Er rast – und der Leser merkt es kaum. Mit Augenzwinkern erhöht Heinrich Mann immer mehr das Tempo, rafft die Ereignisse. Aber weil das so beiläufig und mit leicht ironischem Unterton geschieht, muss der Leser aufpassen, dass er auf den letzen Metern des Romans nicht aus der Bahn gekegelt wird. Wobei Diederich Heßlings Karriere natürlich geradezu atemberaubend ist.

Denn wenn wir da jetzt nicht einen klitzekleinen Hinweis überlesen haben, dann hat es gerade mal zwei Jahre gedauert, dass der vor der verliebten Agnes flüchtende frischgebackene Doktor Heßling in Netzig nicht nur die politische Landschaft umgekrempelt, den alten Buck entwürdigt und entmachtet hat, in zwei Prozessen ein redegewaltiger Kronzeuge war, den Sozialdemokraten zu einem Reichstagsmandat verholfen und seine vom Vater geerbte Papierfabrik praktisch ruiniert hat.

Ach ja: Seine Schwester Magda hat er eiligst an Herrn Kienast verkauft, sorry: verheiratet (was ihm gleich noch heftige Probleme bereiten wird), seine Schwester Emmi hat er dafür vor der „Schande“ eines flüchtigen Herrn Leutnants nicht retten können. Und als er so richtig in der Bredouille steckte, hat er Auguste mit ihren Millionen geheiratet. Und die ganze Zeit über wurde im Hintergrund eifrig gearbeitet, den enervierten Kaiser-Anbeter auch noch zum erfolgreichen Unternehmer zu machen.

Eigentlich hat er dafür gar nicht das Zeug. Mit seinen Angestellten ist er ja geradezu schäbig umgegangen und eigentlich hat er (moralisch betrachtet) ja auch den Tod des Arbeiters mit auf dem Gewissen, der am Tag seiner Entlassung vom Militärposten des Herrn Regierungspräsidenten erschossen wurde. Nur haben sich Diederichs Rücksichtslosigkeiten allesamt nicht gegen ihn selbst gekehrt.

Heinrich Mann erzählt ja etwas sehr Aktuelles, wenn er zeigt, wie die Stimmung in einer ganzen Stadtkommune kippt, wenn einer mit so einer rhetorischen Begabung die Dinge verdreht und regelrecht auf den Kopf stellt, sodass am Ende ausgerechnet die Leute vor dem Kadi landen oder mit „Schande“ aus dem Amt gedrängt werden, die tatsächlich all die Jahre für das Gemeinwohl gewirkt haben.

Und nun triumphieren auf einmal diese seltsamen Typen, die Diederich in der „Partei des Kaisers“ versammelt hat.

Der alte Buck hat sich mit dem Kauf der Gausenfeldschen Aktien auch noch finanziell übernommen – natürlich, weil er zum falschen Zeitpunkt gekauft hat. Die Gerüchte über die Aktien haben wir ja schon erwähnt. Und anders funktioniert das ja an den heutigen Börsen auch nicht, auch wenn scheinbar seriöse Zeitungen täglich darüber berichten, als wären die Börsen wirklich ein Abbild der Wirtschaftsrealität und nicht zu einem großen Teil auch Produkt gezielten Gerüchtestreuens.

In Netzig führt das zur Pleite des alten Buck, während Diederich, der eigentlich seine eigene Papierfabrik in kürzester Zeit in den Ruin getrieben hat, nun auf einmal nicht nur zum Generaldirektor der Papierfabrik Gausenfeld berufen wird, sondern auch noch Großaktionär wurde.

Aber wie? Bei dem Tempo, in dem Heinrich Mann jetzt auf das Finale zuschreibt, überliest man es beinah: „Die ‚Netziger Zeitung‘, jetzt unbedingt zu Diederichs Verfügung, stellte fest, daß Herr Buck selbst es gewesen sei, der, noch bevor er den Vorsitz im Aufsichtsrat niederlegte, die Berufung des Herrn Doktor Heßling zum Generaldirektor befürworten mußte. An der Tatsache spürte mancher einen eigenartigen Geschmack. Doch gab Nothgroschen zu bedenken, daß Herr Generaldirektor Heßling sich ein großes und unbestrittenes Verdienst um die Allgemeinheit erworben habe. Ohne ihn, der mehr als die Hälfte der Aktien in aller Stille an sich gebracht hatte, wären sie sicherlich immer tiefer gefallen, und gar manche Familie verdankte es nur Herrn Doktor Heßling, daß sie vor dem Zusammenbruch bewahrt blieb.“

Oha. Das mit dem „unbestrittenen Verdienst um die Allgemeinheit“ ist so klug gesetzt, dass man das „in aller Stille an sich gebracht“ glattweg überliest, wenn man zu eilig ist. Von wem hat er sich wohl die Aktien „angeeignet“?

Und er legt noch einen drauf: „Tatsächlich hatte Diederich nichts Eiligeres zu tun, als das Aktienkapital erhöhen zu lassen. Für das neue Kapital ward das Heßlingsche Werk erworben. Diederich hatte ein glänzendes Geschäft gemacht. Seine erste Regierungshandlung hatte der Erfolg gekrönt, er war Herr der Lage, mit seinem Aufsichtsrat aus gefügigen Männern, und konnte darangehen, der inneren Organisation des Unternehmens seinen Herrscherwillen aufzudrücken.“

Und dass er sich bei Gausenfeld genauso selbstherrlich benimmt wie in der väterlichen Papierfabrik, wird bei Heinrich Mann zu gerade boshaft-schönen Szenen. Denn jetzt ist er ja wieder ein mächtiger Mann und kann die Leute schikanieren und sich in ihr Privatleben einmischen. Er hängt die ganze Fabrik erst mal mit Verbotsschildern voll, schmeißt ein unverheiratetes Pärchen (ein „in freier Liebe dahinlebendes Paar“) raus, verbietet auch gleich mal „sozialistische Umtriebe“: „Wer in Zukunft anders wählt, als ich will, fliegt!“

Und dann kommt die Erfindung, über die sich die meisten Schüler beim Lesen wohl am köstlichsten amüsiert haben: „Dieser Vorfall war für Diederich sogar der Anlaß, ein neues Mittel zur sittlichen Hebung des Volkes zu verwenden. An den geeigneten Orten ließ er ein in Gausenfeld erzeugtes Papier aufhängen, bei dessen Benutzung niemand umhinkonnte, die moralischen und staatserhaltenden Maximen zu beachten, mit denen es bedruckt war. Zuweilen hörte er die Arbeiter einen von hoher Stelle stammenden Ausspruch einander zurufen, von dem sie auf diesem Wege überzeugt worden waren, oder sie sangen ein patriotisches Lied, das sich ihnen bei derselben Gelegenheit eingeprägt hatte.“

Und weil das Papierchen so durchschlagenden Erfolg hatte, ließ er es sich gleich mal patentieren unter dem Zeichen: „Weltmacht“.

Klingt panzerkreuzerisch. Aber eigentlich ist dieser so martialisch auftretende Generaldirektor noch der alte Feigling und von Ängsten besessen. Zuviel Medienkonsum, könnte man fast sagen. Als hätte Heinrich Mann schon die Angstmacherei des 21. Jahrhunderts vor Augen gehabt. Aber im Bangemachen waren auch damalige konservative Zeitungen gut und gerieten geradezu in Entsetzen, als sie davon berichteten, dass die neue Reichstagsmehrheit so unverschämt war, die von Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (den Kanzler Caprivi hatte der Kaiser gerade erst gefeuert) eingebrachte „Umsturzvorlage“ abzulehnen. Datum: 11. Mai 1895.

Man muss schon aufpassen bei solchen Einstreuungen. Heinrich Mann hat das Uhrwerk deutlich beschleunigt. Und als dann gar ein Attentat auf einen Industriellen verübt wird, gerät Diederich vollends in Panik: „Tage- und wochenlang öffnete er keine Tür ohne Bangen vor einem dahinter schon gezückten Messer. Sein Büro erhielt Selbstschüsse, und gemeinsam mit Guste kroch er jeden Abend durch das Schlafzimmer und suchte.“

Was wie erzählter Slapstick wirkt, liest sich in den nächsten Zeilen, als hätte der Autor die Hysterie des 21. Jahrhunderts nur schon zu gut gekannt. Die Diederiche sind durch mediale Panikmache so richtig entflammbar: „die Telegramme, mit denen Diederich den Allerhöchsten Herrn überschüttete, schrieen nach Hilfe gegen die von den Sozialisten angefachte Revolutionsbewegung, der wieder ein Opfer mehr erlegen war …“

Nur zur Erinnerung: Die Jahre, in denen Heinrich Mann seinen „Untertan“ spielen lässt, waren von Nachrichten über Attentate regelrecht geprägt. Der „Terrorismus“ war allgegenwärtig, wie es schien: 1891 das Attentat auf den russischen Kaiser, 1893 das auf die Französische Nationalversammlung, 1894 auf den französischen Staatspräsidenten Carnot, 1896 auf den Schah von Persien, 1897 auf den spanischen Ministerpräsidenten, 1898 auf Elisabeth von Österreich-Ungarn, jene Prinzessin, die es als Sissy zu hollywoodreifen Nachruhm brachte.

Das ist natürlich alles Stoff für eine politische Atmosphäre, in der alle sich gegenseitig überbieten mit Vorwürfen und Forderungen. Nur dass es den damals Verantwortlichen genauso wenig beizubringen war, dass eine drakonische Politik die Konflikte nur noch weiter anheizt und den Terroristen immer neue Vorwände gibt, sich zu inszenieren. Und während sich Diederich via „Netziger Zeitung“ regelmäßig als Wohltäter feiern lässt, macht seine Karriere jemand anderes neidisch. Verwicklungen nahen.

Wir blättern um.

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