Sachsen hat ein ziemlich kaputtes Bildungssystem. Das wird einem nicht wirklich bewusst, wenn man die regelmäßigen Jubelmeldungen zu PISA-Ergebnissen oder die Jubelworte der Kultusminister zu den halbjährlichen Bildungsempfehlungen liest. Die keine Bildungsempfehlungen sind, sondern der Versuch, ein ungerechtes System als Vorzeigemodell anzupreisen. Wider besseres Wissen. Aber was heißt schon Wissen?

„Von rund 31.000 Grundschülern der 4. Klassen an öffentlichen Schulen haben 48 Prozent (14.800 Schüler) in diesem Jahr eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium und 51 Prozent (15.800 Schüler) für die Oberschule erhalten“, meldete das Sächsische Kultusministerium am Mittwoch, 20. März. „Etwa ein Prozent der Grundschüler, die in DaZ-Klassen oder inklusiv lernzieldifferent unterrichtet werden, erhielten keine Bildungsempfehlung.“

Bestenfalls ist das, was da ausgeteilt wurde, eine Schulwahlempfehlung. Wenn überhaupt, denn tatsächlich bedeuten 51 Prozent Empfehlungen für die Oberschule eine Zurücksetzung der betroffenen Kinder. Es wird ausgesiebt, auch wenn der Kultusminister das alte Lied singt: Die Kinder könnten ja später noch wechseln.

„Ich wünsche den Eltern und Schülern bei der Entscheidung die nötige Gelassenheit. Die Bildungsempfehlung und die Einschätzung des Lehrers sind ein wichtiger Kompass. Darauf sollten die Eltern vertrauen“, betonte Kultusminister Christian Piwarz.

„In Sachsen führen viele Wege zum Erfolg. Ob Oberschule oder Gymnasium, beide bereiten die Schüler optimal auf ihre berufliche Karriere vor. Ich freue mich, wenn Eltern die Qualität beider Schularten erkennen“, machte Piwarz deutlich. Der Minister stellte auch noch einmal klar, dass mit der Entscheidung der weitere Schulweg nicht in Stein gemeißelt sei. „Es gibt keine Einbahnstraße und keine Chancen werden verbaut. Ein Wechsel zwischen Oberschule und Gymnasium ist jederzeit möglich.“

Er sagte auch, es sei vor allem wichtig, dass der Schüler beim Lernen weiter gut vorankomme und Erfolgserlebnisse habe.

Einstellung zur Gemeinschaftsschule nach Partei-Präferenz. Grafik: EMNID Umfrage zur Gemeinschaftsschule
Einstellung zur Gemeinschaftsschule nach Partei-Präferenz. Grafik: EMNID Umfrage zur Gemeinschaftsschule

Hat er die? Nicht in diesem System.

Man vergisst ja beinah, dass die Eltern der Kinder seit Jahren darum kämpfen, dass die Kinder in Sachsen wenigstens länger miteinander lernen können, vielleicht sogar in eine Schule gehen können, in der sie auch ab der fünften Klasse nicht auseinandergerissen werden. Wenigstens das. Denn alle Erfahrungen zeigen, dass gerade Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien einen schwereren Schulstart haben und länger brauchen, in einem auf Wissenserwerb getrimmten System Fuß zu fassen. Für diese Kinder kommt das Aussortieren in der vierten Klasse meist viel zu früh.

Und dann denkt man an eine ZDF-Sendung aus dem Jahr 2012, in der Richard David Precht den Hirnforscher Gerald Hüther als Gast hatte und in der die beiden sehr klar analysierten, dass unser aus dem 20. Jahrhundert stammendes Bildungssystem mit Bildung nichts zu tun hat. Gerade den menschlichen Wunsch sich zu bilden bremst das starre Schulbladendenken und zentral vorgegebene Raster der Abfragemodule völlig aus. Es entmutigt und entgeistert die Kinder.

Und zwar früh. Die „Bildungsempfehlung“ in der 4. Klasse ist nur die Spitze eines Systems, das vor allem darauf angelegt ist, Menschen zu entmutigen, ihnen die Freude am Sichbilden und am Neugierigsein auszutreiben. Ein System, unter dem alle leiden: die Kinder (auch die, die sich dann durch das Gymnasium pauken), die Eltern und die Lehrer (die den Feuereifer und die Lust der Kinder, Dinge zu lernen, regelrecht bremsen müssen oder auch gleich ganz austreiben). Man versteht wirklich nicht mehr, worauf Piwarz da so stolz ist. Denn das Regelprodukt, das diese Schule produziert, ist der angepasste, opportunistische Mensch, der nur noch versucht, dem Lehrplan zu genügen. Der sich aber alle Lust zum Selberdenken und zur eigenen souveränen Bildung abgewöhnt.

Und das ist ein harter Prozess, der viele Menschen fürs Leben zeichnet, deprimiert macht, wütend und ratlos. Und unsere Gesellschaft – siehe Precht und Hüther – ärmer, feiger, innovationsverhindernd. Hier passt der Spruch wirklich, auch wenn das der Rechtsmurmler Sarrazin so nie gemeint hat, weil er so nicht denkt: „Deutschland schafft sich ab“. Nämlich indem es den jungen Menschen ihre kreativen Potenziale austreibt.

Selber gucken. Es hat sich ja – anders als von Hüther prophezeit – seitdem nichts geändert.

„Skandal Schule“ – Richard David Precht und Gerald Hüther reden daüber, ob Lernen dumm macht?

Außer dass es in Sachsen mittlerweile eine starke Initiative von Menschen gibt, die die Nase voll haben von diesem schulischen Abwertungssystem und die seit Monaten Unterschriften sammelt für einen Volksantrag, mit dem die unwilligen Landtagsabgeordneten dazu gebracht werden sollen, endlich die Gemeinschaftsschule in Sachsen zu ermöglichen, die sich die Mehrheit der Sachsen wünscht. Die Bevölkerung ist längst da, wo Hüther den Ansatzpunkt sieht, erstarrte Strukturen endlich zu verändern. Von Politikern erwartet er das nicht mehr, die denken nur an ihren Wahlerfolg und das Mandat, das sie besetzen. Es gibt kaum einen, der in so einem Ministeramt noch wagt, Zukunft zu denken und Visionen zum Beispiel für ein wirkliches Bildungssystem zu entwickeln, das allen Kindern alle Möglichkeiten der Entfaltung bietet und sie nicht wie Produktionsausschuss und Normprodukte behandelt.

Nun haben sich auch die Vertreter der Kreiselternräte aus mehreren Landkreisen zu Wort gemeldet, die das Anliegen des Volksantrages aus vollem Herzen unterstützen. Darunter die Kreiselternräte aus Dresden, Bautzen, Görlitz, Zwickau, dem Vogtlandkreis und dem Landkreis Leipzig.

„Als Vertreterinnen und Vertreter der Eltern unterstützen wir den Volksantrag ‚Gemeinschaftsschule in Sachsen‘. Der vorgelegte Gesetzentwurf greift den Wunsch der Mehrheit der Elternschaft auf, die sächsische Schullandschaft weiterzuentwickeln. Nur so kann der Schulfrieden in Sachsen hergestellt werden“, formulieren sie ihr gemeinsames Anliegen.

Und sie plädieren für eine Wahlfreiheit in den Kommunen: „Wir begrüßen ausdrücklich den Ansatz des ‚Optionalen Modells‘. So ist gewährleistet, dass Eltern, Lehrer, Schüler und Schulträger gemeinsam über die Einführung einer Gemeinschaftsschule vor Ort entscheiden können. So entsteht ein Dialog auf Augenhöhe, für den wir Eltern stets werben. Wir sehen es als unsere Pflicht an, für den Volksantrag zu werben. Nur wer die Initiative kennt, kann sich mit dem konkreten Gesetzentwurf auseinandersetzen und dann selbst entscheiden, ob die Unterschrift beim Volksantrag geleistet wird. Wenn wir eine demokratische Schulkultur einfordern, ist die Information zur Volksgesetzgebung ein wichtiges Element. Gern stellen wir uns den Debatten vor Ort, um Pro- und Contra-Argumente auszutauschen. Schließlich gibt es unterschiedliche Stimmen in der Elternschaft. Am Ende sollte jeder informiert sein und eine eigene fundierte Entscheidung treffen können. Wir selbst haben mit hunderten Eltern den Volksantrag unterzeichnet und freuen uns über weitere, die es uns gleichtun.“

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar