da hatten die Jobcenter, die als gemeinsame Einrichtungen von Bund und Kommune geführt werden, diese Verständlichkeitskampagne angekündigt. Ihrer Argumentation zufolge lag die hohe Zahl an Widersprüchen daran, dass die Schreiben falsch verstanden würden und man wollte durch die Klarheit der Sprache die Akzeptanz der Jobcenter erhöhen und Vertrauen in deren Entscheidungen aufbauen. Die Verbesserungen wurden intern geregelt ohne Sprachwissenschaftler, Leistungsbezieher oder Erwerbslosen-Berater.

2012/2013 wurden dann allen Jobcentern gemeinsamer Einrichtung – das sind drei Viertel aller Jobcenter – zentral durch die Bundesagentur unter anderem neue Richtlinien, Anträge und Bescheide bereitgestellt. Ich wollte wissen, ob es denn jetzt besser ist und darüber hinaus, ob die Kommunikation dadurch gestört ist, dass der Text nicht verstanden wird oder an anderen Dingen.

Ein Text ist ja nur ein Wahrnehmungsangebot. Der Verstehensprozess findet im Kopf statt. Die entscheidende Frage nach dem Lesen des Schreibens ist: Bin ich auf Grundlage dessen, was ich verstanden habe, damit einverstanden und wenn nicht, habe ich nach dem Lesen genug Handlungswissen, um Gegenmaßnahmen einzuleiten wie beispielsweise den Rechtsbehelf.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen, um dies zu überprüfen?

Als erstes habe ich eine Feldstudie vorgeschaltet: In Erwerbslosenberatungsstellen in Sachsen habe ich reale Beratungsgespräche von deutschen Ratsuchenden zu ihren Jobcenterschreiben mitgeschnitten. Bei den 17 Beratungsgesprächen war ich aber nicht selbst anwesend, um die Situation nicht zu verändern. Dazu habe ich die Schreiben, um die es ging, als Kopie erhalten, um die Gespräche besser nachvollziehen zu können. Diese Gespräche habe ich dann ausgewertet.

Nach welchen Kriterien?

Ich habe versucht, die kommunizierten Verständigungsbarrieren zu lokalisieren. Davon gibt es allerhand. Linguistische, also textbezogene Barrieren oder anthropologische-leserbezogene Faktoren, zum Beispiel weil es den Leistungsbezieher vielleicht nicht interessiert, was das Jobcenter schreibt, fehlende Vorinformationen oder das Bildungsniveau zu niedrig ist – wobei 13 Personen ein mittleres bis hohes Bildungsniveau hatten.

Oder liegt es an Akzeptanzfaktoren, weil die Situation für den Ratsuchenden zu bedrohlich ist, an der Akteursebene, weil der Ratsuchende dem Jobcenter nicht glaubt oder den Inhalt des Schreibens für nicht rechtmäßig hält, gibt es Wahrnehmungsblockaden wie etwa widersprüchliche Aussagen und, und und. Zusätzlich habe ich die Vermittlungsleistung der Berater analysiert: Was steuern sie bei, welche Informationen müssen sie ergänzen, die im Text fehlen.

Wie lang dauerten die Gespräche und gab es immer eine Verständigungsbarriere?

Die Gespräche waren sehr unterschiedlich, von 5 Minuten bis 90 Minuten. Jeder hatte natürlich einen Gesprächsanlass – vom Bescheid überprüfen lassen, über Unterstützung beim Einlegen eines Widerspruchs bis hin, dass Antwortschreiben des Jobcenters nicht verstanden wurden – an dessen Ende nicht immer alle Barrieren ausgeräumt werden konnten.

Die Schreiben waren beispielsweise ungenau formuliert. Die Ratsuchenden wussten nicht, ob „ihr Einkommen“, jetzt ihres war oder das von ihnen und ihrem Partner. Dann boten die berechneten Summen Anlass, noch einmal nachzurechnen. Das war in sehr vielen Gesprächen der Fall. Ein großes Problem war, dass viele Zwischenrechnungen nicht kommuniziert waren und dann konnte nur gemutmaßt werden, warum bestimmte Summen zustande kommen.

Und dann ist es umso schlimmer, wenn Mitarbeiter nicht erreichbar sind. So entsteht Unmut. Für Menschen, die selbstständig sind und aufstockende Leistungen erhalten, werden Durchschnittswerte für das voraussichtliche Einkommen berechnet und dann wird im Nachhinein nachgerechnet. Das kann beispielsweise zu Verschuldung führen. Diese Abhängigkeit macht was mit den Menschen.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie mit Ihrem Diktiergerät allerhand Emotionen eingefangen haben.

Hochgradig viele Emotionen. In den Beratungsstellen wird oft versucht, die negativen Erfahrungen aufzufangen, die Menschen zu beruhigen und Frust einzudampfen. Man versucht die Negativerfahrungen zu versachlichen und es gibt viel emotionalen Zuspruch, der nötig ist, zum Beispiel dass man nicht Schuld ist an der Situation.

Zurück zum methodischen Vorgehen und zu Stufe zwei.

Aus den Ergebnissen der Beratungsgespräche habe ich Thesen für die weitere Arbeit abgleitet. Diese wurden dann von 240 Mitarbeitern von Beratungsstellen deutschlandweit in einem Onlinefragebogen überprüft. Die Frage war, ob sich die Ergebnisse der Feldstudie, mit ihrem kleinen Datensatz, auch verallgemeinern lassen.

Im Abstract Ihrer Promotion heißt es: In der Schriftkommunikation von Jobcentern an deren KundInnen kommt es aufgrund besonders stark wirkender Aspekte von Macht, Abhängigkeit und persönlicher Betroffenheit, die bis zur existenziellen Bedrohung führen kann, zu einer Zuspitzung von Verständigungsbarrieren. Können Sie diese Aspekte näher ausführen?

Persönlich betroffen ist jeder, der Leistungen bezieht, weil er vom Jobcenter wegen genau dieser Geldleistung abhängig ist. Per se sind wir alle von Verwaltungsstellen abhängig, weil sie eine Monopolstellung haben. Das Jobcenter als Exekutive bewilligt auf Grundlage von Rechtsnormen Anträge oder lehnt sie ab und damit bin ich abhängig. Das Schwierige ist, dass Verwaltung eine eigene Verwaltungssprache hat. Bestimmte Formulierungen haben hier eine andere Bedeutung als im Alltag.

Ein Ratsuchender in einer Beratung hat das Jobcenter in einem Schreiben um Unterstützung gebeten. Sein Berater hat ihm gesagt, dass das nicht geht und dass er diese beantragen muss. Auf der anderen Seite hat eine Verwaltung spezifische Verfahrensweisen. Unser Alltag ist eher durch Mündlichkeit geprägt, in der Verwaltung regiert die Schriftlichkeit. Dazu ist alles, was Verwaltung aufnimmt, durch Formulare von dieser vorgeformt.

Aber wo passt denn meine Lebenswelt rein? Sie passt vielleicht in kein Formular. Jürgen Habermas spricht von der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das „System“. Die Vervielfältigung von Normalitäten in der Moderne führen zu einer Komplexitätssteigerung, die System und Lebenswelten entkoppeln lassen. Die Lebenswelten differenzieren sich immer weiter aus und für Verwaltung wird es schwer, das nach ihrer Logik rational einzufangen.

Das SGB II ist ein Paradebeispiel für den Versuch, diese komplexe Lebenswelt abzubilden. Mit der Ausnahme der Sonderregel ist eine neue Unübersichtlichkeit für Leistungsbeziehende und Sachbearbeitende entstanden. Von 2005 bis 2013, weiter habe ich nicht mehr geschaut, gab es allein 63 Novellierungen. Da muss man erst mal hinterherkommen. Es ist stetig im Wandel und wenn ich da bestimmte Dinge nicht weiß, fällt es schwer, für meine Rechte einzutreten. Die Verwaltung hat aber andererseits eigentlich ein Verständlichkeitsgebot.

Haben Sie ein Beispiel für das komplizierte Amtsdeutsch?

In einem Beratungsgespräch ging es um Folgendes: Eine Frau hat Widerspruch eingereicht weil, fälschlicherweise, ihr Vermögen in Form einer Rentenversicherung angerechnet wurde. Somit wurde für den Folgemonat die Leistung bis auf 50 Euro gekürzt, weil sie das Vermögen erst mal aufbrauchen sollte. Sie hatte aber aufgrund einer Sperrklausel keinen Zugriff auf die Rentenversicherung.

Als ihr das Amt die Kürzung mitteilte, hat sie Widerspruch eingereicht. In der Antwort hieß es: „Soweit sich ihr Widerspruch gegen einen Aufhebungs- oder Erstattungsbescheid wenden sollte, teile ich Ihnen mit, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs hergestellt ist.“ Das ist ein allgemeiner Textbaustein, denn es war weder ein Aufhebungs- noch ein Erstattungsbescheid und somit war es ungeklärt und die Frau fragte den Berater: „Und kriege ich nun mein volles Geld oder nicht?“.

Die Jobcenter versenden durchschnittlich 120 Millionen Schreiben im Jahr und natürlich muss Verwaltung ein stückweit auf Textbausteine zurückgreifen. Es geht hier aber nicht um 5-Euro-Beträge. Es ist daher extrem fragwürdig, inwiefern da in diesem Kontext ein allgemeiner Textbaustein ohne Bezug zum Adressaten, der nur der Verwaltungsseite hilft, weil sie damit unkompliziert reagieren kann, zielführend ist.

Ihre Verbesserungsvorschläge am Ende der Doktorarbeit beinhalten einfachere Sprache und bessere Erreichbarkeit der Mitarbeiter. Klingt eigentlich leicht umzusetzen.

Beim Jobcenter gibt es nur das CallCenter. Von dort werde ich eventuell durchgestellt. Meinen Sachbearbeiter, der den Bescheid geschrieben hat, kann ich in der Regel nicht direkt erreichen. Bei Jobcentern, die zugelassene kommunale Träger sind, ist das mitunter anders. Es gab dazu ein Urteil des Bundesverwaltungsgericht, dass es nicht rechtens ist, dass Mitarbeiterverzeichnis nicht zu veröffentlichen. Das Jobcenter will ja eigentlich kundennah und serviceorientiert sein. Da kann ich mich nicht verschanzen.

Bei der Vereinfachung der Sprache wäre es durchaus angemessen, einen partizipierenden Optimierungsansatz zu wählen und auch Leistungsbezieher mit an den Tisch zu holen, weil sich dann die Rollen von Objekt und Subjekt verändern. Auf der anderen Seite ist es so, dass erst einmal die extreme Regelungsdichte bekämpft werden müsste. Wir haben zurzeit ein „Merkblatt“ zum ALG-Antrag, was 86 Seiten lang ist. Der Hauptantrag hat sechs Seiten. Dazu kommen noch 20 weitere Anlagen.

Aber um die Regelungsdichte zu verändern muss ich auch das Menschenbild, was hinter dem SGB II steht, umformen. Vor dem Hintergrund einer Arbeitswelt 4.0 sollten statt sogenannter Anreize zur Arbeitsaufnahme vielmehr Möglichkeitsräume für sinnstiftende Erwerbsarbeit geschaffen werden.

An Erwerbslose werden hohe Flexibilisierungsanforderungen gestellt. Diese sollen x Bewerbungen schreiben, alle Änderungen sofort melden, jedes vermittelte Jobangebot annehmen und gegebenenfalls dafür quer durch Deutschland ziehen. Auf der anderen Seite kann die Verwaltung diese Flexibilisierungsanforderungen selbst nicht gut bearbeiten.

Stichpunkt Über- oder Unterzahlung von Leistungen. Eine weitere Forderung war, dass Erwerbslose oftmals gegenüber einer mächtigen Verwaltung auf verlorenem Posten stehen. Da braucht es vermehrt soziale Arbeit, die sich politisch oder in regelmäßigen Treffen mit den Jobcentern engagiert und Missstände anklagt.

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