Heinrich Mann ist als Romanautor ein Meister seines Faches. Er beherrscht alle Tricks, auch jene, die die Dicken-Wälzer-Schreiber von heute oft nicht mehr beherrschen. Fast spielerisch geht er mit der Zeit um. Hat er eben noch in immer dichter gepackten Szenen alles auf die Reichstagswahl von 1893 zugetrieben, genügt ihm ein hingeworfener Satz, um einfach mal den stillen Sommer hinter sich zu lassen: „Tatsächlich besaß zu Anfang des Herbstes kein Mensch mehr die faulen Papiere.“

Das Frühjahr war ja desto turbulenter gewesen. Die Nationalen um Diederich Heßling hatten ja nicht nur dafür gesorgt, dass der Sozialdemokrat Napoleon Fischer statt des Freisinnigen Dr. Heuteufel in den Reichstag einzieht. Der alte Buck hatte ja auch den Prozess wegen Verleumdung angestrengt.

Nicht gegen Diederich, sondern gegen die SPD-Parteizeitung „Volksstimme“, die die Vorwürfe gegen Buck genüsslich ausgebreitet hatte, auch mit Häme gegen Diederich und seine Kaisertreuen. Aber was sich im Wahlkampf bekriegt, steckt oft genug unter einer Decke. Das lernen wir hier. Denn wer so gemeinsam die Freisinnigen aus dem Rennen schießt, der unterstützt den Zweitplatzierten. Die (heimliche) Absprache gilt.

Was dann für das eigentlich freisinnige Netzig, das man irgendwo in der preußischen Provinz vermuten muss, eben bedeutet, dass ein Sozialdemokrat das Direktmandat gewinnt. Was im Jahr 1893 durchaus ein Ausnahmefall ist. Denn Sozialdemokraten holten die Mandate vor allem in den Großstädten mit ihrer Industriearbeiterschaft.

In den Landkreisen hatten sie fast keine Chancen. Da konnte es vorkommen, dass etwa in der preußischen Provinz Hessen-Nassau (Regierungsbezirk Kassel) gleich sechs Antisemiten die Mandate errangen. Was damals in Fritzlar, Homburg und Eschwege los war, werden die dortigen Lokalhistoriker wohl wissen.

Aber jetzt werden wir mal ganz gemein und schauen ins Königreich Sachsen. Dort sah es in den Wahlkreisen Bautzen, Dresden, Meißen und Pirna nicht besser aus. Man fühlt sich fatal erinnert.

Die Leipziger wählten immerhin einen Nationalliberalen und einen Sozialdemokraten.

Aber das spielt ja für den „Untertan“ keine Rolle. Das Vorbildstädtchen, das Heinrich Mann zur Kulisse gewählt hat, muss zwingend im Preußischen liegen. Und zwar in relativer Nähe zu Berlin, wenn man Diederichs vergnügliche Bahnfahrten bedenkt.

Wahl war übrigens am 15. Juni 1893. Und Diederich lässt sich nach dem Sieg gegen die Freisinnigen die Gelegenheit nicht entgehen, zum Bahnhof zu spazieren, auch wenn die Sozis eine große Demonstration angekündigt haben, um ihren Abgeordneten zu verabschieden, der in Berlin natürlich gegen die Militärvorlage stimmen will. Und wo Sozis eine Versammlung ankündigen, taucht natürlich nicht nur ein Polizeileutnant auf, sondern eine ganze Abteilung, die verhindern soll, dass Napoleon Fischer noch eine Brandrede hält.

Was man aber in diesen dicht gepackten Szenen fast überliest, ist die Tatsache, dass sich Netzig ganz abseits der lärmenden politischen Kulisse auf eine Weise verändert, die eigentlich mit Diederichs Vorstellung von „deutscher Familie“ und Ehre und was sonst noch so für Krempel dazugehört, nichts zu tun hat. Wir haben es ja schon bei Wolfgang Buck gesehen, der keine Lust hatte, in diesem Kaff Rechtsanwalt zu bleiben, und nach Berlin ging, um dort irgendwie ans Theater zu kommen.

Und nun trifft Diederich auch noch auf den abreisewilligen Jadassohn. Das war ja der grimmige Assessor, der Diederich noch vor wenigen Monaten mit seiner finsteren Art so richtig erschreckt hatte. Jetzt will er nach Paris – aber nicht, um sich dort zu vergnügen: Er will sich seine großen Fledermausohren verkleinern lassen. Und mit Diederich hat er mittlerweile augenscheinlich ein fast brüderliches Verhältnis und bringt ihm brühwarm die Gerüchte um Käthchen Zillich bei. Das ist ja die Pfarrerstochter, mit der er heimlich getechtelmechtelt hat. Und nun ist auch sie nach Berlin entfleucht.

Und Diederich hatte ja auch ein Auge auf sie geworfen … bevor Gustes Geld wichtiger wurde.

„,Durchgegangen‘, sagte Jadasssohn. Da blieb Diederich denn doch stehen und schnaufte. Käthchen Zillich durchgegangen! In was für Abenteuer hätte man verwickelt werden können!“

Man merkt schon, wie Diederich hin- und hergerissen ist. Denn eigentlich ist er zutiefst beeindruckt davon, dass auch Käthchen ihr Leben selbst in die Hand genommen hat. Ganz sichtlich bricht hier das alte patriachalische Zeitalter auf. Während die Antisemiten in den schwärzesten Provinzen triumphieren und die Sozis mit Roten Fahnen in den Reichstag ziehen, zerbricht die konservative Wertewelt der kleinen Bürger und die jungen Leute und auch die Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand.

Und dazu gehört auch die Szene, die Diederich mit noch mehr Verblüffung wahrnimmt: Er sieht ausgerechnet den Fabrikanten Lauer, der nach einem halben Jahr seine Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung abgesessen hat und nun mit einem großen Blumenstrauß dem Zug entgegengeht. „Das ging mit dem Teufel zu! Aus einem Coupé grüßte Judith Lauer, ihr Mann half ihr herunter, ja er überreichte ihr den Blumenstrauß, und sie nahm ihn mit dem ernsten Lächeln, das sie hatte.“

Er versteht es nicht. War sie denn nicht fremdgegangen? Und nun holt ihr Mann sie mit Blumen vom Zug ab.

Na gut, das wissen wir nur genauso gerüchteweise, genauso wie Diederich. Die Welt der kleinen Bürger besteht aus lauter Gerüchten. Und statt sich kundig zu machen, verurteilt man. Man ist ja von besserer moralischer Natur. „Alle werden dieselbe peinliche Empfindung haben wie ich. Man wird ihm allerseits zu verstehen geben, daß er am besten zu Hause bleibt …“

Das sind Diederichs originale Gedanken. Was für ein kleinkarierter Wicht, was für eine piefige Moral. Hauptsache die Fassade stimmt. Auch das ist ja nicht vergangen. Es lebt in unseren Provinzen noch immer, schaut hochmütig weg und verweigert Gruß und Respekt, wenn einer sich nicht an die prüden Regeln des Dorfes hält.

Verlogene Regeln. Wir können ja mit dem Autor in Diederichs Kopf hineinschauen. Er malt sich ja auch ständig was aus, und ein kleines Stück Anerkennung dafür, dass Käthchen Zillich lieber in Berlin Karriere machen will, als unter der Moralfuchtel ihres Vaters zu bleiben, ist herauslesbar, wenn Diederich denkt: „Käthchen Zillich hatte es begriffen und die richtige Folgerung gezogen …“

Und im Kopf schaltet es sofort um, da denkt man dann an heutige Provinzen, wo die Käthchen und Cathys reihenweise ihre Koffer packen und in die Großstadt flüchten, weil ihnen die verbiesterten Moralvorstellungen ihrer Eltern auf den Keks gehen. Deswegen ist die ostsächsische Provinz heute so beleidigt und gefrustet und vergreist und die Diederiche laufen hochmütig durch die Straßen.

Nur dass die SPD keine Schalmeienkapelle mehr auf die Beine stellt, wenn sie ihre frisch gewählten Bundestagsabgeordneten zum Zug bringt. Dazu fehlen die organisierten Arbeiter. Zeiten ändern sich. Nur die Moral scheint so tief verwurzelt, dass auch den Enkeln und Urenkeln nichts anders bleibt, als wegzufahren, wenn sie nicht im Mief der Gerüchte versauern wollen.

Um die „faulen Papiere“ kümmern wir uns beim nächsten Mal.

Wir blättern um.

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