Ich lebe in einer beschaulichen Kleinstadt in Deutschland. Über tausend Jahre Geschichte an diesem Ort. Sie hat eine wunderbare historische Altstadt. Alles atmet Geschichte. Die Silhouette der Stadt findet sich im Logo. Darunter ein blaues Band. Das steht für einen großen Fluss, der zwei Länder miteinander verbindet. Auch die Geschichte meiner Stadt verbindet Länder miteinander. Sie ist Symbol für Frieden in Deutschland und Europa.

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Mit rund 700 Einsendungen hat der bundesweite Schreibwettbewerb „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ eine überwältigende Resonanz erfahren. Vor wenigen Tagen hat die siebenköpfige Jury die Shortlists in den verschiedenen Kategorien auf der Website des Wettbewerbs veröffentlicht.

Insgesamt haben es 43 Werke verschiedenster literarischer Gattungen in die Vorauswahl geschafft. Die LEIPZIGER ZEITUNG veröffentlicht einige davon nach eigener Auswahl. Die Sieger*innen werden am 28. April online veröffentlicht.

Bis zum 27. April haben nun Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen ihren Publikumsliebling zu wählen. Für das Voting haben die Veranstalter auf der Website unter https://3oktober.org/schreibwettbewerb/shortlist-2023/ ein entsprechendes Abstimmungs-Formular eingerichtet.

Die feierliche Preisverleihung findet im festlichen Rahmen am 28. April, 11 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse im Forum Sachbuch (Halle 4) statt. Dafür konnten die Veranstalter prominente Partner gewinnen. So stiftet die Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“ die Preise für die Sieger in den drei Kategorien in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.

Mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb

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Die grünen Bänder im Logo stehen für die Flussauen, die wunderbare Natur rund um meine Stadt. Ich lebe gerne hier in dieser Stadt. Ich habe sie mir ausgesucht.

Ich lebe in einer beschaulichen Kleinstadt in Ostdeutschland. 1990 wohnten hier rund 26.500 Menschen. Vierundzwanzig Jahre später waren es 6.500 Einwohner weniger. Ein Viertel der Bevölkerung ist gegangen. Zum gleichen Zeitpunkt lag die Arbeitslosenquote bei 10 Prozent. Fabriken, die identitätsstiftend für die Region und ihre Arbeitenden waren, wurden geschlossen. Nicht nur eine. Viele.

Arbeitslosigkeit oder die Angst davor kannte jede Familie. Berufsabschlüsse waren plötzlich nichts mehr wert. Geburtenzahlen knickten rapide ein. Kündigung, aufgezwungene Teilzeitverträge, um den Arbeitsplatz zu behalten, Umschulung, ABM, Bürgergeld, Ein-Euro-Job. Berufsbiografien voller Brüche. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Harz 4, aufstocken. Das alles hat Spuren hinterlassen.

Das ehemals gefragte Neubauviertel wandelte sich zum sozialen Brennpunkt. Das was die Menschen wachsen sahen, was sie selbst aufgebaut hatten, wurde zurückgebaut. Blöcke wurden abgerissen und mit ihnen verblassten die positiven Erinnerungen oder sie wurden strahlender als es das Leben je war. Was bleibt ist das Gefühl des Abgehängtseins. Die Altstadt ist aufwändig saniert. Viele Geschäfte stehen leer. Das Durchschnittsalter meiner Stadt liegt bei 47,1 Jahren. Das alles hat Auswirkungen. Echte und gefühlte.

Diese junge Geschichte steckt der Stadt in den Knochen. Eine Geschichte von vielen in Ostdeutschland. All diese vielen Geschichten stecken Ostdeutschland in den Knochen. Und sie machen sich Luft. Meine Region wählt blau. Europawahl 2019: 26,7 Prozent, Landtagswahl 2019: 33,3 Prozent, Kommunalwahl 2019: 18,2 Prozent, Bundestagswahl 2021: 27,2 Prozent. Heimat tut weh, wenn du dich jedes Mal wieder fragst, wer von den Menschen in deiner Nachbarschaft, wer aus deinem Kollegium es war. Heimat tut weh, wenn du im Kopf nach jeder Wahl verzweifelt abzählst: eins zwei drei blau, eins zwei drei blau, eins zwei drei blau.

Die Geschichten in den Knochen der Menschen rechtfertigen das Blau nicht. Denn es gibt auch die Geschichte der gewonnen Freiheit. Die Geschichte vom insgesamt besseren Lebensstandard. Die Geschichte der Reise- und Meinungsfreiheit. Die blaue Angst vor Überfremdung ist absurd. Der Ausländeranteil in meiner Stadt beträgt 4,4 Prozent. Trotzdem höre ich im Vorbeigehen Gesprächsfetzen, dass man auf die deutschen Frauen jetzt wieder aufpassen müsse. Männer tragen ganz selbstverständlich Nazi-Shirts auf Stadtfesten. Heimat tut weh, wenn Argumente nicht zählen.

Ich will dem Blau nicht mehr zuhören. Ich habe Kraft für die Geschichten der Menschen, für die es keine blühenden Landschaften gab. Aber ich habe keine Kraft für deren Hass. Ich habe Angst vor deren Hass. Es war an einem Montag als die Scheiben im Büro der Grünen zerschlagen wurden.

Heimat tut weh, wenn ich Angst um meine Tochter habe, die montags abends draußen ist. Einfach nur einkaufen bei Rossmann, aber ich warne: „Pass, auf dich auf! Heute ist Montag! Musst du unbedingt raus? … Nein, ich will dich nicht einschränken … Ja, Fuck, ich habe doch nur Angst um dich … Ja, ich weiß, dass du auf dich aufpasst“. Ich stehe steht am Fenster schaue hinaus und höre den Lärm der Demo. Erst wenn sie wieder da ist, atme ich auf. Meine Heimat tut weh.

Neulich ist ihr Vater durchgedreht, weil sie nicht um halb zehn, wie verabredet zu Hause war. Es ging nur um die Antibiotika, die sie nehmen musste. Aber es ging nicht nur um die Antibiotika. Ihn hat die Angst und seine eigene Vergangenheit eingeholt. Sein von Nazis zerschlagenes Gesicht, seine Todesangst beim Springen aus fahrenden Zügen, seine Todesangst beim Rennen ums eigene Leben von Nazis gehetzt.

Basballschlägerjahre. 90er in Ostdeutschland. Narben, schmerzhafte Erinnerung. Tote Freunde. Meine Tochter ist sechzehn. Vor einem Jahr war sie dran. Montags. Sie und ihre Freundinnen haben sich gewehrt mit CS-Gas. Déjà-vu. Das war alles schon mal da. Jetzt will sie zum Antifa-Kampfsport. Die Angst ist da und Heimat tut weh. Nein, wir haben keine Anzeige erstattet. Die Täter-Opfer-Umkehr der 90er, die fehlende Polizei und das auf sich gestellt sein der Baseballschlägerjahre steckt uns Eltern in den Knochen. Das wurde mir aber erst klar als ich den Überfall auf meine Tochter einer Freundin aus Westdeutschland erzählte.

Heimat tut weh, wenn mich eine Mutter fragt, ob sie Angst haben muss um ihren Sohn, weil sein Großvater vietnamesischer Vertragsarbeiter war. Ich kann sie nicht beruhigen. Wir schauen uns an und wissen es beide. Wir checken die Menschen in unserem Umfeld. Nur fremdenfeindlich und damit vielleicht noch zu erreichen oder schon voll Fremdenhass und verloren?

Es ist der Abend vor Nikolaus und ich putze Schuhe mit meinem Sohn. Er glaubt noch daran und fragt mich, wie der wohl immer wieder durch die Tür kommt. Das ist ein Stück heile Welt. Dann muss er vor den Fernseher, weil die Freien Sachsen in der Stadt sind. Wir sind wenige und wir haben Angst, aber irgendwer muss anfangen. Ja, die Freien Sachsen seid die rote Linie. Meine rote Linie. Es reicht. Bis hier und nicht weiter.

Und da stehe ich mit Mitte vierzig, hinter einem Transparent und schreie im Chor mit den Wenigen: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“, „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“ und „alerta alerta antifascista“, während ich eigentlich Abendessen machen müsste. Die Freien Sachsen machen uns lächerlich und die lokale Presse berichtet am nächsten Tag vom Gegenprotest. Am Abend liegt mein Junge im Bett und wartet auf seine Eltern.

Wir müssen reden nach der Aufregung. Ist es richtig was wir tun? Bringen wir uns und die Kinder möglicherweise in Gefahr? Bringt es überhaupt was? Er schläft am Ende alleine ein ohne Gute Nacht Geschichte. Heimat tut weh.

Ich will, dass ich hier friedlich leben kann. Ich will, dass auch meine Freundin aus Libyen hier friedlich leben kann. Ich will, dass keine Mutter Sorgen um ihr Kind haben muss. Heimat tut weh, wenn du das Gefühl hast immer wachsam sein zu müssen.

Wenn du das Gefühl hast, dass du machen musst, weil es so wenige tun. Ich würde mich gern mal ausruhen und nicht machen müssen. Aber ich bin geblieben im Osten, dort wo viele Menschen gegangen sind. Ich spüre die Lücken. Gegangen sind vor allem gut gebildete junge Frauen und die Lücken sind gefüllt mit viel zu viel Testosteron, mit Wut auf alles und jeden und mit Fremdenhass.

Und das heißt wachsam sein, genau beobachten was passiert, Freiräume verteidigen.

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