LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelHans Aichinger gehört neben Neo Rauch zu den wenigen Leipziger Künstlern der Generation 1990, die heute von ihrer Kunst leben können. Im Juni 2020 ist fast alles so wie schon im Winter 2009, als ich dem Künstler ein erstes Mal begegnete. Vieles ist vertraut als ich ihn über zehn Jahre später wieder treffe: Kunstbücher liegen auf einem Tisch. Anderes ist neu: Hans Aichinger hat sich einen weißen Vollbart stehen lassen, der ihn weise und würdig erscheinen lässt. Ein Maler in seinen besten Jahren.

Die Malwand ist vollgestellt mit im Entstehen begriffenen Werken. In seinem großen Atelier malt er an neuen Bildern, die in diesem Jahr zum Teil in der Reiter Galerie auf dem Leipziger Baumwollspinnereigelände bis zum 16. Dezember gezeigt werden. Es ist Malerei auf der Suche nach dem „Inneren Land“, wie der Titel der Gruppenausstellung verrät.

Aichingers Sujets, verschlüsselt und geheimnisvoll wie eh und je, offenbaren ein Spiel mit der kunstgeschichtlichen Lesart. Symbole, Allegorien, Ikonographisches. Junge Menschen bevölkern seine neuesten Bilder. Anspielungen auf den „ungläubigen Thomas“, der im Bild „Das Zeichen“ im übertragenen Sinne einem kopfbesockten „Jesus“ in die Wunde bohren will.

In „Das Zeichen“ tragen die beiden Apostel rote und blaue Kapuzenpullis. Der Betastete trägt eine Kopfsocke. Im Bild „Kapitalismus“ porträtiert Aichinger einen jungen Mann mit einer altertümlichen, wie sie um 1600 in den katholischen Ländern Europas üblich war, Halskrause gekleidet. Ein Sinnbild für das, was unser Wirtschaftssystem sein möchte und es auch ist: vom Wesen her jung und ungestüm, aber bezogen auf die Stabilisierung des eigenen Erwirtschaftens alt und traditionell.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

In diesem Bild könnte man die Perpetuierung der Ökonomie als eigentlichen Katalysator der Moderne sehen. Bezeichnend ist der rote Faden in den Händen des Mannes. Der Faden wird wie ein Rosenkranz gehalten und verdeutlicht mit Sicherheit den Glauben an den Kapitalismus; verknotet, blutigrot, aalglatt und ohne Leben.

Schlagschatten, starke Lichteinfälle aus unbestimmten Lichtquellen und ebenso unbestimmbaren Räumen sind Aichingers Markenzeichen. Seine realitätsnahe Darstellung von Menschen und sein Aufgreifen der dunkel gefärbten Barockmalerei der Caravaggionisten, Bewunderern des schon zu Lebzeiten umstrittenen und als Genie bekannten Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio (1571–1610), bricht aus der farbenfrohen Welt der Pop-Art-Kunst, wie sie u. a. auch in Leipzig herrscht, heraus.

„Von Kunst zu leben, davon habe ich schon immer geträumt…“, blickt der 1959 in Leipzig geborene Maler auf seine Anfangstage zurück. Von 1982 bis 1986 studierte er bei Bernhard Heisig Malerei an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Anekdoten aus der Studienzeit erfüllen das Atelier.

Hans Aichinger bewundert die Hell-Dunkel-Malerei des wegen seines gleichnamigen Herkunftsortes „Caravaggio“ genannten Italieners und seiner Anhänger, die von Kunsthistorikern als Caravaggionisten bezeichnet werden. Doch Hans Aichinger braucht nicht so tief in die Historie der Kunst abtauchen, um seine Beweggründe, Kunst zu machen, zu beschreiben. Er lädt seine Sujets mit gegenwartsbezogenen Kontexten auf.

Auf den ersten Blick haben sie nicht unbedingt etwas mit der Suche nach innerer Erkenntnis zu tun. Der Sinn erschließt sich mit der ersten Frage an das Bild. Hans Aichinger beschreibt, sich an seinen Lebensweg erinnernd, den Zustand, in dem sich viele Vertreter seiner Zunft in der damaligen DDR wiederfanden. Auch sein Malerkollege Thomas Gatzemeier lebte von Auftragsarbeiten. Doch 1986 verließ er das Land, das einen Kritiker, wie ihn, nicht vertragen wollte.

Hans Aichinger blieb. Noch lange vor dem Atelier- und Galerie-Boom hat er sein Atelier 1997 auf dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei eingerichtet. „Malerei und Privates sollte man schon voneinander trennen, wenn man professionell arbeiten möchte. Man hat sonst immer alles vor Augen, die Couch, TV oder Küche. Entweder ist man nur am Malen und kann nicht abschalten, oder man ist blockiert und schafft gar nichts“, sagt er wissend.

Nach der Wiedervereinigung orientierte sich auch Hans Aichinger, wie viele seiner Berufskollegen, neu. Märkte erschließen. Vom Realismus aus der DDR wurde in der Bundesrepublik nicht viel gehalten. Es galten entweder die großen Fotorealisten aus den USA bzw. der nach Los Angeles ausgewanderte Künstler Gottfried Helnwein, Post-Expressionisten wie Jörg Immendorf, die DDR-Exilanten und das Umfeld der Düsseldorfer Kunsthochschule, die Maler der Wiener Schule und die Vertreter der Informel Art, bei denen Emil Schumacher als einer der letzten Protagonisten galt.

Zwischen Kitsch und Ramsch der Kaufhaus-Kunst, der bundesrepublikanischen Avantgarde, wurde die Malerei in der DDR schnell auf die staatspropagandistischen Arbeiten eines Willi Sitte eingedickt, gleichgemacht und verdammt. Vergessend darüber, dass Maler wie Arno Rink, Bernhard Heisig und Werner Tübke auch in der BRD einen guten Bekanntheitsgrad besaßen, dass Malerei und Grafik aus der DDR schon aufgrund ihres akademischen Hintergrunds nicht dem Bann verfallen darf.

Erst seit zehn Jahren wird die Historie der Malerei in der DDR von Forschern neu entdeckt. Kunsthistoriker wie Paul Kaiser holen Biografien Stück um Stück zurück ans Licht. Auch am Museum der bildenden Künste in Leipzig wurden bis in die jüngste Zeit hinein Dissidenten und Protagonisten der Leipziger Schule gezeigt.

Bei Hans Aichinger gab es in den Neunzigerjahre auch Zweifel. Doch nicht nur damals war dies der Fall. „Dass man zweifelt, gehört dazu“, gibt er zu Protokoll. Er erklärt auch warum. „Zweifeln liegt in der Natur des Künstlers. Ich zweifele oftmals von Bild zu Bild, hatte größere Krisen – unabhängig von den äußeren Umständen. Dann fragt man sich schon, ,Ist meine Kunst überhaupt sinnvoll?‘.

Erfolg und Anerkennung sind wichtig. Geld als verknappte Sprache dieser beiden Aspekte äußert das. Sie kann Sympathie aber auch Misserfolg ausdrücken. Handwerklich sollte es bei keinem Künstler Zweifel geben, aber inhaltlich sollte man schon lesen können, was ein Künstler fühlt. Dann kommt es darauf an, wie viel man zulässt. Ich kann das mit gegenständlicher Malerei besser ausdrücken als mit ungegenständlicher Malerei.“

Der bärtige Mann nimmt den dampfenden Milchkaffee vom Tisch, legt das bunt eingebundene Caravaggio-Heft auf den selben und trinkt einen Schluck. Durch die hohen Fenster können wir in den blitzblauen Himmel schauen. Dann geht der Künstler an seine neueste Arbeit zurück und setzt zum Pinselstrich an.

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