Es ist ein verflixt langes Stück, das Frau von Wulckow da geschrieben hat. Jedenfalls passiert eine Menge am Rande, da, wo Diederich Heßling herumschlawinert und sich einerseits einkratzt, andererseits schamhaft errötet oder erbleicht. Und das müsste er eigentlich auch bei der Begegnung mit dem alten Stadtrat Buck, der jetzt recht einsam dasitzt, Opfer des Gerüchts, das Diederich ausgestreut hat. Aber der Alte ist nicht mal wütend.

Er verzeiht dem Heißsporn sogar, für ihn sind politische Kämpfe nichts Persönliches, anders als für Diederich und die Deutschnationalen, die alle Register ziehen, um anderen Menschen auch gleich noch die Existenz wegzuziehen. Es ist zwar keine besonders emotionale Szene – gerade weil der alte Buck ruhig bleibt. Aber sie zeigt, warum es so schwer ist, sachliche Politik zu trennen von einem Politikverständnis, das politische Gegner meint vernichten zu müssen.

Selbst das ist modern, erinnert an eine Gegenwart, in der die Scharfmacher und Polterer immer mehr Hallraum bekommen und den Medien riesige Resonanz bescheren, während die richtige, sachliche Arbeit für die Gemeinschaft scheinbar gar keine Rolle mehr spielt.

Buck hat’s wenigstens gemerkt, was da abläuft: „Sie sind jung und handeln wohl unter den Antrieben, denen die Geister heute gehorchen.“ Und direkt zu Diederich: „Ich weiß: Sie suchen und haben sich selbst noch nicht gefunden.“

Was zur zweiten Hälfte ja stimmt. So lernen wir diesen fortwährend aus dem Gleichgewicht rutschenden Diederich ja kennen. Aber sucht er sich? Da hat der Alte wohl mehr gewünscht als gesehen. Wir haben es ja schon längst aufgegeben, diesen Burschen als Suchenden zu sehen. Denn wo andere anfangen zu suchen und sich selbst zu befragen, rutscht Diederich ja immer in die aggressive Kaiserpose.

Er plappert nach, was er in der Zeitung gelesen hat. Heute lesen die Leute das, was sie reden, vielleicht nicht mehr in der Zeitung, sondern irgendwo „im Internet“, fest in dem Glauben, sich so einer großen, rechtmäßigen Bewegung anzuschließen und im Einklang mit der nun herrschenden Meinung zu sein, wenn sie nun drauflos pöbeln. Aber meist kommt ja nicht mehr, ist hinter der Phrase nichts, keine persönliche Erfahrung, kein Nachdenken über die Probleme, kein Versuch, das Ganze zu erfassen.

Worum es ja in der Politik eigentlich gehen sollte. Auch in der kleinen lokalen Politik, in der Buck nun so lange das Schwergewicht war. Wirklich für das Gemeinwohl leben und arbeiten – auch gegen Anfeindungen. Das kennt der Alte ja nur zu gut.

Aber in dieser Szene hat man das dumme Gefühl, dass er diesen Diederich Heßling falsch einschätzt. Er will diesen Diederich sogar unterstützen, um Stadtverordneter zu werden. Und Diedrich schlägt die Hacken zusammen.

Wie Buck das Arbeiten für die Stadt begreift, sagt er so: „Sie sehen, der Gemeinsinn schlägt Brücken von jung zu alt und sogar bis zu denen, die nicht mehr da sind.“

Diederich und Gemeinsinn?

Er hat ja nicht mal  Respekt vor den Frauen, obwohl er ja die ganze Zeit unterwegs ist, die Frauen zu taxieren. Mit Liebe hat das sichtlich nichts zu tun. Guste Daimchen hat er ja gerade mit einem fiesen Gerücht regelrecht bloßgestellt und gleich kommt die Szene, in der er Guste dann auch noch lächerlich gemacht sieht, weil sich das Gerücht, das er selbst hat streuen lassen, direkt vor ihr entblättert. Aber vorher schäkert er mit Käthchen Zillich, die er ja mit dem Assessor Jadassohn im „Grünen Engel“ erwischt hat. Und weil er glaubt, sie damit in der Hand zu haben, nimmt er sich was heraus.

Tja, ist zwar 19. Jahrhundert, erinnert aber auch wieder fatal an die Gegenwart. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass sich ein Haufen Leute bemühen, uns ins zähe, piefige 19. Jahrhundert zurückzuzerren? In eine Zeit, in der sich Männer gegen Frauen fast alles herausnehmen durften. Eben erst hat der alte Buck Diederich das verschwiegene kleine Liebeskabinett im alten Harmonie-Gebäude gezeigt. Und nun nutzt Diederich die Gelegenheit, sich nicht nur vor Käthchen aufzuspielen und sie neugierig zu machen, sondern sie schnurstracks ganz hineinzustoßen und aufs dort stehende Kanapee zu drücken.

Und Käthchen weiß nicht mehr, ob das noch Schäkerei oder Übergriffigkeit ist, und wehrt sich natürlich. Wieder ist Diederich zu weit gegangen – so wie kürzlich erst mit Guste Daimchen in den Lumpen. Und irgendwie rettet Guste die kleine Zillich, indem sie jetzt auftaucht. Eher eifersüchtig, denn da ja in Netzig die gute Partie zählt, ist auch noch nicht geklärt, wen Guste und Käthchen nun mal zum Mann bekommen.

Es geht aber um Geld und guten Ruf. Darüber entbrennt dann der Streit zwischen den beiden, die eigentlich genau wissen, was für ein Hallodri Diederich eigentlich ist. Oder sollte man besser sagen: ein Unfertiger? Einer, der seine Unbeholfenheit den Frauen gegenüber gern mit Boshaftigkeit kaschiert? Im Kopf sowieso. Die Kindheit mit seiner Mutter hat ihn ja geprägt. Er hält alles, was Frauen von Männern wollen, für Lug, Betrug, Intrige und Verstellung.

So funktioniert das ja mit den Bildern übergriffiger Männer bis heute.

Nur dass die Szene im Kabinett nicht mit Ohrfeigen endet, die Diederich eigentlich von beiden verdient hätte. Denn hinter allem Geschimpfe meinen sie es ehrlich. Sie suchen wirklich nach etwas, anders als Diederich, der am Ende froh ist, aus dem Kabuff zu kommen, das einst für die Techtelmechtel der Liebenden gebaut wurde. Der Ausgang erlöst ihn.

„,Dies ist der Ausgang, wenn man es hinter sich hat‘, bemerkte er und ging voraus. Ihm im Rücken sagte Käthchen spöttisch: ‚Ich habe gar nichts hinter mir.‘ – Und Guste wehmütig: ‚Ich auch nicht.‘“

Ein paar Worte und man weiß, wie sich die beiden nach einer Liebe sehnen. Nach einer richtigen Begegnung und nicht nur nach einer konventionellen Verheiratung nach Geld, Ruf und gesellschaftlichem Stand.

Aber ausgerechnet mit diesem Diederich? Da graust es einem eigentlich. Bis jetzt hat nur der alte Buck in ihm einen Suchenden gesehen. Obwohl er eigentlich so ein Fix-und-Fertiger ist, wie er in den national-patriotischen Männergesellschaften immer den Ton angibt: inwendig leer, aber äußerlich voller Gelärme, dass man vor ihrem Furor erschrickt. Rettet euch Mädchen, möchte man rufen.

Aber wir blättern weiter.

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