Gier frisst Europa auf. Das ist so ein Gedanke, der im Hinterkopf auftaucht, wenn man dieses neue Regjo-Heft aufschlägt und den doppelseitigen Beitrag von Helge-Heinz Heinker liest, der wie eine Einstimmung in das Heft wirkt. So eine Art Appetizer: Kommt es jetzt? Nimmt das Regjo-Magazin jetzt mal die Wirtschaftspolitik der drei mitteldeutschen Länder ins Visier?

Heinker ist Wirtschaftsjournalist. Einer, der eigentlich jede Woche in einer analytischen Kolumne untersuchen müsste, was im Wirtschaftsraum Mitteldeutschland funktioniert, was nicht. Welche Wirtschaftszweige wachsen hier tatsächlich? Wer erwirtschaftet eigentlich die Steuern? Ist die Region in der Lage, sich selbst zu ernähren oder hängt sie dauerhaft am Tropf von Solidarpakten?

Fragen über Fragen, die sich in den üblichen Zeitungen der Region schon lange keiner mehr gründlich stellt. Und in den Regierungen tut man es auch eher nur oberflächlich, subventioniert hier mal was und da mal was, am liebsten gleich richtig groß und mächtig gewaltig (Flughäfen, Werksniederlassungen, Logistikstrukturen) und auch am liebsten ganz klassisch (Kohleverstromung, Bergbau).

Ein Thema, auf das übrigens Frank Willberg eingeht, gleich im nächsten Beitrag, wo er vor allem den aus Leipzig stammenden Unternehmer Karsten Schaal zu Wort kommen lässt, der die Förderpolitik der drei Bundesländer kritisiert und ihre Ignoranz für die eigentlich fehlenden Förderdimensionen für das, was wirklich neu sein könnte in der Region: Wirtschaft 4.0.

Aber da ist man schon im Detail. Das würde ein eigenes Regjo-Heft füllen, wenn man sich einmal mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Förderpolitik in Mitteldeutschland beschäftigen würde. Ein Problem sei nur genannt: Die eklatante Kluft zwischen Klein- und Kleinstförderungen auf der einen Seite, die praktisch nur für kleine Handwerksbetriebe und Einzelhändler funktionieren, und den Millionen-Subventionen für große Unternehmensansiedlungen. Dazwischen, im eigentlich wichtigen Gründer- und Risikobereich, gibt es fast keine Angebote. Entweder gehen die Gründer voll ins persönliche Risiko, verschulden sich bis über die Ohren lebenslang und halten die so wichtigen ersten drei Jahre durch, bis das Geschäft tatsächlich funktioniert. Oder …

Eigentlich gibt es kein Oder. Nicht mal als Antwort “Risikokapital”. Denn die Risikokapitalgeber sind noch viel weniger risikofreudig als die öffentliche Hand. Sie stecken ihr Geld in der Regel nur in Projekte, die binnen kürzester Zeit Rendite versprechen. Das ist für neue, wirklich innovative Ideen tödlich.

Aber auch das wäre ein eigenes Thema.

Aber Heinker ärgert eigentlich etwas anders: Die aktuelle Schönwetterpolitik, wenn es um deutsche Wirtschaftszahlen geht. Er betont etwas, was die großen Wirtschafts-Auguren fast alle ausblenden: dass das deutsche (und damit auch das sächsische und mitteldeutsche) Wirtschaftswachstum ein Wachstum auf Pump ist, denn die deutschen Exporte profitieren aktuell von drei Dingen, die allesamt dafür sorgen, dass Exportprodukte aus der Bundesrepublik auf dem Weltmarkt extrem günstig gehandelt werden können – dem niedrigen Leitzins der Zentralbank, dem “nach unten geprügelten” Euro-Kurs und den billigen Rohstoffpreisen.

Heinker fragt sich zu Recht, wie viel davon in den 2 Prozent prognostizierten Wirtschaftswachstums für 2016 stecken.

In seinem Kommentar vermerkt er das mit einem etwas kritischeren Nachdenken darüber, ob die Bundesrepublik die Kosten der Flüchtlingsunterbringung einfach so wegstecken kann und das ohne Folgen für den ausgeglichenen Haushalt bleiben wird.

“Schwarze Null” heißt ja bekanntlich das Mantra aus dem Bundesfinanzministerium.

Und wie gesagt: An solchen Stellen stellen sich sofort Assoziationen ein. Woher kommt eigentlich die “Schwarze Null”? Woher kommt die Besessenheit der deutschen Finanzminister vom Sparen, Kostendrücken und dem Verbieten von Neuverschuldung?

Ist das nicht einer der vielen Effekte des neoliberalen Denkens, das seit den 1980er Jahren in der europäischen Politik ebenso umgriffig geworden ist wie in den angelsächsischen Ländern und nach 1990 auf die rabiate Tour auch in den osteuropäischen Ländern? Man denkt an Philipp Thers kluge Analyse des radikalen Wirtschaftsumbaus (“Die Ordnung auf dem alten Kontinent”) in den osteuropäischen Ländern mit seinen tiefgreifenden Folgen. Manchen Ländern hat die neoliberale Schock-Strategie der “Chicago-Boys” komplett die Basis weggeschossen und sie sind auch über 20 Jahre nach der Radikalkur aus Privatisierung, Deregulierung und Entstaatlichung nicht wieder auf die Beine gekommen. Andere haben die “heilbringenden Rezepte” nur vorsichtig und zurückhaltend umgesetzt und sind zumindest als Handelspartner mit einigen industriellen Kernen im Rennen geblieben.

Andere haben sich das neoliberale Denken ganz und gar zur Staatsdoktrin gemacht, was zwar die Staatshaushalte auf niedrigem Niveau stabilisiert hat, mit drastisch zurückgefahrenen Staatsdienstleistungen und sehr desolater Infrastruktur, mit niedriger Schuldenbelastung – aber auch ohne große Spielräume, den Ländern wieder eine ökonomische Blüte zu verschaffen. Mit der Betonung auf ökonomisch – hier mit deutlicher Abgrenzung zu rein wirtschaftlich. Denn die Ideologie des Neoliberalismus betrachtet den Staat und die Gesellschaft nicht als Teil der Ökonomie (der absolute Grundfehler dieser Schmalspur-Wirtschaftstheorie), sondern nur als Nutznießer und Profiteur der rein “der Wirtschaft” zugeschriebenen Leistung.

Das Ergebnis sind gleich im Dutzend osteuropäische Staaten, deren Wirtschaftsleistung entweder stagniert oder auf so niedrigem Niveau wächst, dass an eine Durchfinanzierung eines dem Westen vergleichbaren “Wohlfahrtstaates” gar nicht zu denken ist. Und das neoliberale Denken hat noch einen anderen Effekt bestärkt: Das staatspolitische Denken allein in nationalen Kategorien. Für alle Europäer in aller Härte durchexerziert am Beispiel Griechenland: Gezockt haben mit griechischen Anlagen und Anleihen nicht nur die Griechen, die Gewinne der großen Finanzzockerei haben global agierende “Investoren” eingestrichen. Die Folgen der “Rettung” aber trägt auch hier allein der griechische Staatshaushalt. Die internationalen Zockerkosten wurden als rein griechische Schulden verstaatlicht. Und vor aller Augen versagte in der um sich greifenden Staatsschuldenkrise die viel beschworene europäische Solidargemeinschaft.

Übrigens nicht nur gegenüber Griechenland, denn dieses Verweigern einer gesamteuropäischen Lösung für die Folgen der Finanzkrise hat erst dazu geführt, dass sich die Folgen dieser Krise bis heute in allen europäischen Staaten manifestieren: Die ärmeren schaffen es nicht, ihre gigantischen Schuldenberge abzutragen, die radikaleren (wie Großbritannien) glauben, man müsse die neoliberalen Rezepte noch verschärfen, um endlich aus der selbst gestellten Falle herauszukommen, und die reicheren schaffen es ebenfalls nicht, ihre Schuldenberge abzutragen (Eine “Schwarze Null” ist ja kein Schuldenabbau.) und auch nicht wieder in den notwendigen Investitionsvorlauf zu kommen. Im Gegenteil: Trotz der 2 Prozent (oder 1,5 Prozent) BIP-Wachstum fällt auch die Bundesrepublik für den Rest Europas als Wachstumsmotor aus. Der kleine Bilanzüberschuss reicht gerade einmal, die Stimmung im Land selbst zu versüßen.

Das nun seit über einem Jahr geforderte gesamteuropäische Investitionsprogramm fehlt.

Und man ahnt, wie sehr es die manifest gewordene wirtschaftliche Malaise ist, die jetzt einen osteuropäischen Staat nach dem anderen in das alte Fahrwasser des Nationalismus führt. Wo es keine gesamteuropäischen solidarischen Projekte gibt, feiert der alte nationale Egoismus fröhliche Urstände.

Übrigens nicht nur im Osten, auch im Westen – mit knallhart nationalistischen Parteien von der französischen Front National bis zur deutschen AfD. Sie füllen eine Lücke, die die europäische Linke hinterlassen hat, als sie in den 1990er Jahren in einem gewaltigen Ruck nach rechts gerückt ist, in die sogenannte “Neue Mitte”.

Denn wo sind sie, die gemeinsamen ökonomischen Projekte für ganz Europa? Es gibt sie nicht. Jeder werkelt für sich allein. Und der zweite Blick zeigt schnell, dass auch das viel gerühmte Deutschland eher nur von idealen Rahmenbedingungen profitiert, aber nicht von einer wirklich durchdachten Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Der reine Glauben an die Wohltaten einer Spar- und Nichtverschuldungspolitik ersetzt keine zwingend europäische Aufbau- und Solidarpolitik. Das Motto lautet – auch durch die forcierten Einsprüche des deutschen Finanzministers – mittlerweile wieder: “Jeder stirbt für sich allein.”

Die Kritik – nicht nur aus Griechenland, sondern immer hörbarer nun auch aus Italien oder Finnland – lautet: Der Euro allein rettet den Laden nicht.

Die Gemeinschaft ist tatsächlich kurz davor, wieder in lauter nationale Eigenbrötler auseinanderzubrechen, die meisten davon besessen von einem neuen nationalen Furor und dem Glauben daran, ein autokratisches System könne die Lage besser bewältigen als eine auf Konsens zielende Demokratie.

Tatsächlich erweist sich der Egoismus des Geldes als Auslöser für ein neues Aufkommen des Egoismus der Staaten.

Das fällt einem aber eben nur so beiläufig ein, wenn man Heinkers Kommentar zur Schönfärbe-Politik in Mitteldeutschland liest. Denn die Tendenzen zum provinziellen Kleinklein sind hier ebenso stark. Und auch hier regieren fast allein die Finanzminister, denen die “schwarze Null” wichtiger ist als eine wirklich gut finanzierte Ökonomie (die Staat und Gesellschaft einschließt). Der Kommentar weist gleich in vier, fünf große Mega-Themen. Was gut ist, wenn man das Heft dann auch nutzt, die Themen wenigstens alle mal anzureißen und den Leser richtig hungrig zu machen auf die Geschichten.

Das Enttäuschende ist eher, dass im Heft eher die Schönwetterpiloten der gegebenen Zustände zu Wort kommen, gern mit Worten gebauchmiezelt wie Kontinuität, Leidenschaft oder gar – in einigen Texten, die noch in ein ganz anderes Themengebiet abdriften: “Kultur der Beteiligung”.

Wirklich?

Über “Kultur der Beteiligung” könnten wir hier eine Menge erzählen.

Aber das sparen wir für ein andermal.

Das Regjo-Heft macht im Grunde da weiter, wo andere Hefte zuvor aufgehört haben: Es zerfällt in viele kleine Splitter. Die große Bündelung fehlt, die die Mega-Themen, die in dieser Region sowieso bewältigt werden müssen, mal auf den Tisch hebt und von allen Seiten beleuchtet, analysiert und debattiert.

Es gleitet zu schnell in genau den Schönwetter-Modus um, den Heinker eigentlich kritisiert.

Schade.

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