LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 81, seit 31. Juli im Handel„Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“ Ernüchternde Worte, mit denen sich Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der ersten und letzten frei gewählten DDR-Volkskammer, im April 1990 an die Öffentlichkeit wendet – und das Selbstverständnis der DDR als antifaschistisches Vorbild zerlegt.

Warum verfehlte der „Arbeiter- und Bauernstaat“ seinen hehren Anspruch? Markiert das Jahr 1990 einen Neuanfang bei der Auseinandersetzung mit rassistischem, antisemitischem und nationalistischem Gedankengut?

Antifaschismus als Staatsdoktrin

Offiziell pflegt die DDR ihr klares Selbstbild. Internationale Solidarität, Frieden und Antifaschismus sind die Losungen, mit denen sich der ostdeutsche Staat legitimiert und Bindungskräfte herstellt. Nach Deutung der SED wird der Faschismus zur Folge des Finanzkapitals erklärt, dessen Beseitigung nun auch seiner Wiederkehr die Basis entzogen habe. Hitler und seine Getreuen, so formuliert es der Historiker Bernd Faulenbach, wurden zu Westdeutschen.

Heute gilt der Antifaschismus in der DDR oft als Lebenslüge. Und ja, man kann diese Sicht mit manch gutem Argument teilen. Andererseits aber ist sie ahistorisch, weil sie eine moralische Bewertung vom heutigen Standpunkt in die Vergangenheit projiziert. Wer in diese Falle tappt, übersieht entscheidende Faktoren.

Denn zum einen stellt sich das antiimperialistische Faschismus-Verständnis nach Lesart der SED als Teil ihrer ideologischen Hybris dar, mit der sie die Gesellschaft in den Kommunismus und damit das Paradies auf Erden führen will. Diese Weltsicht bricht jede Komplexität herunter und bedeutet für Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR eine Chance, die Vergangenheit auszublenden.

Dies heißt, zum anderen, dass der Antifaschismus vielen Menschen als Lebensprinzip gilt, das auch bei Teilen der „kritischen Intelligenz“ verfängt: Was auch immer wir an Problemen haben, wir stehen doch zumindest auf antifaschistischem Boden. Paul Dessau, Hanns Eisler oder Berthold Brecht – sie kommen aus dem Exil und gehen in den Osten.

Entschlossenes Vorgehen?

Die Kommunisten sind ab 1933 das politische Lager, dessen Mitglieder von den Nazis am massivsten bekämpft, unterdrückt, verschleppt, gefoltert und massenhaft ermordet werden. Nicht wenige Menschen leiten daraus nach dem Ende des NS-Regimes einen moralischen Bonus für die neuen Machthaber im Osten ab. Der oberste Führungszirkel der neu gegründeten DDR kommt durchweg aus dem Widerstand oder Exil, mit Hermann Axen und Albert Norden finden später auch Überlebende der Shoah einen Platz im Politbüro.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 81, Ausgabe Juli 2020. Foto: Screen LZ

Norden veröffentlicht 1965 das „Braunbuch“, das die Karrieren von fast 2.000 NS-Funktionären in der Bundesrepublik nachzeichnet. Trotz mancher Fehler, Überspitzungen und dem propagandistischen Zweck des Werkes gelten die Vorwürfe bis heute meist als zutreffend. Adenauers junge Demokratie setzt auf Ruhe und Stabilität.

Der moralisch hohe Preis ist die Einbindung selbst wichtiger NS-Protagonisten wie Hans Globke, der als Jurist die „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 kommentiert hatte – und 1953 für zehn Jahre Chef des Bundeskanzleramts wird. Theodor Oberländer, in der NS-Zeit „Dozent für Ostfragen“, bringt es im gleichen Jahr zum Bundesminister für Vertriebene.

Anfang der Sechziger verurteilt die DDR Oberländer und Globke zu lebenslanger Haft, in Abwesenheit. Dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Westen kein Ruhmesblatt ist, bedeutet eine Steilvorlage für die SED. 1966 lässt sie den Auschwitzer Lagerarzt Horst Fischer nach einem regelrechten Schauprozess aburteilen und hinrichten, 1969 stirbt Josef Blösche in Leipzig durch Genickschuss.

Der SS-Rottenführer, zu sehen auf dem bekannten Foto bei der Räumung des Warschauer Ghettos, war an der Deportation und Tötung hunderttausender Menschen beteiligt. Der Tipp zu seiner Ergreifung kommt von Fahndern aus der Bundesrepublik.

Schein und Sein des Antifaschismus

Beispiele, die scheinbar beweisen, wie ernst die DDR ihren eigenen Anspruch nimmt. Dennoch ist das harte Urteil von Volkskammer-Präsidentin Bergmann-Pohl zur DDR-Politik gegenüber den Juden nicht unberechtigt. Als etwa Stalin in den frühen fünfziger Jahren brutal gegen angebliche „Zionisten“ vorgeht und sich den verbreiteten Antisemitismus zunutze macht, schreckt auch ein skrupelloser Machtvirtuose wie Walter Ulbricht nicht davor zurück, die wenigen Überlebenden des Holocaust in der DDR unter Druck zu setzen – von denen so manche aufseiten der SED stehen.

Mag man dies in den Kontext des Stalinismus einordnen, lassen auch andere Beispiele den Lack des antifaschistischen Musterstaats blättern. So werden Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter in der DDR trotz Hinweisen auf ihre Verbrechensbeteiligung mitunter nicht geführt oder die Betroffenen durch die Staatssicherheit zur Mitarbeit erpresst, etwa Ende der fünfziger Jahre im Bezirk Leipzig.

Auch wenn die Geheimpolizei ihre Anstrengungen später verstärkt und tausende Namen zusammenträgt, scheut die SED 25 Jahre nach Kriegsende jedes Geständnis, dass auch ihre Gesellschaft alles andere als frei von Tätern ist, die zumeist angepasst leben und oft in Führungspositionen arbeiten. Zwischen 1970 und 1989 gibt es in der DDR lediglich 48 einschlägige Verfahren mit 56 Angeklagten.

Überdies bleibt auch der Machtapparat nicht frei von Mitgliedern mit NS-Verstrickung. Erich Apel, seit 1963 Chef der Staatlichen Plankommission, war ab 1940 in Peenemünde mit Wernher von Braun an der Konstruktion der berüchtigten V2-Rakete beteiligt. Der Ingenieur, eher Technokrat als Ideologe, überwirft sich später mit Parteifunktionären in wirtschaftspolitischen Fragen und stirbt 1965 durch einen Pistolenschuss. Mutmaßlich begeht er Suizid.

Wachsende Gefahr durch Neonazis

Die eigentlichen Probleme liegen auf der Ebene von politischem Opportunismus und Ideologie. Die Überformung der Erinnerungskultur mit kommunistischen Widerstands-Heroen lässt wenig Raum für das Gedenken an die industrielle Ermordung Millionen jüdischer Menschen, die in Schulbüchern der DDR zunächst nicht und ab den Siebzigern nur indirekt thematisiert wird. Eine eigene Dimension gesteht das offizielle Geschichtsbild der Shoah nicht zu.

Darüber hinaus forciert der verordnete Antifaschismus paradoxerweise auch das Phänomen neonazistischer Umtriebe in der Gesellschaft. Der paternalistische Wahrheitsanspruch der SED fordert Gegenkräfte heraus, die im Kontrast zur Obrigkeit agieren. Zudem gelten Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung als Konsequenz kapitalistischer und imperialistischer Verhältnisse. Mit deren Abschaffung in der DDR kann es nach amtlicher Lesart keine Neonazis geben. Die Einsicht, dass die Realität anders aussieht, käme für die Partei einer Aufgabe ihres dualistischen Weltbilds gleich.

Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit machen Anfang 1989 nur ein Prozent der DDR-Bevölkerung aus, 0,2 % haben eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Viele sind Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, überwiegend aus Vietnam, Polen, Ungarn, der Sowjetunion, Mosambik und Kuba. Meist leben sie abgeschottet, was die Rhetorik von Internationalismus und Völkerfreundschaft konterkariert. Schon vor 1989/90 kommt es zu brutalen Übergriffen Einheimischer auf Zugewanderte und Andersdenkende, teils mit tödlichem Ausgang. Zugleich formiert sich in den Achtzigern verstärkt eine Neonazi-Szene.

Obgleich Polizei und Staatssicherheit nicht untätig sind, intern auf die Gefahr hinweisen und Gerichte Haftstrafen verhängen, wie nach dem Überfall auf Besucher eines Punk-Konzerts in der Ost-Berliner Zionskirche vom Oktober 1987: Eine breite, gesellschaftliche Diskussion der Thematik findet lange nicht statt. Hass auf angeblich Fremde, Juden, Behinderte, Homosexuelle, Punks und politische Gegner ist oft angesagt – in der Kneipe, auf der Arbeit, in der Kantine oder am heimischen Abendbrottisch. Studien dazu bleiben unter Verschluss.

Tradition des Antiliberalismus?

Erst 1990 bricht in Ansätzen eine Debatte auf, die erste Akzente setzt, angestaute Problemlagen von nationalistischem und nazistischem Gedankengut jedoch nicht schnell beseitigen kann. Die wachsende Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Ausländerinnen und Ausländer in den neunziger Jahren etwa in Hoyerswerda, Greifswald, Saal oder Rostock zeigt dies überdeutlich.

Medien und Forschung haben viele Erklärungsbausteine geliefert, etwa die Verunsicherung einer durch den DDR-Kollaps geprägten Generation, Schieflagen nach 1989/90 und die schwierige Transformation Ostdeutschlands. Ohne das in Abrede zu stellen, könnte auch ein langfristig gewachsener Antiliberalismus eine Rolle spielen.

In seinem 2019 erschienenen Buch „Die Übernahme“ verweist Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk darauf, dass 1989 fast 88 % der DDR-Bevölkerung altersbedingt keinen biographischen Berührungspunkt zur Weimarer Republik hatten – und damit null Erfahrungen in einem demokratischen Staat. Denkbar schlechte Voraussetzungen für ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung.

Rührt daher ein autoritäres Denken in Teilen Ostdeutschlands, das sich abgeschwächt auch in jüngeren Generationen fortsetzt? Zumindest würde dies manches erklären. Als ab Spätsommer 2015 eine hohe Zahl an Menschen Zuflucht in Deutschland suchte, wäre dies demnach nur der letzte Zündfunke gewesen, der zum Knall führte, sichtbar in den Ausschreitungen von Heidenau, Bautzen und Chemnitz, in der Pegida-Bewegung und der AfD, die leichtes Spiel beim Schüren diffuser Gefühle von Angst hat.

Das Netzwerk des 2011 aufgeflogenen NSU bestand in hohem Maß aus Ostdeutschen. Und wie kann man ernsthaft auf die Idee kommen, Figuren wie Wladimir Putin zum Sinnbild einer aberwitzigen Sehnsucht nach vermeintlicher Stärke und Ordnung zu erklären?

Diese Phänomene sind nicht nur ostdeutsche, fallen aber hier besonders auf. So müsste man konstatieren, dass eine reine Schuldabwälzung auf die DDR zu kurz greift. Wohl aber setzte die jahrzehntelange SED-Diktatur antiliberales Denken fort und beschwor mit ihrer widersprüchlichen Politik Phänomene herauf, die sie nach eigenem Maßstab eigentlich beseitigen wollte. Die Folgen sind bis heute sichtbar.

Das letzte, verrückte Jahr der DDR und der Weg zur Einheit (4): Die Währungsunion am 1. Juli 1990

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Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe

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Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Westlich von Leipzig 1891

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918

Leipzig in den „Goldenen 20ern“

Leipzig im Jahr 1932

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