In Berlin hatten wir Diederich schon zugesehen, wie er sich anbiedert, wie er sich eine āstarke Gemeinschaftā sucht, wo er nur die richtigen Rituale kennen muss, um das Gefühl zu haben, endlich eine Rolle zu spielen. Die Phrasen und Haltungen hat er mitgenommen ins eigene Leben. Agnes und ihr Vater haben es schon zu spüren bekommen. Denn nur in seiner Korporation ist Diederich ein RƤdchen. Rückgrat hat er ja keins. Und nun kommt er auch noch in die Politik. Es darf einem grauen.
Tucholsky schrieb über diesen subalternen Anbeter der absoluten Macht: āDie alte Ordnung, die heute noch genauso besteht wie damals, nahm und gab dem Deutschen: sie nahm ihm die persƶnliche Freiheit, und sie gab ihm Gewalt über andere.ā
Diese Gewalt über andere lƤsst Diederich alle spüren ā seine verdatterte Mutter genauso wie den alten Sƶtbier, die er jetzt mit Sprüchen überrollt, die direkt aus dem Redegedƶns des Kaisers stammen: āWenn ich nur weiĆ, einer ist gegen die Regierung, ist er für mich schon erledigt. Und Hochverrat soll für mich ein Verdienst sein?ā
Das ist auf den alten Herrn Buck gemünzt, der im Magistrat von Netzig bislang das Schwergewicht ist und damit die Politik in Netzig stark beeinflusst. Er ist ein alter 1848er, hat also in der Revolution von 1848 versucht, für demokratische Freiheiten zu kämpfen, wurde sogar zum Tode verurteilt und später begnadigt.
Eigentlich ist das ein halbes Jahrhundert her. Er ist noch ein Politiker mit richtigen Idealen. Und wie er so zu Diederich redet, der ihm dann doch in der ersten Antrittsrunde in Netzig seinen Besuch abstattet, merkt man: So ein Kerl würde auch heute noch anecken. Der hat noch Werte. Aber auf das Volk, auf das er ā als junger Mensch ā 1848 noch gehofft hatte, baut er nicht mehr.
āSchon zu unserer Zeit gab es allzu viele, die, unbekümmert um das Ganze, ihren Privatinteressen nachjagten und zufrieden waren, wenn sie, in irgendeiner Gnadensonne sich wƤrmend, den unedlen Bedürfnissen eines anspruchsvollen GenuĆlebens genügen konnten. Seitdem sind sie Legion geworden, denn die Sorge um das ƶffentliche Wohl ist ihnen abgenommen.ā
Das sagt er zu HeĆling, der eben noch zu Hause verkündet hatte, dass mit dem Regiment des alten Buck bald Schluss sein solle. Das, wovon Buck trƤumt, hat mit Diederichs neu angeschafften Idealen der Macht nichts zu tun. Wenn Diederich von Regierung redet, meint er den Kaiser. Und es soll wohl ein verschƤmtes Kompliment sein, wenn er Buck als āmƤchtigsten Mann der Stadtā huldigt. Immerhin stellt Buck ihm in Aussicht, ihm bei dem Grundstück zu helfen, das Diederich braucht, um seine Papierfabrik zu erweitern.
Aber Buck will gar nicht mƤchtig sein. Er will, dass die Stadt sich selbst gehƶrt.
Und dann kommt einem das doch sehr bekannt vor, wenn er erzƤhlt, wie ādie Regierungā sich einmischt in die lokale Politik. Die MachtkƤmpfe sind so alt wie vertraut. In diesem Fall warnt Buck noch vor RegierungsprƤsident von Wulckow, der seine Position sichtlich nutzt, um in die Netziger Lokalpolitik hineinzuregieren. Und das kann er, weil es auch hier schon ein paar Leute gibt, die ihre Süppchen kochen. Auch wenn sich Bürgermeister Scheffelweis, den Diederich nun beim Frühstück abpasst, als reiner Verwalter versucht zu prƤsentieren, keiner Seite zugeneigt, ganz loyal.
Aber dort lernt Diederich auch gleich mal Assessor Jadassohn von der Staatsanwaltschaft kennen, einen Mann, der Diederich sofort beeindruckt, weil er sofort stramme nationalistische Tƶne anschlƤgt. Es lƤuft nicht nur Diederich kalt den Rücken herunter. Der Mann ist so scharf wie eine Rasierklinge und eiskalt. Und sichtlich auch ein bisschen heimtückisch ā er deutet nur an.
Und hier merkt man, warum Diederich so schnell mit dem Schwanz wedelt wie ein angeblafftes Hündchen: Diese stramme Haltung lebt nicht von Respekt, sondern von fein versteckter Einschüchterung. Mit andeutenden Worten bringt es Jadassohn fertig, nicht nur den Bürgermeister stammeln zu lassen und sich zu rechtfertigen, warum der Magistrat nicht untertänigst ein Huldigungstelegramm an den Kaiser geschickt hat.
Er bereitet sichtlich auch Diederich Unbehagen, der nun eiligst in seinen Ton einstimmt und aus breiter Brust drƶhnt: “Denn es untergrƤbt die Ordnung, und ich stehe auf dem Standpunkt, in dieser harten Zeit haben wir Ordnung nƶtiger als je, und deswegen brauchen wir ein festes Regiment …ā
Wenn einem das nur nicht so vertraut vorkƤme. Dieselbe Buckelei, dieselbe Anbiederung: āDiederich legte das vollstƤndige Bekenntnis einer scharfen und schneidigen Gesinnung ab und erklƤrte, daĆ mit dem alten, freisinnigen Schlendrian auch in Netzig von Grund auf aufgerƤumt werden müsse.ā
Schlendrian in Netzig …
Das ist so ein vertrauter Ton: Erst wird ein Schlendrian herbeigeredet (Flüchtlingskrise, Multikulti, versagende Sicherheitspolitik) und dann groĆmƤulig verkündet, man werde damit aufrƤumen. Da hat man schon einen Knoten im Kopf. Aber man weiĆ auch: Wenn Diederich mit diesen Typen Umgang haben will ā und augenscheinlich findet er den beƤngstigend ausforschenden Ton des Herrn Jadassohn viel angenehmer als die freundliche SchwƤrmerei des alten Buck ā dann kommt er aus dieser Denkweise nicht mehr heraus. Aus diesem permanent herbeigeredeten Chaos, das sichtlich mit dem stillen, verschlafenen Netzig nichts zu tun hat.
Und wie eingeschüchtert sie von diesem scharfen Herrn Jadassohn sind, zeigen Diederich und der Bürgermeister dann hinterher, wenn sie sich abseits nur der besten Gesinnung und einer grundliberalen Haltung versichern.
So beginnt das, wenn die Scharfmacher selbst im gepflegten Frühstücksgespräch schon mal durchblicken lassen, dass sie gnadenlos sein werden, wenn es einmal an sie kommt. Aber solche Typen faszinieren Diederich irgendwie. Er kann nicht anders. Er kann dem angstschlotternden Bürgermeister versichern, dass er ein liberaler Mann sei. Aber das funktioniert anders. Und als Jadassohn ihn dann gar noch fragt, ob er auch bei der Neuteutonia sei, ist alles klar. Diederich ist ergriffen und zusammen gehen die beiden in den Ratskeller, Mittag essen.
āSie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stƤrksten Bataillonenā, sagt Jadassohn.
Mit Bangemachen kann man, wie man hier schon einmal sieht, tüchtig Politik machen. Und nicht nur der Bürgermeister ward geprüft, auch Diederich. Man mƶchte nicht in seiner Haut stecken. Gegen diese Forschheit ist er wehrlos, das weiche Kind. Bei FuĆ mein Lieber, jetzt gehtās in den Ratskeller.
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