Es war einmal ein Leipzig – von dem heute praktisch nichts mehr zu sehen ist. Eine Stadt, die noch von Gärten umgeben war, in der Pferde die riesigen Lastwagen zogen und noch die Beschaulichkeit des 18. Jahrhunderts zu leben schien. Und das nicht mehr beschaulich sein wollte. Die Veränderung lag in der Luft und das spürte wohl niemand so stark wie der Maler, Stahl- und Kupferstecher Christian Adolf Eltzner. Der Lehmstedt Verlag widmet ihm einen ganzen Kalender.

1816 geboren, führte er ab 1846 eine Stahlstichwerkstatt in der Zeitzer Straße 9 (der heutigen südlichen Karl-Liebknecht-Straße) und begleitete wie kein anderer Leipzigs Veränderung in Bildern. Auch Alberto Schwarz griff in seinem im Sax Verlag erschienenen Buch „Leipzig um 1850“ auf zahlreiche Bilder aus Eltzners Werkstatt zurück.

Denn in seinem Bemühen, die Stadt möglichst originalgetreu abzubilden, ist Eltzner letztlich derjenige, der den Wandel festhielt, bevor die Fotografie diese Aufgabe übernehmen konnte.

Und der Kalender widmet sich derselben Epoche, die Alberto Schwarz behandelt hat. In dreizehn Ansichten aus Eltzners Werkstatt zeigt er Gebäude und Orte des Leipzigs um 1870, die schon wenige Jahre später verschwunden sind und heute beim Betrachter das Staunen wachrufen, wie sehr sich dieses alte Leipzig vor dem Aufbruch zur Großstadt vom heutigen Leipzig unterscheidet.

Vor der großen Beschleunigung

Bei einem Gebäude zeigt Eltzner sogar das Ende im Bild – es ist mit zwei Abbildungen im Kalender vertreten: das Georgenhaus am Brühl. 1700/1701 als Hospital, Zucht- und Waisenhaus errichtet, hatte es sich 1870 völlig überlebt.

Im Titelbild des Kalenders ist es noch in alter Schönheit am Ende des Brühls zu sehen. Im September zeigt eine aquarellierte Federzeichnung dann den Abriss des Georgenhauses, das dem Gebäude der ADCA weichen musste. Die Geschichte der dargestellten Orte wird auf der Rückseite des Kalenders kurz und knapp erzählt.

Aber der Betrachter der Kalenderblätter begegnet noch vielen anderen Gebäuden, die um 1850 noch das Bild der Stadt prägten und schon wenige Jahre später dem Abriss und dem Neubau weichen mussten. Und damit auch einem völlig anderen Lebensgefühl.

Die Bilder aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wirken ja heute geradezu idyllisch, weil man außer Pferdefuhrwerken und zu Fuß gehenden Menschen keinen anderen Verkehr sieht. Keine Fahrräder, keine Straßenbahnen, keine Automobile. Das alles sollte erst kommen mitsamt gepflasterten und asphaltierten Straßen, die den zunehmend dichteren und beschleunigten Verkehr aufnehmen konnten.

Viele Gewässer, die damals offen vor der Stadt flossen, sind heute entweder eingemauert oder verschwunden. Am alten Münztor zeichnete Eltzner noch den Floßgraben, der über den Floßplatz führte und 1868 verfüllt wurde. Das Juli-Blatt zeigt die unvermauerte Parthe hinter den Häusern des alten Gerberviertels, dessen letzte Gebäude in den 1950er Jahren verschwunden sind.

Und der Dezember zeigt den Elstermühlgraben im Ranstädter Steinweg – breit mitten im Steinweg, so wie er dort Jahrhunderte lang floss, bis er in den 1950er Jahren erst vorrohrt wurde und dann 2006 komplett auf die Südseite verlegt wurde.

An der Schwelle zur Großstadt

Die Bilder scheinen eine Idylle zu zeigen, die es so auch zu Eltzners Zeiten nicht gab. Denn dass der alte Gebäudebestand so nicht zukunftsfähig war, macht nicht nur der Blick ins Gerberviertel deutlich, sondern auch der in die Reudnitzer Capellengase, die das April-Blatt schmückt, und auch der auf das alte Johannishospital, das schon zur Zeit, als Eltzner es aquarellierte, durch ein Neues Johannishospital an der heutigen Prager Straße ersetzt wurde, das dann freilich im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde.

Und auch das Gasthaus „Petersschießgraben“, das Eltzner vor 1870 zeichnete, musste schon bald weichen, als die Südvorstadt ausgebaut wurde. Das war quasi gleich in der Nachbarschaft von Eltzners Werkstatt.

Der Kalender ist eine großformatige Reise in die Zeit, die der 1891 gestorbene Künstler noch kannte und zeichnete, womit er zu einem regelrechten Stadtchronisten wurde, wie ihn das Stadtlexikon von Pro Leipzig nennt. In bestechender Detailtreue hielt er die Stadt in hunderten Ansichten fest, bevor die Abreißer kamen und die alten Gebäude niederlegten.

Das, was Eltzner erlebte, muss ihm wie eine atemberaubende Beschleunigung erschienen sein. Als er geboren wurde, war Leipzig nach heutigen Maßstäben eine Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern. Er erlebte den Bau der ersten Ferneisenbahn mit und das Aufkommen der von Pferden gezogenen Straßenbahn.

Als das Georgenhaus abgerissen wurde, hatte Leipzig die Schwelle von 100.000 Einwohnern überschritten. Als Eltzner starb, ging es schon auf die 300.000 Einwohner zu und Leipzig mauserte sich längst zu einer Industriestadt mit qualmenden Schornsteinen. Doch davon ist in diesen Bildern noch nichts zu sehen.

Sie zeigen das Leipzig vor der Verwandlung in die rauchende und geschäftige „Boomtown“, die es um 1900 sein würde. Gerhards Garten an der Promenade existiert noch, am Markt steht noch das „Café National“. Aber die Waage für die Messeaussteller befindet sich seit 1820 nicht mehr am Markt, sondern als Neue Waage vor dem Hallischen Tor. Auch sie schon wieder vom Abriss bedroht, denn bald sollte hier die Neue Börse stehen.

Wer umblättert, darf sich also immer wieder aufs Neue wundern, wie unvertraut ihm ist, was Eltzner da gezeichnet hat. Manche Bilder wirken nur vertraut, weil sie in historischen Abhandlungen oft abgebildet werden – so wie die Alte Waage am Markt, die das Oktober-Blatt schmückt.

Aber die meisten der hier versammelten Ansichten zeigen Unvertrautes, Vergessenes und eben auch selten Abgedrucktes. Denn auch wenn manches Kapitel aus der Leipziger Geschichte des 19. Jahrhunderts immer wieder zitiert wird, ist das Leipzig dieser Zeit letztlich verblasst und wirkt wie eine völlig andere Stadt, die man sich kaum noch vorstellen kann.

Außer man taucht in diese großen Kalenderblätter ein und geht gedanklich auf die Reise in eine Zeit, die schon verschwunden war, als Eltzner starb.

„Leipzig in alten Ansichten. Kalender 2023“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022, 16 Euro.

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